Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
48
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
§ 1 Reformbedarf im Vorfeld des Zivilprozeßreformgesetzes 2001
Die dargestellte, bis zur Reform im Jahr 2001 gültige Rechtslage mit ihren aufgezeigten Widersprüchen und Unbilligkeiten bot dem Gesetzgeber eine breite Angriffsfläche für eine grundlegende Reform des Beweisrechts. Bestehende Unzulänglichkeiten des Gesetzes hätten beseitigt und ein Verfahren geschaffen werden können, das die Aufklärungsbeiträge zwischen den Parteien angemessen verteilt.
Gerichtliche Praxis84 und Wissenschaft85 einte seit Jahrzehnten das Bemühen,
Beweislastentscheidungen zulasten der in Informationsnot befindlichen beweisbelasteten Partei zu vermeiden und den Prozeßgegner zu einem Mindestmaß an Mitwirkung bei der Aufklärung des streitgegenständlichen Sachverhaltes zu veranlassen. Einigkeit bestand auch darin, daß die dringend notwendige Entlastung der
Rechtsmittelgerichte mit einer Stärkung der gerichtlichen Eingangsinstanz einhergehen mußte, um die Akzeptanz erstinstanzlicher Entscheidungen zu fördern. Wie
man allerdings den bestehenden Mißständen des geltenden Rechts Herr werden
konnte, und wo im einzelnen Handlungsbedarf bestand, darüber gingen die Meinungen beim Gesetzgeber sowie in gerichtlicher Praxis und wissenschaftlichem
Schrifttum auseinander.
A. Der Reformbedarf aus Sicht des Gesetzgebers
Die Reform der Justiz, und dabei insbesondere die des Zivilprozeßrechts, stellte für
die 1998 ins Amt gekommene rot-grüne Regierungskoalition ein zentrales Anliegen
dar86. Der Zivilprozeß sollte durch eine grundlegende Strukturreform umfassend
modernisiert werden. Im Fokus dieser Modernisierungsbestrebungen stand allerdings nicht eine Reform des Beweisrechts im allgemeinen bzw. der prozessualen
Vorlagepflichten im besonderen, sondern primär die Umgestaltung des Rechtsmittelrechts87. Wie die meisten ihrer Vorgänger war auch diese Reform in erster Linie
bemüht, durch ein effizienteres Verfahrensrecht die immer weiter zunehmende
Belastung der Justiz, insbesondere an den Rechtsmittelgerichten einzudämmen. Die
seit langer Zeit kritisierte Ausgestaltung der Berufung als volle Tatsacheninstanz
sollte zu einem Instrument der Fehlerkontrolle umgeformt werden, die im Regelfall
keine erneute Feststellung der Tatsachen mehr vorsieht. Außerdem wollte man die
84 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 3B.
85 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 4.
86 Vgl. die Koalitionsvereinbarung vom 20.10.1998 in ZRP 1998, 485 (499).
87 Vgl. Däubler-Gmelin, FS-Geiss, 2000, 45 (71) sowie (75), wo die Änderungen der §§ 142, 144 ZPO
als "kleinere" weitere Verbesserungen des erstinstanzlichen Verfahrens bezeichnet werden.
§ 1 Reformbedarf im Vorfeld des Zivilprozeßreformgesetzes 2001
49
Revisionsinstanz einer größeren Breite von Urteilen der Instanzgerichte zugänglich
machen, um einer zunehmenden Rechtszersplitterung durch unanfechtbare Entscheidungen der Eingangsgerichte entgegenzuwirken. Der Schwerpunkt des zivilgerichtlichen Verfahrens sollte dorthin zurückverlegt werden, wo er sinnvollerweise
hingehört, nämlich in die erste Instanz. Der Prozeß sollte noch präziser auf seine
gesellschaftliche Funktion, der zügigen Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zugeschnitten werden. Am Ende des erstinstanzlichen Verfahrens müsse
eine Entscheidung stehen, die von den Parteien wirklich akzeptiert werden kann,
weil sie erkennen, daß das Gericht alle Chancen nutzt, um eine umfassende Prüfung des Sachverhaltes vorzunehmen88, so die Begründung zum Reformgesetz
2001. Nur eine erste Instanz, die den Sachverhalt mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gewissenhaft aufklärt, rechtfertige die Abschaffung der Berufung als zweite Tatsacheninstanz. Zu diesem Zweck müsse die Eingangsinstanz
sowohl inhaltlich als auch personell verstärkt werden. Mit einer entsprechenden
Neukonzeption des Zivilprozesses sollte schließlich auch eine Angleichung an die
Prozeßsysteme der europäischen Nachbarländer einhergehen.89.
Die inhaltliche Stärkung der ersten Instanz sah der Reformgesetzgeber in erster
Linie durch eine "Betonung90" der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht in
§ 139 ZPO n.F. sowie durch die Institutionalisierung des Schlichtungsgedankens
mittels Einführung einer obligatorischen Güteverhandlung verwirklicht. Die neugestalteten Vorlagepflichten der §§ 142, 144 ZPO n.F. standen dagegen in einer "Reihe weiterer kleinerer Verbesserungen", die "in der Summe nicht unwesentliche
Verbesserungen des erstinstanzlichen Verfahrens" mit sich bringen sollten91, indem
die tatsächlichen Grundlagen des Rechtsstreits besser und schneller ermittelt werden. Mit der Erweiterung der Vorlagepflichten auf Dritte erhoffte man sich eine
Steigerung der Effizienz bei der erstinstanzlichen Klärung des Tatsachenstoffes.
B. Der Reformbedarf aus Sicht der Wissenschaft
Die Absicht der Auflösung bisher bestehender rechtlicher Unklarheiten, beispielsweise des fehlenden Gleichlaufes zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis
oder gar die Intention einer grundlegenden Veränderung des Beweisrechts, finden
sich in den Motiven des Reformgesetzgebers nicht, obwohl offensichtlich gewesen
sein dürfte, daß die Änderungen der Vorlagepflichten diese Themen nicht nur am
Rande berühren und in der Wissenschaft Anlaß zu einer grundsätzlichen Diskussion über bisher als unbefriedigend empfundene Zustände nach sich ziehen würde.
Die zahlreichen Stellungnahmen im Schrifttum zur Erweiterung der Vorlagepflichten, die sich um die richtige Interpretation dieser Neuerungen bemühen, belegen,
daß die Wissenschaft von einem Reformbedarf ausgeht, der weit über den vom
88 BT-Drs. 14/4722, S. 58.
89 BT-Drs. 14/4722, S. 70.
90 BT-Drs. 14/4722, S. 1.
91 Vgl. Däubler-Gmelin, FS-Geiss, 2000, 45 (75).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.