Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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vom Gegner aufgeführten Dokumente entscheidet im pretrial der master, gegen
dessen Entscheidung die unterliegende Partei den Richter anrufen kann624.
C. Frankreich
Dem französischen Zivilprozeß waren Editionspflichten noch in der ersten Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts fremd625, bevor es bei unserem kontinentaleuropäischen Nachbarn zum plötzlichen Bruch mit dem Grundsatz "nemo contra se edere
tenetur" kam. 1972 wurde mit einem legislativen Akt einer bereits zuvor vereinzelt
praktizierten Rechtsprechung gefolgt, wonach die Parteien im Interesse der Wahrheitsfindung im Prozeß auch solche streitrelevanten Urkunden vorzulegen hatten,
auf die sie sich selbst nicht bezogen hatten626. Die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stückweise durchgeführte grundlegende Reform des Code de procédure civile von 1807 hat mit Inkrafttreten des Nouveau Code de procédure civile (NCPC)
zum 01.01.1976 seinen Abschluß gefunden und zu einer aktiveren Rolle des Richters im Prozeß sowie zu erweiterten Mitwirkungspflichten der Parteien und Dritter
im Rahmen der Beweisaufnahme geführt627. Unter den kontinentaleuropäischen
Rechtsordnungen gewährt das französische Zivilprozeßrecht heute die weitestgehenden Mitwirkungspflichten der nicht beweisbelasteten Partei628.
In Frankreich findet die Beweisaufnahme ausschließlich vor dem Richter
statt629. Gegenseitige prozessuale Verpflichtungen der Parteien, sich vor dem Prozeß Informationen und Beweismittel zugänglich zu machen, kennt das französische
Recht - im Gegensatz zum pretrial-Verfahren in England oder in den USA nicht630. Zwar sind es auch im französischen Prozeß in erster Linie die Parteien, die
die Beweismittel entsprechend der Verteilung der Beweisführungslast in den Prozeß einzuführen haben631. Dem Gericht stehen für seine Entscheidungsfindung
jedoch besondere Aufklärungsmaßnahmen (mesures d'instruction) zur Verfügung, von
denen es auf Antrag, vor allem aber auch von Amts wegen632 in jedem Stadium des
Prozesses633 Gebrauch machen kann634. Zu ihnen gehören die Einnahme des Augenscheins (vérifications personnelles du juge)635, die Anordnung des persönlichen Er-
624 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 213; Schaaff, RIW 1988, 844 (844).
625 Schlosser, JZ 1991, 599 (602).
626 Vgl. Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 125 m.w.N. aus der früheren Rechtsprechung.
627 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 100.
628 Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (470); Stürner, FS-Stoll, 2001, 691 (699).
629 Hülsen, RIW 1982, 537 (542); diesen Unterschied zur Informationsbeschaffung nach angloamerikanischem Vorbild betont auch Schlosser, JZ 1999, 599 (602).
630 Eine Ausnahme sieht Art. 145 NCPC vor (mesures d'instruction in futurum), wonach auf Antrag
zur Beweissicherung die vom Gesetz vorgesehenen mesures d' instruction im Ausnahmefall auch
ohne anhängigen Rechtsstreit angeordnet werden können, um Beweismittel zu sichern. Dieses
Instrument entspricht etwa dem deutschen selbständigen Beweisverfahren gem. §§ 485 ff. ZPO.
631 Vgl. Art. 2, 6 NCPC.
632 Art. 10 NCPC.
633 Art. 144 NCPC
634 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 101.
635 Art. 179-183 NCPC.
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
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scheinens der Parteien und deren Anhörung (comparution personnelles des parties)636
sowie Aufklärungsmaßnahmen durch einen sog. "technicien", einer Art Sachverständigen637.
Im Interesse einer fairen Auseinandersetzung sowie der Wahrheitsfindung bestehen zudem weitgehende Mitwirkungspflichten der Parteien im Rahmen der
Beweisführung, die sich auch auf Dritte638 erstrecken. Zentrale Norm ist diesbezüglich Art. 10 Code civil, der eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gegenüber jedermann statuiert, "seinen Beitrag zur Arbeit der Justiz zu leisten, damit im Prozeß die
Wahrheit zu Tage treten kann"639. Dieser Grundsatz erfährt in Art. 11 NCPC seine
Konkretisierung für das Zivilprozeßrecht. Die Parteien sind gem. Art. 11 Abs. 1
NCPC verpflichtet, ihren Beitrag zur Beweisaufnahme zu leisten640. Art. 11 Abs. 2
NCPC enthält - soweit beantragt - eine allgemeine Vorlagepflicht für sämtliche
Beweismittel, die eine Partei in den Händen hält sowie eine auf Dokumente beschränkte Vorlagepflicht Dritter. Die Vorlagepflicht für Urkunden und sonstige
Dokumente641 konkretisiert das französische Prozeßrecht noch einmal in den Art.
138, 139 und 142 NCPC. Auf Antrag642 einer Partei kann das Gericht sowohl gegenüber einer Partei643 als auch gegenüber einem am Prozeß unbeteiligten Dritten644 unabhängig vom Bestehen materiell-rechtlicher Ansprüche und ungeachtet
der Beweislast anordnen, sämtliche Dokumente vorzulegen, die geeignet sind, den
Beweis bestimmter Elemente des Rechtsstreits zu ermöglichen oder zu fördern
(production forcée des pièces)645. Die Anordnung steht ebenso wie der Gebrauch der
mesures d'instruction im Ermessen des Gerichts, das sich jedoch trotz der grundsätzlichen Subsidiarität richterlicher Beweisinitiativen646 zu einer Anordnungspflicht
verdichten kann647, wenn eine Partei den Beweis selbst ohne eigenes Verschulden
nicht führen kann648.
636 Art. 184-198 NCPC.
637 Art. 232-284 NCPC.
638 Dritte i.S.d. Art. 138-141 können auch Behörden sein. Vgl. hierzu auch Schlosser, FS-Sonneberger,
2004, 135 (142), mit Beispielen aus der französischen Rechtsprechung.
639 So die Übersetzung des Art. 10 Abs. 1 Code civil bei Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 103.
640 Art. 11 Abs. 1 NCPC.
641 Der Begriff production forcée des "pièces", mit dem die Art. 138 ff. NCPC überschrieben sind,
erfaßt alle materialisierbaren Beweismittel, also alles, was in einem Prozeß vorgelegt werden kann
und bei dem es auf den Inhalt ankommt, der in den Gegenständen verkörpert ist, vgl. Teske, Urkundenbeweis im französischen und deutschen Zivil- und Zivilprozeßrecht, 1990, 85; Lang, Die
Aufklärungspflicht, 1999, 131.
642 Das Antragserfordernis sollte allzuweit gehende Inquisitionsbefugnisse des Gerichts verhindern,
vgl. Schlosser, FS-Sonneberger, 2003, 135 (145).
643 Art. 142 i.V.m. 138 f. NCPC.
644 Art. 138, 139 NCPC.
645 Vgl. hierzu Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 124 ff.; zur Systematik der Urkundenvorlagepflichten mit Übersetzung der jeweiligen Vorschriften außerdem Schlosser, FS-Sonneberger, 135
(136 f.).
646 Die Subsidiarität ist den Art. 2, 6 NCPC zu entnehmen, wonach es grundsätzlich den Parteien
obliegt, den Prozeß zu führen und ihrer Behauptungs- und Beweisführungslast zu genügen.
647 Vgl. Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 126 f.
648 Vgl. Art. 146 NCPC.
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Auch in Frankreich sollen jedoch weder die weitgehenden Mitwirkungspflichten
der Parteien sowie Dritter bei der Beweisführung noch die umfangreichen richterlichen Aufklärungsbefugnisse dazu dienen, Dritte oder den Prozeßgegner auszuforschen. Richterliche Aufklärung findet nur statt, wenn die behaupteten Tatsachen
eine Verbindung zum Gegenstand des Rechtsstreits aufweisen und entscheidungserheblich sind (pertinence)649. Der Sachvortrag der Parteien muß darüber hinaus
einen gewissen Grad an Präzision aufweisen, um eine Aufklärungsmaßnahme auslösen zu können. Ähnlich wie hierzulande erfordert der Sachvortrag das Vorliegen
von Anhaltspunkten für seine Richtigkeit, wobei damit nicht in erster Linie der
Ausforschung des Prozeßgegners entgegengewirkt, sondern vielmehr dessen Möglichkeit zum Gegenbeweis und damit zur effektiven Verteidigung gewahrt werden
soll650. Die Anordnung zur Vorlage von Dokumenten kommt außerdem nur dann
in Betracht, wenn der Antrag der Partei es ermöglicht, das Vorlageobjekt genau zu
identifizieren651. Vorlageanträge, die darauf abzielen, aus einer Vielzahl unbestimmter Dokumente diejenigen "herauszufischen", die für die Verfolgung des eigenen
Rechtsschutzziels nützlich erscheinen, sind damit weitestgehend ausgeschlossen.
Die Verweigerung gebotener Mitwirkung der Parteien sanktioniert das französische Prozeßrecht zweigleisig. Das Gericht kann aus der Weigerung entweder negative Schlüsse ziehen652 oder ein Zwangsgeld (astreinte)653 bzw. zivile Ordnungsstrafen (amende civile)654 verhängen. Letzteres soll jedoch auch in Frankreich bisher die
Ausnahme geblieben sein655. Der drohende Prozeßverlust bewegt die Parteien
offenbar am ehesten dazu, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen. Gegenüber
Dritten kommen - mangels Möglichkeiten indirekter Sanktionen in Form negativer
Beweiswürdigung - gem. Art. 11 Abs. 2 S. 2 NCPC ausschließlich Zwangsmittel in
Betracht. Art. 10 Abs. 2 NCPC stellt zudem klar, daß eine Pflicht zum Schadensersatz wegen Verletzung einer Mitwirkungspflicht nicht ausgeschlossen ist.
Die Reichweite der Mitwirkungspflichten im Einzelfall liegt im Ermessen des
Gerichts656, das im Rahmen der Entscheidung, ob es eine entsprechende Anordnung erläßt, prüft, ob dem Vorlageverpflichteten ein Weigerungsrecht zugute
kommt. Diesbezüglich differenziert das Gesetz sprachlich zwischen Parteien und
Dritten. Während erstere nur bei Vorliegen eines motif légitime die Mitwirkung verweigern können657, reicht für Dritte bereits das Vorliegen eines empêchement légitime
aus658. Eine Definition der Begriffe hat die Prozeßordnung nicht vorgesehen, jedoch soll die sprachliche Differenzierung die unterschiedliche Interessenlage zwi-
649 Vgl. Art. 6, 8, 9, 75 Abs. 2 NCPC.
650 Vgl. Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 112 m.N. aus der Rechtsprechung.
651 Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135, (145 f.) m.N. aus der Rechtsprechung; Wagner, ZEuP 2001,
441 (468); Schlosser, JZ 1991, 599 (602).
652 Vgl. Art. 11 Abs. 2 NCPC ("tirer toute conséquence ou d'un refus").
653 Art. 11 Abs. 2 NCPC.
654 Art. 10 Abs. 2 NCPC
655 Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (772); ders., FS-Stoll, 2001, 691 (701).
656 Vgl. Wagner, ZEuP 2001, 441 (477).
657 Art. 10 Abs. 2 Code civil.
658 Art. 11 Abs. 2 NCPC.
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
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schen Parteien und Dritten bei der Mitwirkung am Prozeß widerspiegeln659. Dritten
kommen insoweit weitergehende Weigerungsrechte zu als den Parteien. Letztere
können die Mitwirkung insbesondere dann verweigern, wenn sie mit der strafbewehrten Verletzung eines absolut geschützten Berufsgeheimnisses einhergehen
würde660. Geheimhaltungsinteressen anderer Berufgruppen finden dagegen nur als
empêchement légitime im Falle verweigerter Mitwirkung Dritter Berücksichtigung.
Auch der Verlust eines Dokuments aufgrund höherer Gewalt (force majeure) kann
Parteien und Dritte von ihrer Vorlagepflicht sanktionslos befreien661. Die Berücksichtigung weiterer berechtigter Interessen an der Verweigerung gebotener Mitwirkung liegt aufgrund fehlender gesetzlicher Regelung weitgehend im Ermessen des
Gerichts, das Aufklärungs- und Geheimhaltungsinteresse im Einzelfall abwägt662.
So kommen nach der französischen Rechtsprechung im Einzelfall die Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung ebenso wie die drohende Verletzung eines Betriebs-,
Geschäfts- oder sonstigen Privatgeheimnisses sowohl für Parteien wie auch für
Dritte als Weigerungsgrund in Betracht. Insgesamt soll in der Rechtsprechung eine
stärkere Tendenz zum Vorrang der Wahrheitsermittlung zu erkennen sein, als dies
in Deutschland der Fall ist663.
D. Österreich
Der österreichische Zivilprozeß ist nach wie vor stark von den sozialreformerischen Gedanken Franz Kleins geprägt664 und verwirklicht traditionell weitgehende
Aufklärungsbefugnisse des Gerichts665. Obwohl die österreichische Zivilprozeßordnung (ÖZPO)666 in bewußter Abgrenzung zur ZPO entstand667 und bis heute
in höherem Maße vom Sozialstaatsgedanken geprägt ist, weist sie unter den kontinentaleuropäischen Prozeßordnungen die größten Ähnlichkeiten mit dem deutschen Prozeßrecht auf. Dies sowie die Tatsache, daß die ÖZPO im Rahmen der
Novellierung der ZPO nicht selten als Vorbild diente668, lassen den Blick auf die
Gestaltung des Beweisrechts in der Nachbarrechtsordnung als besonders lohnend
erscheinen, um Hilfen für die Interpretation des deutschen Rechts zu gewinnen.
Das Augenmerk soll hierbei besonders auf den Unterschieden beider Prozeßordnungen liegen.
659 Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (140), Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 157 f.
660 Geschützt sind nach französischem Recht insoweit Ärzte, Rechtsanwälte und Priester.
661 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 161.
662 Vgl. Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (140 f.); Wagner, ZEuP 2001, 441 (477).
663 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 163.
664 Zur jüngsten Reform des österreichischen Zivilprozesses aus dem Jahr 2002, die mit der Verschärfung der Prozeßförderungspflicht der Parteien sowie der richterlichen Pflicht zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Parteien zu einer weiteren Stärkung der Richtermacht geführt hat, vgl. Klicka, ZZP Int 7 (2002), 179 ff.
665 Stürner, FS-Stoll, 2001, 691 (696).
666 In Kraft getreten am 01.08.1895.
667 Vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 35.
668 Vgl. oben Zweiter Teil.§ 2A.III.4.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.