§ 1 Die Reform der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände
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nicht beweisbelasteten Prozeßpartei bei der Beweismittelbeschaffung706 durch die
Reform nicht beseitigt wurden. Zwar kann man die Vereinheitlichung der Voraussetzungen einer Vorlageanordnung für Urkunden vor und während der mündlichen
Verhandlung feststellen. Der bereits vor der Reform bestehende Ungleichlauf der
Voraussetzungen zwischen parteibetriebenem und amtswegigem Urkundenbeweis
hat sich dagegen noch verschärft. Während das Gericht den Beweisgegner scheinbar ohne weiteres zur Vorlage einer in seinem Besitz befindlichen Urkunde auffordern kann, hat der Beweisführer beim parteibetriebenen Beweisantritt nach wie vor
nur dann eine Chance an die Urkunde zu gelangen, wenn sich der Gegner selbst
auf sie bezieht oder wenn er einen materiell-rechtlichen Vorlageanspruch geltend
machen kann.
Auch der Ungleichlauf zwischen der Mitwirkungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei beim Augenscheinsbeweis einerseits und dem Urkundenbeweis andererseits bleibt durch die Reform scheinbar bestehen. Während die §§ 422, 423 ZPO
n.F. im Urkundenbeweisrecht durch die Reform unverändert erhalten geblieben
sind und den Zugang zu Urkunden im Besitz des Beweisgegners unter die Voraussetzung bestehender materiell-rechtlicher Ansprüche stellen, existieren entsprechende Zugangsschranken beim Augenscheinsbeweis nach wie vor nicht.
Immerhin hat der Gesetzgeber inzwischen707 die praktisch bedeutsamen elektronischen Dokumente in § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO n.F. klar den Augenscheinsgegenständen zugeordnet und damit einen Teil der Abgrenzungsproblematik zwischen Urkunden und sonstigen Gegenständen, die den Regeln des Augenscheinsbeweises unterliegen, obsolet werden lassen.
C. Unterschiedliche Interpretationen in der Literatur
Die mit dem Reformgesetz von 2001 einhergehenden Änderungen der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände hat viele derjenigen Vertreter der rechtswissenschaftlichen Literatur auf den Plan gerufen, die bereits seit
langem eine Ausweitung der prozessualen Mitwirkungspflichten der Parteien und
ihre Schaffung für Dritte gefordert hatten. Die bereits vor 30 Jahren heiß diskutierte Frage708, ob das deutsche Zivilprozeßrecht eine prozessuale Mitwirkungspflicht
der nicht beweisbelasteten Partei bei der Sachverhaltsaufklärung anerkennt oder ob
es diesbezüglich beim vom BGH postulierten Primat des materiellen Rechts bleibt,
scheint durch die Reform des Zivilprozesses so aktuell geworden zu sein wie selten
zuvor. Die Interpretationen der neuen Vorschriften gehen in der Literatur daher
bisweilen weit auseinander. Diejenigen Vertreter der Zivilprozeßwissenschaft, die
einen aufklärungsfreundlichen Prozeß propagieren und das überkommene System
der Informationsbeschaffung für unzureichend erachteten, sehen in den reformbedingten Änderungen mitunter einen Aufbruch des Gesetzgebers in die Kodifizie-
706 Vgl. hierzu oben Erster Teil.§ 5.
707 Einführung des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO durch das Formvorschriftenanpassungsgesetz (FormVAnpG) vom 13.07.2001, BGBl. I S. 1542, in Kraft getreten am 01.08.2001.
708 Angestoßen durch die Habilitationsschrift von Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976.
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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rung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien. Andere wiederum erblicken in der neu geschaffenen Möglichkeit der scheinbar voraussetzungslosen Anordnungsmöglichkeiten zur Vorlage von Urkunden und Augenscheinsgegenständen gegenüber Parteien und Dritten die Gefahr einer Ausforschung durch das Gericht und mittelbar durch den Prozeßgegner.. Während
letztere den Beibringungsgrundsatz in Stellung bringen, um der Reichweite der
modifizierten Vorlagepflichten Grenzen zu setzen709, fordern erstere den Gesetzgeber auf, noch weiter zu gehen und den Vorlagepflichten nicht nur im Rahmen
der richterlichen Prozeßleitung, sondern darüber hinaus auch beim parteibetriebenen Beweisantritt Geltung zu verschaffen. An der Interpretation der neuen Vorschriften entzündet sich somit im Kern der bekannte Konflikt zwischen denjenigen, die dem Zivilprozeß primär den Zweck der Wahrheitserforschung zuschreiben, sowie anderen, die sich dem Schutz vor unberechtigter Ausforschung der
Prozeßparteien sowie Dritter verpflichtet fühlen.
Auf dem Weg, die Reichweite der neuen Vorschriften zu ermitteln, dürfen vermeintliche Strukturprinzipien wie der Beibringungsgrundsatz oder das sog. Ausforschungsverbot sicherlich nicht außer Acht gelassen werden. Am Anfang der Interpretation eines immer noch jungen Reformgesetzes sollten jedoch nicht die überkommenen Strukturen des bisher geltenden Rechts, sondern vielmehr die Analyse
der Intentionen des Reformgesetzgebers stehen. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Reform sowie der erklärten Ziele des Reformgesetzgebers ist
zunächst zu fragen: War eine Abkehr vom überkommenen System der Informationsbeschaffung im Zivilprozeß gewollt, und wenn ja, in welchem Maße? Sollten
durch die Reform echte durchsetzbare Parteipflichten geschaffen werden? War eine
Verschiebung der Verantwortlichkeiten für die Sachverhaltsaufklärung zwischen
Gericht auf der einen und den Parteien auf der anderen Seite gewollt? Dient das
neue Recht etwa gar einer "vernünftigen Ausforschung"710 des Prozeßgegners zum
Zwecke der Wahrheitsermittlung?
Erst dort, wo im Einzelfall der Regelungswille des Reformgesetzgebers trotz
sorgfältiger Analyse im Dunklen oder jedenfalls unklar bleibt, entsteht erstmals
Raum für eine Interpretation der neuen Vorschriften anhand der hergebrachten
Systematik des Zivilprozeßrechts. Mit Hilfe der öffentlich zugänglichen Gesetzesmaterialien soll deshalb zunächst die Entstehungsgeschichte der Reform sowie das
eigentliche Gesetzgebungsverfahren des Reformgesetzes beleuchtet und daraufhin
untersucht werden, inwieweit der Reformgesetzgeber selbst unzweideutige Hinweise darauf gegeben hat, wie er die nach der Lektüre des Gesetzestextes auftretenden
Fragen beantwortet wissen wollte.
709 Dezidiert jüngst etwa Lang, Urkundenvorlagepflichten der Gegenpartei, 2007.
710 Schlosser, JZ 2003, 427, 428; Wagner, JZ 2007, 706 (709).
§ 2 Entstehungsgeschichte der Reform
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§ 2 Entstehungsgeschichte der Reform
Das Bemühen um eine strukturelle Reform des Zivilprozeßrechts in Deutschland
existierte in Wissenschaft und rechtspolitischer Praxis bereits lange vor der Reform
2001. Triebfeder der Reformüberlegungen war dabei weniger die Erkenntnis, daß
das bestehende System der Informationsbeschaffung im Prozeß den Anforderungen an einen modernen Zivilprozeß nicht mehr gerecht zu werden schien, sondern
– wie schon so oft711 – die konstatierte chronische Überlastung der Rechtsmittelgerichte. Dennoch war in diesem Zusammenhang häufig auch eine Reform des Beweisrechts und dabei insbesondere die Neugestaltung der Mitwirkungspflichten der
Parteien im Rahmen des Urkundenbeweises Gegenstand von Reformdiskussionen,
wie der folgende kurze Überblick verdeutlicht.
A. Die Vorgeschichte der Reform
Die vom seinerzeit herrschenden liberalen Zeitgeist geprägte CPO von 1877 kannte
eine vom materiellen Recht unabhängige Editionspflicht für Urkunden weder für
die Parteien noch für Dritte712. Der historische Gesetzgeber lehnte eine allgemeine
Editionspflicht für Urkunden analog der Zeugnispflicht sogar ausdrücklich ab, wie
sich aus der Entwurfsbegründung ergibt:
"Die Analogie der Editions- und Zeugnispflicht ist innerlich nicht begründet […]. Der
Zeuge ist durch die eidliche Angabe, daß er zur Sache nichts auszusagen wisse, vor weiteren
Zumuthungen geschützt, während eine allgemeine Editionspflicht nöthigen würde, mühsame
Nachforschungen anzustellen und den Inhalt von Urkunden, auch wenn sie für den Rechtsstreit Erhebliches nicht enthalten, vorzulegen. Das Streben nach materieller Wahrheit darf
nicht dahin führen, daß in das freie Verfügungsrecht des Inhabers von Urkunden eingegriffen wird - und ein solcher ungerechtfertigter Eingriff würde vorliegen, wenn die Vorlegung
von Urkunden erzwungen werden könnte, auf deren Einsicht nur der Inhaber, nicht auch
der Gegner ein Recht hat. Nach dem Entwurf besteht die Editionspflicht nur als privatrechtliche Verpflichtung, während die Zeugnispflicht eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht
ist."713
Anders hingegen argumentierten die Entwurfsverfasser schon seinerzeit bei der
Frage, ob die Prozeßparteien verpflichtet seien, bei der Einnahme des Augenscheins mitzuwirken:
"Die Frage, ob der Besitzer der Sache die Einnahme des Augenscheins zu gestatten habe,
[…] wird einer besonderen Regelung nicht bedürfen. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die
711 Vgl. hierzu die Intentionen der Novellengesetzgebung vor der Reform 2002, Zweiter Teil.§
2A.III.
712 Zur Entwicklung der Editionspflichten vor Entstehung der CPO von 1877 vgl. ausführlich
Steeger, Die zivilprozessuale Mitwirkungspflicht, 1980, 73 ff.
713 Hahn, Die gesammten Materialien zur CPO, Band 1.1, 1. Abt., 1880, 325.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.