§ 2 Der Augenscheinsbeweis
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würdigung des Gerichts nach § 286 ZPO60. Für die sich weigernde nicht darlegungs- und beweisbelastete Partei drohte daher die Gefahr des Prozeßverlustes
infolge negativer Würdigung ihres Verhaltens durch das Gericht. Die beweisbelastete Partei blieb beweisfällig, wenn sie der Anordnung nicht entsprach, wodurch
sie ebenfalls den Verlust des Prozesses zu befürchten hatte.
§ 2 Der Augenscheinsbeweis
Der Augenscheinsbeweis, hat - im Gegensatz zum Urkundenbeweis - nicht den
Zweck, dem Gericht einen Gedankeninhalt zu vermitteln. Unter Augenschein wird
vielmehr jede unmittelbare Sinneswahrnehmung des Gerichts über körperliche
Eigenschaften oder Zustände von Personen und Sachen oder über Äußerungen,
die in einer Schallaufnahme festgehalten sind, verstanden61. Entscheidend für den
Augenschein ist also das unmittelbare Wahrnehmen durch die Sinne, wobei neben
dem Gesichtssinn auch eine Wahrnehmung durch Gehör, Geruch, Geschmack
oder Tastsinn in Betracht kommen. Zutreffend wird insoweit auch vom sog.
Wahrnehmungsbeweis62 gesprochen. Zwar kann auch eine Urkunde im oben definierten Sinne Gegenstand des Augenscheinsbeweises sein, jedoch steht dann nicht
der durch die Urkunde verkörperte Gedankeninhalt in Frage, sondern etwa die
äußere Beschaffenheit der Urkunde, die sich unmittelbar durch Sinneswahrnehmung erschließt. Will der Beweisführer im Prozeß eine bestrittene Behauptung
mittels Augenschein beweisen, so folgt der Beweisantritt den Regeln der §§ 371 ff.
ZPO. Gesetzlich geregelte Voraussetzung für den Beweis einer streitigen Tatsache
durch Augenschein sind gem. § 371 ZPO a.F. die Bezeichnung des Gegenstandes
des Augenscheins sowie der zu beweisenden Tatsache. Inwieweit der jeweilige
Besitzer des in Augenschein zu nehmenden Gegenstandes vor der Reform im Jahr
2001 verpflichtet war, den Augenschein zu dulden bzw. durch Vorlage eines Gegenstandes daran mitzuwirken, war durch das Gesetz nur unzureichend geregelt.
A. Beweisantritt durch eine Partei
I. Der Beweisführer besitzt den Augenscheinsgegenstand
Befand sich der in Augenschein zu nehmende Gegenstand im Besitz der darlegungs- und beweisbelasteten Partei, ergaben sich keine Besonderheiten. Der Beweisführer stellte dem Gericht den Gegenstand zum Zwecke der Inaugenscheinnahme zur Verfügung.
60 BAG DB 1976, 1020 (1020); Baumbach-Hartmann, 65. Aufl., § 142, Rn. 16; Zöller-Greger, 21. Aufl.,
§ 142, Rn. 2; für die analoge Heranziehung des § 427 ZPO im Rahmen der Beweiswürdigung
Musielak-Stadler, 2. Aufl., § 142, Rn. 4; MüKo-ZPO-Peters, 1. Aufl., § 142, Rn. 12.
61 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 808.
62 Baumbach-Hartmann, 65. Aufl., Übers. § 371, Rn. 4.
Erster Teil. Die Rechtslage vor der Zivilprozeßrechtsreform im Jahr 2001
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II. Der Gegner besitzt den Augenscheinsgegenstand
Problematischer war wiederum die Konstellation, in der nicht der Beweisführer,
sondern sein Prozeßgegner im Besitz des Gegenstandes war. Beim Beweisantritt
einer Partei war dem Gesetz bis zum Inkrafttreten des Zivilprozeßreformgesetzes
nicht zu entnehmen, inwieweit die nicht risikobelastete Partei zur Duldung des
Augenscheins eines in ihrem Besitz befindlichen Gegenstandes verpflichtet ist.
Dies überrascht angesichts der detaillierten Regelungen in den §§ 422, 423 ZPO
a.F. über den Urkundenbeweis, da die Übergänge zwischen Urkunde und Augenscheinsgegenstand im Einzelfall fließend sind63, was sich insbesondere am Problem
der Einordnung elektronischer Dokumente zeigt64. Der historische Gesetzgeber
der ZPO scheint eine beschränkte Mitwirkungspflicht des Beweisgegners entsprechend der Regelungen beim Urkundenbeweis nicht beabsichtigt zu haben65. Dennoch waren sich Rechtsprechung und Schrifttum schon vor der Reform 2001 darin
einig, daß aufgrund gewandelten Prozeßverständnisses und gesetzgeberischer Reformen die grundlos verweigerte Mitwirkung des Beweisgegners nicht sanktionslos
bleiben kann.
Für den Fall, daß dem Beweisführer gegen den Prozeßgegner ein Herausgabeanspruch nach materiellem Recht zukam, stand es diesem selbstredend frei, den
Anspruch in einem selbständigen Prozeß geltend zu machen. Das Gericht konnte
dem Beweisführer hierzu gem. § 356 ZPO eine Frist setzen, nach deren fruchtlosem Verstreichen die beweisführende Partei mit dem Augenscheinsbeweis ausgeschlossen war und damit beweisfällig blieb66. Hatte der Beweisgegner selbst zur
Beweisführung auf den Gegenstand Bezug genommen, wurde er schon vor der
Reform 2001 analog § 423 ZPO prozessual für zur Vorlage verpflichtet angesehen67.
Konnte sich der Beweisführer nicht auf einen entsprechenden Anspruch nach
materiellem Recht berufen, und hatte sich der Prozeßgegner auch nicht auf den
Gegenstand bezogen, so stellte sich die Frage, ob der Gegner aus prozessualen
Gründen zur Mitwirkung beim Augenschein verpflichtet war. Literatur und gerichtliche Praxis haben diese Frage zwar übereinstimmend bejaht, jedoch jeweils auf
eine unterschiedliche Herleitung dieses Ergebnisses zurückgegriffen. In der Rechtsprechung wurde die Weigerung des Gegners, den Augenschein an seinem Besitz
vornehmen zu lassen, bisweilen wie ein Zugeständnis der streitigen Behauptung
gewertet, wenn der Augenschein für ihn als zumutbar erachtet wurde68. Als Grundlage für diese Mitwirkungs- und Duldungspflicht diente sowohl die analoge An-
63 Musielak-Huber, 5. Aufl., § 371, Rn. 6.
64 Im Sinne des Signaturgesetztes qualifizierte elektronische Dokumente hat der Gesetzgeber
inzwischen durch § 371a ZPO hinsichtlich der Beweiskraft den Regelungen über Urkunden unterworfen.
65 MüKo-ZPO-Damrau, 1. Aufl., § 371, Rn. 8; Peters, ZZP 82 (1989), 200 (205).
66 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., S. 694.
67 Vgl. Peters, ZZP 82, 200 (208) m.w.N.
68 LG Köln, NJW-RR 1994, 1487 (1487 f.); LG Frankfurt/Main, NJW-RR 1991, 13 (13); OLG
München NJW 1984, 807 (807 f.); RG GRUR 1938, 428 (429).
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wendung der §§ 444, 441 III, 286 ZPO als auch die Prozeßförderungspflicht der
Parteien69. Die Weigerung des Beweisgegners an der zumutbaren Mitwirkung des
Augenscheins wurde damit allgemein als Fall der Beweisvereitelung70 betrachtet
und insoweit auch entsprechend sanktioniert71.
III. Ein prozeßfremder Dritter besitzt den Augenscheinsgegenstand
Da bis zur Reform 2001 eine prozessuale Pflicht Dritter zur Vorlage von Augenscheinsgegenständen nicht bestand, blieb die risikobelastete Partei beweisfällig,
wenn der Dritte zur Mitwirkung nicht bereit war und auch im Wege eines separaten
Prozesses nicht dazu gezwungen werden konnte. Eine Ausnahme kam allenfalls
dann in Betracht, wenn der Dritte seine Mitwirkung auf Weisung des Prozeßgegners verweigerte und dies der anweisenden Partei als eigene Mitwirkungsverweigerung zugerechnet werden konnte72.
B. Die gerichtliche Anordnung nach § 144 ZPO a.F.
Ähnlich wie im Fall des § 142 ZPO a.F. ermöglichte die ZPO dem Gericht schon
vor der Reform 2001, den Augenscheinsbeweis von Amts wegen zu erheben, ohne
daß es eines Beweisantrages der Parteien bedurfte. Weitgehend unumstritten73
diente die entsprechende Vorschrift des § 144 ZPO a.F. sowohl der Aufklärung
lückenhaften oder undeutlichen Sachvortrages, also der bloßen Besichtigung zu
Informationszwecken74, als auch der Klärung streitigen Parteivortrages und somit
dem Beweis. Die Anordnung konnte ebenso wie die nach § 142 ZPO a.F. in der
mündlichen Verhandlung wie auch im Vorfeld derselben gem. § 273 Abs. 2 Nr. 1
ZPO a.F. ergehen.
Im Gegensatz zur Parallelregelung des § 142 ZPO a.F. knüpfte § 144 ZPO a.F.
die amtswegige Inaugenscheinnahme aber nicht an weitere Voraussetzungen wie
etwa einer Bezugnahme oder an das "in den Händen halten" der Parteien. Für das
Verfahren einer von Amts wegen angeordneten Augenscheinseinnahme verwies
§ 144 Abs. 2 ZPO a.F. statt dessen schlicht auf die Vorschriften, die den parteibetriebenen Augenscheinsbeweis regelten, also auf die §§ 372 ff. ZPO a.F. Für die
Frage, inwieweit die Parteien oder Dritte bei einer von Amts wegen angeordneten
Augenscheinseinnahme zur Duldung und Mitwirkung verpflichtet waren, galten
dieselben Grundsätze wie beim Augenscheinsbeweis auf Beweisantrag einer Partei.
69 Vgl. Zöller-Greger, 26. Aufl., § 371, Rn. 5; MüKo-ZPO-Damrau, 1. Aufl., § 371, Rn. 8; Peters, ZZP 82
(1969), 200 (214 f.).
70 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 3B.I.3.c).
71 Kritisch Gottwald, ZZP 92 (1979) 364 (369), der mit einer Sanktion den Widerspruch zur materiellen Rechtslage übergangen sieht, nach der der Beweisgegner zur Herausgabe nicht verpflichtet
ist.
72 Musielak-Huber, 2. Aufl., § 371, Rn. 16; Zöller-Greger, 21. Aufl., § 371, Rn. 6.
73 Zum früheren Streit um diese Frage vgl. Peters, Richterliche Hinweispflichten, 1983, 15 f.
74 MüKo-ZPO-Damrau, 1. Aufl., § 371, Rn. 1.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.