Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Die Einführung prozessualer Pflichten, die die Parteien gegenseitig zur Mitwirkung bei der Informationsbeschaffung und Beweisführung verpflichten oder gar
die Implementierung einer allgemeinen prozessualen Editionspflicht für Urkunden
stellte vor dem Hintergrund des bisher geltenden Prozeßrechts jedenfalls einen
Paradigmenwechsel dar. Dem oft als gesetzliche Leitidee der ZPO erkannten Beibringungsgrundsatz stünde die Einführung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht nach dem Modell Stürners jedenfalls nicht im Wege435. Wie bereits
dargelegt, beschreibt der Beibringungsgrundsatz das Verhältnis der prozessualen
Verantwortlichkeiten zwischen den Parteien auf der einen und dem Gericht auf der
anderen Seite. Die allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der Prozeßparteien
würde aber nicht ein Mehr an richterlicher Amtsermittlung mit sich bringen, sondern lediglich die Aufklärungsbeiträge zwischen den Parteien neu verteilten und
ggf. erweitern. An dieser Stelle ist Stürner beizupflichten, wenn er meint, die Kritiker
einer prozessualen Aufklärungspflicht verwechselten Ursache und Wirkung436. In
der Tat würde die allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht gerade nicht die Stärkung, sondern gar eine Verringerung der Richterverantwortlichkeit für die Sachverhaltsaufklärung mit sich bringen, weil die Parteien untereinander und weniger dem
Gericht gegenüber zur Aufklärung verpflichtet wären.
C. Vorschläge zur Reform der Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten
Obwohl im Schrifttum die Begründung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht im Wege der Rechtsfortbildung de lege lata weitgehend abgelehnt
wird, findet eine mehr oder weniger weitreichende Einführung prozessualer Aufklärungspflichten durch den Gesetzgeber großenteils Befürwortung. Der prominenteste Vorstoß in diese Richtung kam in jüngerer Zeit von Gottwald. Auf dem 61.
Deutschen Juristentag 1996 in Karlsruhe legte er für die Abteilung Verfahrensrecht
ein Gutachten vor, das sich mit der Vereinfachung, Vereinheitlichung und Beschränkung von Rechtsmitteln im Interesse eines effektiveren Rechtsschutzes
befaßt. Ausgehend von dieser Reformintention schlägt er vor, Bedeutung und
Effizienz des erstinstanzlichen Verfahrens durch die Einführung einer allgemeinen
prozessualen Aufklärungs- und Editionspflicht zu erhöhen437. Gottwald ließ sich
bei seinen Überlegungen vom englischen Recht inspirieren438, das eine allgemeine
Editionspflicht vorsieht und für Verstöße ähnliche Sanktionen bereit hält, wie sie
die Rechtsprechung hierzulande bereits heute in den Fällen der Beweisvereitlung
verhängt.
435 Befürworter sehen in der prozessualen Aufklärungspflicht sogar eine "Stärkung der Verhandlungsmaxime", Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (62) oder wenigstens ein notwendiges Korrelat Schlosser, JZ 1991, 599 (607).
436 Stürner, ZZP 98 (1985), 237 (254 f.).
437 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 1 (A 15 ff.).
438 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 16 f.
§ 4 Die Auffassungen im Schrifttum zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Der Vorschlag Gottwalds sieht zunächst die Erweiterung des § 138 ZPO zu einer allgemeinen gegenseitigen Aufklärungs- und Editionspflicht der Parteien vor439.
Jede Partei soll sich danach nicht nur über gegnerische Tatsachenbehauptungen
erklären müssen, sondern zugleich alle Unterlagen vorzulegen haben, die in Zusammenhang mit streitigen Tatsachen stehen. Zusätzlich wird die Anpassung der
Regeln über den parteibetriebenen Urkundenbeweis angestrebt440. Der Beweisgegner soll auch hier verpflichtet werden, jede für die Entscheidung des Rechtsstreits
relevante Urkunde vorzulegen, die er entweder selbst in Besitz hat oder die er sich
ohne weiteres beschaffen kann. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Vorlage
schutzwürdige Belange Dritter verletzten würde oder aus sonstigen Gründen unzumutbar wäre. Die Vorlagepflicht soll allerdings auch dann nicht ausgeschlossen
sein, sondern gegenüber einem sachverständigen Dritten erfolgen, der anstelle des
Beweisführers Einsicht in die Urkunde nimmt441. Dritte, die am Prozeß nicht beteiligt sind, müssen nach dem Vorschlag Gottwalds ebenfalls unabhängig vom Bestehen materiell-rechtlicher Einsichts- oder Herausgabeansprüche grundsätzlich sämtliche prozeßrelevanten Urkunden vorlegen, es sei denn, sie können sich auf ein
Zeugnisverweigerungsrecht berufen442.
Die Weigerung einer Partei, dem Vorlagebegehren zu entsprechen, soll weiterhin prozessual sanktioniert werden. Gegenüber dem Beweisgegner erfolgt die Sanktion entsprechend den Regeln der §§ 426, 427 ZPO. Für den Beweisführer sieht
der Vorschlag dagegen die Schaffung einer Präklusionsvorschrift vor, nach der die
Beweisführung mit der Urkunde ausgeschlossen wird. Prozeßfremde Dritte können
mit der Verhängung von Ordnungsgeld wie ein unbotmäßiger Zeuge zur Vorlage
angehalten werden.
Der Vorschlag Gottwalds enthält schließlich auch eine entsprechende Erweiterung der amtswegigen Vorlageanordnungen des Gerichts gem. § 273 Abs. 2 Nr. 1
ZPO a.F. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung soll die Anordnung der
Urkundenvorlage ausdrücklich auch gegenüber der nicht darlegungs- und beweisbelasteten Partei möglich sein.
Obwohl die inhaltliche Stärkung der ersten Instanz von den Teilnehmern des
Juristentages im Grundsatz befürwortet wurde, fand der Vorschlag der Einführung
einer allgemeinen Editionspflicht dort keine Zustimmung443. Eine Pflicht zur Vorlage aller greifbaren Urkunden, so die Kritik aus Richterschaft444 und Anwaltschaft445, liefe nicht nur dem Beibringungsgrundsatz zuwider, sondern würde auch
die Akten der Eingangsgerichte nahezu ins Uferlose anschwellen lassen446. Die
Verpflichtung Dritter, über mündliche Zeugenaussagen hinaus auch Urkunden
439 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 19.
440 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 19 f.
441 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 20.
442 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 20.
443 61. Deutscher Juristentag: Der Tagungsverlauf, NJW 1996, 2987 (2988, 2994).
444 Vorwerk, MDR 1996, 870 (870).
445 61. Deutscher Juristentag: Der Tagungsverlauf, NJW 1996, 2987 (2987).
446 Vorwerk, MDR 1996, 870 (870); 61. Deutscher Juristentag: Der Tagungsverlauf, NJW 1996, 2987
(2987).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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vorzulegen, verletze darüber hinaus in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise
deren Persönlichkeitsrechte447. Sogar vor strafrechtlicher Verfolgung als Konsequenz der Einführung einer allgemeinen prozessualen Editionspflicht wurde im
Vorfeld des Juristentages gewarnt448.
Das Gutachten Gottwalds ist der bisher letzte prominente Anstoß in Richtung
des Gesetzgebers geblieben, eine allgemeine Editionspflicht in der ZPO zu implementieren. Er steht in der Tradition ähnlich gelagerter Reformvorschläge der
Kommissionen für das Zivilprozeßrecht aus den Jahren 1961 und 1977 sowie des
Entwurfs 1931449 und ist insoweit vom Grundgedanken her wenig revolutionär.
Dennoch fand er beim Gesetzgeber zunächst ebensowenig Anklang wie seine
Vorgänger.
§ 5 Verfassungsrechtliche Aspekte der Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß
Das Grundgesetz ist für das Zivilprozeßrecht sowie für die Gerichtsverfassung von
unmittelbarer Bedeutung. Direkten Einfluß haben insbesondere die der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips im gerichtlichen Verfahren dienenden Justizgrundrechte wie etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 2 GG oder
die Garantie des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Die zunehmende
verfassungsrechtliche Durchdringung des Zivilprozeßrechts führte bis heute zu
einer immer dichter werdenden verfassungsrechtlichen Überprüfung zivilgerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht.
Für die vorliegende Untersuchung lohnt der Blick auf das Verfassungsrecht,
weil die Parteien eines Zivilprozesses regelmäßig gegenläufige Interessen verfolgen,
denen jeweils Verfassungsrang zukommt450. Der informationsbedürftige Beweisführer strebt nach effektivem Rechtsschutz, der ihm ohne Mitwirkung seines Gegners versagt bleiben kann. Der Beweisgegner kann dagegen für sich in Anspruch
nehmen, nicht aufgrund lediglich vager, anhaltsloser Behauptungen in ein Beweisverfahren hineingezogen zu werden, in dem er möglicherweise genötigt wird, Informationen preiszugeben, die er mit guten Gründen geheimhalten möchte. Beabsichtigt man etwa, wie die Lehre von der prozessualen Aufklärungspflicht, effektiveren Rechtsschutz auf der einen und berechtigte Geheimhaltungsinteressen auf
der anderen Seite durch die Einführung eines Geheimverfahrens in Einklang zu
bringen, steht für den Ausgeschlossenen stets dessen Anspruch auf rechtliches
Gehör auf dem Spiel.
447 Vorwerk, MDR 1996, 870 (870).
448 Für Vorwerk, MDR 1996, 870 (870) führt die allgemeine Aufklärungspflicht zugleich zu einer
Garantenpflicht i.S.d. § 13 StGB.
449 Vgl. oben Zweiter Teil.§ 2A.III.
450 Vgl. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 43.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.