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F. Umfang der Anpassung der Zentralbanksatzungen
Die in dieser Arbeit interessierende Anpassung der Zentralbanksatzungen an das Gemeinschaftsrecht in den mittel- und osteuropäischen Staaten ist im allgemeineren
Kontext der Beitrittsvorbereitungen und der dadurch implizierten Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands zu sehen.
I. Anpassungsmaßstab
Der Umfang der als Beitrittsvoraussetzung verlangten Übernahme des Acquis ist im
jeweiligen Beitrittsvertrag festgelegt. Die Beitrittsakte 20031282 besagt in Art. 2, dass
ab dem Tag des Beitritts die Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Sekundärrechtsakte für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich sind. Art. 2 Beitrittsakte 2003 hat
folgenden Wortlaut: „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und
die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“ Es fällt auf, dass im Zusammenhang
mit dem Sekundärrecht das durch die EZB gesetzte Recht ausdrücklich erwähnt wird,
was übrigens den dynamischen Charakter des Acquis communautaire widerspiegelt.
Da die Erweiterung 2004 die erste nach der Gründung des ESZB und der EZB war,
erwähnt der Beitrittsvertrag zum ersten Mal in der Beitrittsgeschichte die Rechtsakte
der EZB (und differenziert bemerkenswerterweise zwischen der EZB und den „Organen“). Laut Art. 2 Beitrittsakte 2003 gilt das Primär- und das Sekundärrecht in den
neuen Mitgliedstaaten nach Maßgabe der Verträge und der Beitrittsakte. Maßgebend
für den WWU-Bereich und somit für die Ausgestaltung des Zentralbankrechts ist Art.
4 Beitrittsakte 2003, der den neuen Mitgliedstaaten eine Ausnahmeregelung gewährt,
und folglich Art. 122 EGV und Kapitel IX der ESZB-Satzung. Etwaige Übergangsregelungen wurden im Rahmen des Verhandlungskapitels zur WWU nicht in Betracht
gezogen und sind deswegen auch nicht im Beitrittsvertrag zu ? nden.1283 Im gewissen
Sinne lässt sich nichtsdestoweniger die Gewährung der Ausnahmeregelung als eine
„Übergangsregelung“ verstehen.1284
Die Übernahme des WWU-Besitzstands durch die betreffenden Länder hatte daher
in der Zeit bis zum Beitritt primär im Sinne der ihnen zu gewährenden Ausnahmeregelung zu erfolgen.1285 Denn, um ab dem Beitritt an der WWU als Mitgliedstaaten mit
1282 ABl. 2003 Nr. L 236/1.
1283 S. Commission, Guide to the Negotiations, Chapter 11 – Economic and Monetary Union,
Dezember 2004, S. 40.
1284 Zum Übergangscharakter der Ausnahmeregelung supra (Abschn. E.).
1285 S. Commission, Guide to the Negotiations, Chapter 11 – Economic and Monetary Union,
Dezember 2004, S. 40. S. auch F. Amtenbrink, in: A. Ott/ K. Inglis (Hrsg.), Handbook on European Enlargement, 2002, S. 702; S. Brinster, Eintritt in die Europäische Wirtschafts- und
Währungsunion, 2006, S. 439ff.
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Ausnahmeregelung teilnehmen zu können, mussten die Beitrittskandidaten die für die
Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung geltenden Regelungen des Gemeinschaftsrechts in die jeweilige nationale Rechtsordnung übernehmen. Das bedeutet allerdings
nicht, dass die auf die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung unanwendbaren Vorschriften nicht zu dem zu übernehmenden Acquis gehörten. Art. 4 der Beitrittsakte
2003 besagt nur, dass sich die neuen Mitgliedstaaten ab ihrem Beitritt in der Situation
der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung i.S.v. Art. 122 EGV be? nden. Diese Situation schließt eine Bindung an das Ziel der WWU und das Streben nach einer raschen
Übernahme des Euro als einheitliche Währung ein.1286 Darüber hinaus befreit der Status der Ausnahmeregelung die betreffenden Mitgliedstaaten nicht von der P? icht zur
Anpassung der nationalen Zentralbanksatzungen an den Vertrag und die Satzung (Art.
109 EGV).1287 Vielmehr implizierte daher die Gewährung der Ausnahmeregelung im
Beitrittsvertrag eine stufenweise Übernahme des WWU-Acquis (was noch darzustellen sein wird)1288, ohne die P? icht zur Übernahme des gesamten WWU-Besitzstands
in Frage zu stellen.
II. Übernahme des Sekundärrechts
Die Übernahme des Acquis beinhaltet notwendigerweise die Übernahme des Sekundärrechts.1289 Aus Art. 2 i.V.m. Art. 4 der Beitrittsakte 2003 folgt, dass die neuen Mitgliedstaaten gehalten waren, zum Zeitpunkt des EU-Beitritts das Sekundärrecht im
WWU-Bereich zu übernehmen, und zwar in dem Umfang, in dem es für die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gilt. Im Anschluss an die Ausführungen zur Geltung
des WWU-Sekundärrechts für die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung im dritten
Kapitel,1290 lässt sich Folgendes feststellen: Da die Rechtsinstrumente der EZB nur für
die teilnehmenden Mitgliedstaaten gelten,1291 besteht hier für die Beitrittskandidaten
keine P? icht zur Übernahme der entsprechenden Rechtsakte zum Zeitpunkt des EU-
Beitritts. Anderes gilt allerdings für die Beschlüsse des Erweiterten Rates, denn sie
entfalten Rechtswirkungen für die nationalen Zentralbanken der nicht teilnehmenden
Mitgliedstaaten.1292 Differenziert ist die Lage im Falle der Rechtsakte des Rates. Denn
die Rechtsakte des Rates, die aufgrund der für die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung nicht geltenden Vertragsvorschriften erlassen werden, sind konsequenterweise
in diesen Mitgliedstaaten nicht anwendbar.1293 Daraus folgt, dass die neuen Mitgliedstaaten keine Anpassung des innerstaatlichen Rechtes an die betreffenden Rechtsakte
1286 Supra (Abschn. E.).
1287 Supra (Kapitel 3 Abschn. C.).
1288 Infra (Abschn. G.).
1289 S. z.B. M.A. Dauses u.a., in: ders. (Hrsg.), Osterweiterung der EU, 1998, S. 57; H.-H. Herrnfeld, Recht europäisch, 1995, S. 108ff. Zur De? nition des Acquis supra (Abschn. C.).
1290 Supra (Kapitel 3 Abschn. B. II.).
1291 Supra (Kapitel 3 Abschn. B. II. 1.).
1292 Vgl. supra (Kapitel 3 Abschn. H. I.).
1293 Supra (Kapitel 3 Abschn. B. II. 2.).
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des Rates zum Zeitpunkt des EU-Beitritts durchzuführen haben. Die Rechtsakte des
Rates, die auf der Grundlage der für die Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung geltenden Vorschriften (etwa Art. 105 Abs. 4 EGV) erlassen werden, sind dagegen auf die
neuen Mitgliedstaaten ab ihrem EU-Beitritt ohne Einschränkungen anwendbar.
G. Zeithorizont für die beitrittsbedingte Anpassung der Zentralbanksatzungen in den neuen Mitgliedstaaten
I. Vorbemerkung
Wie bereits aufgezeigt, galt es im Beitrittsprozess zu berücksichtigen, dass die neuen
Mitgliedstaaten den Euro beim EU-Beitritt nicht einführen können und ab dem Beitritt
den Status der Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung haben werden.1294 Dementsprechend wurde der Weg der neuen Mitgliedstaaten zum Euro bereits frühzeitig als ein
stufenweiser Prozess dargestellt, der drei folgende Phasen umfasst:
die Zeit bis zum EU-Beitritt;
die Zeit zwischen dem EU-Beitritt bis zur Einführung des Euro (Übergangsphase);
die Zeit ab der Einführung des Euro (Endphase).1295
Vor diesem Hintergrund wird fraglich, welche Implikationen sich daraus im Hinblick
auf den Zeithorizont für die notwendigen, beitrittsbedingten Anpassungen der Zentralbanksatzungen der betreffenden Beitrittskandidaten ergaben.
II. Vor dem Beitritt
Auszugehen ist davon, dass die EU-Mitgliedschaft voraussetzt, dass „die einzelnen
Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft resultierenden Verp? ichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und
Währungsunion zu eigen machen können“.1296 Es lässt sich eingangs feststellen, dass
– streng genommen – das nationale Zentralbankrecht ab dem Zeitpunkt des Beitritts
im Einklang mit dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht stehen muss, denn ab diesem
Zeitpunkt gelten für den betreffenden Staat gemäß dem Beitrittsvertrag die Rechte und
P? ichten aufgrund des Gemeinschaftsrechts.
1294 Supra (Abschn. D.).
1295 Kommission, Gesamtdokument: Berichte über die von den einzelnen Ländern Mittel- und Osteuropas erzielten Fortschritte auf dem Weg in die EU, 1998, S. 14ff.; Commission (DG Economic and Financial Affairs), in: dies. (Hrsg.), Enlargement Paper Nr. 1, Mai 2000, S. 37ff.
1296 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Kopenhagen, 21.-22. Juni 1993. Bull. EG
6-1993 (Ziff.1.13). S. auch supra (Abschn. C.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im Zuge der EU-Osterweiterung 2004 wurde die Gemeinschaftswährung noch nicht in den neuen Mitgliedstaaten eingeführt. Die EU ist daher gespalten in Mitgliedstaaten, die bereits am Euro teilnehmen, und Länder, die noch nicht zur Eurozone gehören.
Der EG-Vertrag verpflichtet aber alle Mitgliedstaaten, unabhängig von der Einführung des Euro, die jeweilige nationale Zentralbanksatzung an das Gemeinschaftsrecht anzupassen. Diese Pflicht und die daraus resultierende rechtliche Integration der nationalen Zentralbanken in ein europäisches System stehen im Zentrum der Arbeit. Was ist der konkrete Umfang der Anpassungspflicht? Zu welchem Zeitpunkt ist sie zu erfüllen? Welche Rolle spielt sie im Kontext des Beitrittsprozesses? Welche Rolle spielt sie im Kontext der Konvergenzkriterien? Welche Neuerungen wird der Vertrag von Lissabon bringen? Diese Fragestellungen bieten einen Einblick in den facettenreichen Gegenstand der Untersuchung.