Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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pflichten der §§ 142, 144 ZPO n.F. könnten in diesem Bereich neue Maßstäbe
setzen.
Auch mit der Verpflichtung Dritter, prozeßrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen, bleibt das Prozeßgesetz zurückhaltend. Mit Ausnahme der um
§ 378 ZPO geringfügigst erweiterten Zeugnispflicht werden Dritte auf rein prozessualer Grundlage nicht zur Informationsbeschaffung verpflichtet. Das Verfahren,
Dritte zur Vorlegung von Urkunden heranzuziehen, soweit ein materiell-rechtlicher
Anspruch im Raum steht, war bis 2001 so ineffizient und schwerfällig ausgestaltet,
daß von einer prozessualen Vorlagepflicht kaum gesprochen werden konnte. Zuerst mußte eine rechtliche Sonderbeziehung zum Dritten bestehen281, aus der sich
als Nebenpflicht ein materiell-rechtlicher Anspruch ergeben konnte. Selbst bei
Vorliegen dieser Voraussetzung konnte der Dritte jedoch nicht mit prozessualen
Mitteln zur Vorlage bewegt werden, sondern mußte im Wege eines separaten Prozesses dazu angehalten werden. An dieser Stelle betritt die neugeschaffene Vorlagepflicht für Urkunden und Augenscheinsgegenstände echtes Neuland und verspricht erhebliche Erleichterungen bei der Heranziehung Dritter zur Sachverhaltsaufklärung im Prozeß.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß
A. Der vermeintlich informationsfeindliche Grundansatz
Die Rechtsprechung steht der Frage, inwieweit die nicht risikobelastete Partei im
Prozeß zur Mitwirkung an der Informationsbeschaffung gehalten ist, scheinbar
ambivalent282 gegenüber. Für die über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgehende Frage, wie weit sich der Beweisführer die Kenntnisse seines Prozeßgegners
zunutze machen darf, zieht sie zunächst "markige Grundsätze"283 heran, die den
Eindruck erwecken, sie sei wenig geneigt, einer Partei aus ihrer Informationsnot
herauszuhelfen.
I. Primat des materiellen Rechts
Ob eine Partei Ansprüche gegen die andere auf Erteilung von Auskünften, Rechnungslegung oder die Herausgabe von Unterlagen hat, so der BGH, sei primär eine
281 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 89 weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß
eine materiell-rechtliche Sonderbeziehung der informationsbedürftigen Partei zum Dritten noch
häufiger fehlen wird, als dies im Verhältnis zum Prozeßgegner der Fall ist.
282 Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (460); Wagner, ZEuP 2001, 441 (467).
283 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 94.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Frage des materiellen Rechts284. Ein allgemeine Auskunftspflicht kenne das materielle Recht jedoch nicht und es sei nicht Aufgabe des Prozeßrechts, eine solche
einzuführen285.
Nähme man die Rechtsprechung mit dieser These beim Wort, bliebe der in Informationsnot befindlichen Partei regelmäßig nichts anderes übrig, als im materiellen Recht nach Ansprüchen zu suchen, mittels derer sie ihren Gegner zur Preisgabe
der benötigten Informationen veranlassen kann. Kommt ihr ein solcher Anspruch
nicht zugute, könnte ihr mit prozessualen Mitteln nicht weitergeholfen werden, weil
das Prozeßrecht nicht dazu geschaffen sei, Informationsansprüche zu begründen,
die das materielle Recht nicht vorsieht.
II. Ausforschungsverbot
Neben dem Primat materiell-rechtlicher Informationsansprüche läßt sich als zweite
Leitlinie der Gerichte das sog. Verbot unzulässiger Ausforschung des Prozeßgegners ausmachen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH286 gilt im deutschen
Recht der Grundsatz "nemo tenetur edere contra se", zu deutsch: Niemand kann
gezwungen werden, etwas herauszugeben, was ihm zum Nachteil gereicht; oder
plastischer mit den Worten des BGH formuliert: Es ist grundsätzlich keine Partei -
über materiell-rechtliche Auskunftspflichten hinaus - verpflichtet, dem Gegner das
Material für den Prozeßsieg zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus
verfügt287. Was unter dem häufig schlagwortartig benannten Phänomen der Ausforschung des Prozeßgegners genau zu verstehen ist, welche Fallkonstellationen
unter diesen Begriff zu fassen sind und woraus sich die rechtliche Grundlage eines
solchen Verbotes herleiten läßt, ist bis heute im wissenschaftlichen Schrifttum nicht
abschließend geklärt288. Dies dürfte wohl auch daran liegen, daß sich weder der
Begriff selbst noch ein entsprechendes Verbot ausdrücklich und unmittelbar aus
der ZPO oder dem materiellen Recht entnehmen lassen289 und zur Begründung
meist auf das schwer eingrenzbare und von einer konkreten Würdigung des Einzelfalls abhängige Kriterium des Rechtsmißbrauchs abgestellt werden muß290.
Die hier interessierende Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung des Beweisführers beim Prozeßgegner berührt in erster Linie das Phänomen des "Ausfor-
284 BGH NJW 2000, 1108 (1109); BGH NJW 1997, 128 (129); zustimmend Stein/Jonas-Leipold,
22. Aufl., § 138, Rn. 27; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, 138; Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 49 ff.
285 BGH NJW 1990, 3151 (3151).
286 BGH NJW 2000, 1108 (1109); BGH NJW 1997, 128 (129), BGH NJW 1990, 3151 (3151); BGH
NJW 1958, 1491 (1492).
287 So wörtlich zuletzt BGH NJW 2007, 155, 156; BGH NJW 1997, 128 (129).
288 Aus der Wissenschaft haben sich mit dieser Frage insbesondere Lüderitz, Ausforschungsverbot
und Auskunftsanspruch bei der Verfolgung privater Rechte, 1966; Peters, Ausforschungsbeweis
im Zivilprozeß, 1966; Brehm, die Bindung des Richters, 1982; Chudoba, Der ausforschende Beweisantrag, 1993, befaßt.
289 Vgl. Chudoba, Der ausforschende Beweisantrag, 1993, 18 f.
290 Vgl. Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 138, Rn. 15.
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schungsantrages"291, auch "Beweisermittlungsantrag"292 oder schlicht "Ausforschungsbeweis"293 genannt. Gemeint ist die Fallkonstellation, in der eine Partei eine
Beweisaufnahme beantragt, damit aber nicht primär den Beweis der Wahrheit ihrer
Behauptung anstrebt, sondern insgeheim hofft, daß die Beweisaufnahme Fakten
zutage befördern wird, die sie sich für ihren weiteren Vortrag zunutze machen
kann. Zu einem solchen Verhalten wird die risikobelastete Partei im Zivilprozeß
immer dann geneigt sein, wenn sie sich mangels eigener Kenntnis nicht in der Lage
sieht, den anspruchsbegründenden Sachverhalt ausreichend zu substantiieren. Um
zu vermeiden, daß ihr Vorbringen deshalb vom Gericht als unbeachtlich verworfen
und gar nicht erst einer Beweisaufnahme zugänglich gemacht wird, kann sie sich
genötigt sehen, mit Hilfe lediglich unbestimmter oder zwar vermeintlich bestimmter, tatsächlich aber frei erfundener Behauptungen eine Beweisaufnahme zu provozieren. Dieser Vorgehensweise schiebt die Rechtsprechung grundsätzlich einen
Riegel vor. Nach Ansicht des BGH darf eine Beweisaufnahme nicht dazu mißbraucht werden, die Grundlage für neue Behauptungen zu schaffen294, weil dies auf
eine unzulässige Ausforschung des Prozeßgegners hinauslaufe. Kennzeichen eines
solchen Ausforschungsbeweises ist nach Ansicht des BGH die Aufstellung willkürlicher Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein", ohne daß greifbare Anhaltspunkte für die tatsächliche Existenz des behaupteten Sachverhalts vorliegen295.
Auch dieses grundsätzliche Verbot der Ausforschung des Prozeßgegners steht
dem Informationsbedürfnis des Beweisführers auf den ersten Blick entgegen und
setzt seinem Bemühen, den Gegner in die Sachverhaltsaufklärung einzubeziehen,
Grenzen. Die Rechtsprechung verkennt indes die oft ausweglose Situation des
Beweisführers in weitaus geringerem Maße, als die von ihr hochgehaltenen Grundsätze Glauben machen möchten. Obwohl sie eine allgemeine Auskunftspflicht
weder im materiellen Recht noch im Prozeßrecht verortet sieht, hält sie die nicht
beweisbelastete Partei in einer Unzahl von Einzelfällen zur Mitwirkung an der
Sachverhaltsaufklärung an. Entgegen ihrer These vom Primat des materiellen
Rechts zieht sie dabei nicht nur materiell-rechtliche Informationsansprüche heran,
sondern bedient sich zusätzlich auch immer wieder prozessualer Instrumente296.
291 Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei Verfolgung privater Rechte, 1966, 44.
292 Siebert, NJW 1960, 19 (20).
293 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 794, Chudoba, Der ausforschende
Beweisantrag, 1993, 19.
294 BGH JZ 1985, 183 (184); BGH NJW 1968, 1233 (1233).
295 BGH NJW-RR 1999, 361 (361 f.); BGH NJW-RR 1991, 888 (891); BGH NJW 86, 246 (246 f.).
296 Vgl. hierzu sogleich unten Zweiter Teil.§ 3B.II.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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B. Die Hilfestellungen der Rechtsprechung für die risikobelastete Partei297
Unbilligkeiten, die für die Parteien aufgrund eines unverschuldeten Informationsdefizits entstehen, versucht die Rechtsprechung seit jeher mit einem reichhaltigen
Instrumentarium zu begegnen. Dabei ist sie einerseits bestrebt, die in Informationsnot befindliche Partei durch großzügige Handhabung des materiellen Rechts an
die von ihr für eine erfolgreiche Prozeßführung benötigten Informationen kommen
zu lassen. Andererseits greift sie aber auch auf eine Reihe prozessualer Instrumente
zurück, die geeignet sind, die fortwährende Gültigkeit der gerade genannten Leitlinien in Frage zu stellen.
I. Materiell-rechtliche Ansatzpunkte
Dem Vorrang materiell-rechtlicher Informationsansprüche folgend, knüpft das
Instrumentarium der Gerichte zugunsten der in Informationsnot befindlichen
Partei primär an der Auslegung des materiellen Rechts an.
1. Großzügige Handhabung der speziellen Auskunftsansprüche
Zunächst ist die Rechtsprechung geneigt, materiell-rechtliche Informationsansprüche zu Gunsten des Berechtigten weit auszulegen, insbesondere dann, wenn dies
für den Betroffenen die einzige Möglichkeit darstellt, seinen Anspruch zu beziffern.
Bedeutsam für die hier im Fokus des Interesses stehenden Vorlagepflichten ist
insbesondere die von der Rechtsprechung praktizierte weite Auslegung des § 810
BGB298. So dehnte der BGH diesen Vorlageanspruch beispielsweise auf Steuererklärungen und Steuerbescheide aus, um eine auf Zahlung aus einem Auseinandersetzungsvertrag klagende Ehefrau in Stand zu setzen, sich über die Vermögenslage
ihres geschiedenen Ehemanns zu informieren299. Daß diesen Urkunden Bedeutung
in erster Linie im Verhältnis zwischen den Finanzbehörden und dem Beklagten
zukommt, schließe, so der BGH, nicht aus, daß sie auch darüber Auskunft zu geben geeignet sind, welche Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten zustehen.
Es bedürfe insoweit einer "ausdehnenden und nicht am Wortlaut der Vorschrift
haftenden Auslegung"300. Auf die in der Praxis äußerst bedeutsame Ausweitung der
Vorlagepflicht aus § 810 BGB auf ärztliche Behandlungsunterlagen wurde bereits
an anderer Stelle hingewiesen301.
Trotz der Tendenz zur großzügigen Handhabung spezieller Auskunfts- und
Vorlageansprüche darf nicht übersehen werden, daß sich die Bereitschaft zu weiter
297 Vgl. allgemein Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 739 ff.; Gottwald, BB
1979, 1780 (1781 f.); Schneider MDR 1969, 4 (5); Yoshida, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß, 2001, 35; Arens, ZZP 96 (1983), 1 (23); Köhler, NJW 1992, 1477 (1481).
298 Vgl. etwa BGHZ 55, 201 (203); BGH BB 1966, 99 (99); BGH WM 1963, 990 (991).
299 BGH BB 1963, 99 (99 f.).
300 BGH BB 1963, 99 (100).
301 Zweiter Teil.§ 2C.I.5.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.