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Nach alledem ist ein Direktklagerecht der Gesellschaftsgläubiger abzulehnen.
Wird der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelehnt, bleibt den Gesellschaftsgläubigern allein die Möglichkeit der Pfändung des Schadensersatzanspruchs. Das Erfordernis eines Gesellschafterbeschlusses nach § 46 Nr. 8 GmbHG
entfällt in diesem Fall schon deshalb, weil es ausschließlich um die Befriedigung
von Gläubigerinteressen geht und der Schadensersatzanspruch wegen Existenzvernichtung der Disposition der Gesellschafter entzogen ist.681
C. Verhältnis zu den Kapitalerhaltungsvorschriften
Zu prüfen ist, ob die Kapitalerhaltungsvorschriften gegenüber der Existenzvernichtungshaftung vorrangig sind. Bejahendenfalls wäre dann weiter zu fragen, wie dieser
Vorrang der §§ 30, 31 GmbHG ausgestaltet ist.682 Ein solcher Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften wäre (unabhängig von seiner Ausgestaltung im Einzelnen)
methodisch als (negatives) Tatbestandmerkmal der Existenzvernichtungshaftung
einzuordnen.683
Für die Subsidiarität der Existenzvernichtungshaftung gegenüber den Kapitalerhaltungsvorschriften wird insbesondere der Gedanke einer möglichst behutsamen
Rechtsfortbildung geltend gemacht. Ein Bedürfnis für den außerordentlichen
Rechtsbehelf der Existenzvernichtungshaftung bestehe erst dann, wenn die Ansprüche aus §§ 30, 31 GmbHG zur Gläubigerbefriedigung nicht ausreichten.684 Solange
die Gläubiger schon durch die Rückführung des etwa entzogenen Stammkapitals
vollständig befriedigt werden könnten, sei für die Existenzvernichtungshaftung kein
Raum.685 Das Institut des existenzvernichtenden Eingriffs solle lediglich die trotz
des Schutzes der Kapitalerhaltungsvorschriften verbliebene planwidrige Regelungs-
681 Unabhängig davon gilt das Beschlusserfordernis nach § 46 Nr. 8 GmbHG allgemein dann
nicht mehr, wenn der Ersatzanspruch von einem Gläubiger gepfändet und an ihn überwiesen wurde; siehe Roth/ Altmeppen- Roth, GmbHG 4. A. (2003), § 46 Rn. 61; Scholz- K.
Schmidt, GmbHG 9. A. (2002), § 46 Rn. 152; Emmerich/ Sonnenschein/ Habersack, Konzernrecht 7. A. (2001), § 30 IV 2, S. 457.
682 Die inhaltliche Ausgestaltung des Vorrangs der §§ 30, 31 GmbHG formulierte der BGH
im „KBV“-Urteil (BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 187) anders
als noch zuvor in „Bremer-Vulkan“ (BGH Urt. v. 17. 9. 2001 - II ZR 178/99 - BGHZ 149,
10, 16); näher dazu unten 6. Kapitel A.
683 Ulmer, JZ 2002, 1049, 1051; siehe auch ausführlich ders., ZHR Beiheft 70 (2001), S. 41,
57 ff zur parallel liegenden Frage der methodischen Verortung des Vorrangs des Einzelausgleichs nach dem „TBB“-Haftungskonzept; a. A. wohl Lutter/ Banerjea, ZGR 2003,
402, 424 f: „Spezialität des § 31 GmbHG“.
684 Ulmer, ZIP 2001, 2021, 2028.
685 Röhricht, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 83, 114 f; Benecke, BB 2003, 1190, 1194.
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und Schutzlücke ausfüllen, nicht aber das System der §§ 30, 31 GmbHG aus den
Angeln heben.686
Die Argumentation für einen Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften erfolgte
allerdings in erster Linie in Auseinandersetzung mit dem durch den BGH im
„KBV“-Urteil entwickelten und in der „Trihotel“-Entscheidung wieder aufgegebenen Durchgriffskonzept.687 Im Rahmen eines Außenhaftungsmodells ist das Anliegen verständlich, das (auch) in den §§ 30, 31 GmbHG zum Ausdruck kommende
Prinzip des mittelbaren Gläubigerschutzes durch Haftungskanalisierung zugunsten
des GmbH-Vermögens nicht vorschnell zugunsten einer unmittelbaren Haftung der
Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern aufzugeben, die dem System
des Gläubigerschutzes in der GmbH fremd ist.688 Diese Problematik eines Bruchs
mit dem Prinzip des mittelbaren Gläubigerschutzes besteht nach der hier vertretenen
Innenhaftungslösung von vornherein nicht.
So vermag jedenfalls für die hier vertretene Innenhaftungslösung die Annahme
eines wie auch immer gearteten Vorrangs der Kapitalerhaltungsvorschriften gegen-
über der Existenzvernichtungshaftung nicht zu überzeugen. Haftungsgrund bei der
Existenzvernichtungshaftung ist der schuldhafte Verstoß gegen das mitgliedschaftliche Verbot, die Gesellschaft durch Desinvestitionsmaßnahmen in den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu treiben. Die Kapitalerhaltungsvorschriften etablieren dagegen eine verschuldensunabhängige Pflicht zur Rückerstattung stammkapitalverletzender Auszahlungen. Die Rechtsfolgen einer schuldhaften Existenzvernichtung der
Gesellschaft sind in den Kapitalerhaltungsvorschriften nicht mit geregelt. Wie an
anderer Stelle gezeigt, stellen die Kapitalerhaltungsvorschriften in Bezug auf die
Rechtsfolgen existenzvernichtender Eingriffe keine abschließende Regelung dar.689
Existenzvernichtungshaftung und Kapitalerhaltungsvorschriften sind also voneinander zu trennende Gläubigerschutzinstitute mit unterschiedlichen Voraussetzungen
und verschiedenartigem Haftungsgrund. Die Kapitalerhaltungsvorschriften sind
gegenüber der Existenzvernichtungshaftung auch nicht etwa die speziellere Regelung. Dem im Ansatz zutreffenden Gedanken, die Einstandspflicht der Gesellschafter immer erst dann eingreifen zu lassen, wenn sie zur Befriedigung der Gläubiger
unverzichtbar ist, ist ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass die Haftung erst
dann eingreift, wenn die Gesellschaft bereits insolvent ist.
Richtig an den für den Vorrang der §§ 30, 31 GmbHG geltend gemachten Erwägungen ist allein, dass es aus Sicht der Gläubiger auf die Gesellschafterhaftung we-
686 Vetter, ZIP 2003, 601, 605; ähnlich Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 423 f.
687 Etwa bei Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 423 f; Benecke BB 2003, 1190, 1194; für
einen Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften auf Grundlage einer Innenhaftungslösung aber Ulmer, ZIP 2001, 2021, 2028.
688 Zu dem das GmbHG prägenden Prinzip des mittelbaren Gläubigerschutzes schon oben 2.
Kapitel A IV 6 und V.
689 Siehe oben 3. Kapitel C.
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gen Existenzvernichtung regelmäßig nicht mehr ankommt, wenn schon Ansprüche
aus § 31 GmbHG zu ihrer restlosen Befriedigung genügen. In der Einmann-GmbH
verliert die Frage des Vorrangs der Kapitalerhaltungsvorschriften bei einer Innenhaftungslösung sogar jede praktische Bedeutung, wenn man den Schadensersatzanspruch wegen Existenzvernichtung richtigerweise auf die Höhe des Gläubigerausfalls begrenzt.690 Soweit die Gläubiger schon durch Ansprüche aus § 31 GmbHG
vollständig befriedigt werden können, kommt es auf den Anspruch wegen Existenzvernichtung praktisch nicht mehr an, da er über jene nicht hinausreicht. Reichen die
Ansprüche aus § 31 GmbHG dagegen nicht zur vollständigen Gläubigerbefriedigung
aus, soll der Rückgriff auf die Existenzvernichtungshaftung auch nach Auffassung
derer eröffnet sein, die grundsätzlich einen Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften bejahen.691
An dem zuletzt Gesagten zeigt sich auch, dass es bei der Frage nach der Vorrangigkeit der Kapitalerhaltungsvorschriften nicht um eine Begrenzung des Umfangs
der Gesellschafterhaftung geht. Denn auch nach diejenigen, die für einen Vorrang
der §§ 30, 31 GmbHG votieren, sehen die dort festgeschriebenen Rechtsfolgen ja
nicht als abschließend an. Im Rahmen eines Außenhaftungsmodells besteht die
Funktion des Vorrangs der Kapitalerhaltungsvorschriften vielmehr in erster Linie
darin, das in diesen Vorschriften verankerte Prinzip des mittelbaren Gläubigerschutzes soweit wie möglich aufrecht zu erhalten und die Durchgriffshaftung als Ausnahme zu kennzeichnen. Nach der hier vertretenen Innenhaftungslösung besteht
jedenfalls kein wie auch immer gearteter Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften
gegenüber der Existenzvernichtungshaftung.692 Die beiden Institute sind vielmehr
nebeneinander anwendbar und ergänzen einander.693
D. Verhältnis zur Insolvenzanfechtung nach den §§ 129 ff InsO
Ist neben den Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung (wie häufig) zugleich ein Anfechtungstatbestand nach den §§ 130 ff InsO verwirklicht, stellt sich
die Frage, in welchem Verhältnis der gegen die Gesellschafter gerichtete Schadenersatzanspruch wegen Existenzvernichtung zu anfechtungsrechtlichen Rückgewähran-
690 Näher zur Begrenzung des Schadensersatzes unten 5. Kapitel A.
691 BGH Urt. v. 17. 9. 2001 - II ZR 178/99 - BGHZ 149, 10, 16 („Bremer-Vulkan“); BGH
Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 187 („KBV“); aus der Literatur etwa
Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 421 ff.
692 So für sein neues Haftungskonzept jetzt ausdrücklich auch der BGH in der „Trihotel“-
Entscheidung, BGH, Urt. v. 16.07.2007 II ZR 3/04 – NJW 2007, 2689, 2693 Rn. 38 ff.
693 Ebenso BGH, Urt. v. 16.07.2007 II ZR 3/04 – NJW 2007, 2689, 2693 Rn. 40; Roth/ Altmeppen- Altmeppen, GmbHG 4. A. (2003), Anh. § 13 Rn. 161; ders., ZIP 2002, 1553,
1559; in Auseinandersetzung mit dem Durchgriffskonzept des BGH ebenso Diem, ZIP
2003, 1283, 1285; Bruns, WM 2003, 815, 821.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.