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bei der Konkretisierung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hinsichtlich der
Höhe der Beteiligung des jeweiligen Gesellschafters und seiner Stellung innerhalb
der GmbH zu differenzieren.616 Von einem Anlagegesellschafter, der nur ganz vereinzelt oder gar nicht geschäftsleitend tätig geworden ist, kann nicht ohne weiteres
angenommen werden, dass er die Gefahr der Existenzvernichtung hätte erkennen
müssen.617 Eine umfassende Informationspflicht des Gesellschafters bezüglich der
Finanzsituation der Gesellschaft besteht jedenfalls nicht. Je mehr ein Gesellschafter
jedoch auf die Unternehmensführung Einfluss nimmt, desto eher kann von ihm verlangt werden, dass er die Auswirkungen der Desinvestitionsmaßnahme mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes einzuschätzen hat. Für einen Gesellschafter,
der zugleich Geschäftsführer ist, gilt in Angelegenheiten, die die Geschäftsführung
betreffen, der Maßstab des § 43 GmbHG.618 Er hat also die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden. Das gilt auch für die Ausübung seines
(mitgliedschaftlichen) Stimmrechts in der Gesellschafterversammlung, soweit Geschäftsführungsangelegenheiten zur Abstimmung stehen.619 § 280 Abs. 1 BGB kehrt
dabei die Beweislast hinsichtlich des Verschuldens (nicht hingegen in Bezug auf die
objektive Pflichtwidrigkeit) zu Lasten des Gesellschafters um.
E. Insolvenz der Gesellschaft
War bislang stets vom existenzvernichtenden Eingriff die Rede, so stellt sich die
Frage, unter welchen Voraussetzungen von Existenzvernichtung gesprochen werden
kann. Fraglich ist dabei insbesondere, ob Haftungsvoraussetzung tatsächlich die
Existenzvernichtung der Gesellschaft ist (also die Herbeiführung der Insolvenz der
Gesellschaft) oder ob schon die Existenzgefährdung die Haftung der Gesellschafter
begründen kann. Einige Stimmen in der Literatur wollen bereits die Existenzgefährdung ausreichen lassen.620 Dafür spricht, dass der Eintritt der Insolvenz als bloßes
616 Falkenstein, Grenzen für die Entnahmerechte der GmbH-Gesellschafter (1992), S. 253 f;
Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 110 f; die Anwendung von § 43 GmbHG analog ist abzulehnen, weil es nicht um organschaftliche,
sondern um mitgliedschaftliche Pflichten geht; etwas anderes gilt nur für einen Gesellschafter, der zugleich Geschäftsführer ist, in Angelegenheiten, die die Geschäftsführung
betreffen, dazu sogleich.
617 So auch Falkenstein, Grenzen für die Entnahmerechte der GmbH-Gesellschafter (1992),
S. 254.
618 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 110 f; ders., ZGR
1994, 570, 592.
619 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 110 f.
620 Wiedemann, ZGR 2003, 283, 293 f; in der Zeit vor den BGH- Entscheidungen zur Existenzvernichtungshaftung sahen diejenigen, die für die Anerkennung eines „Eigeninteresses“ der Gesellschaft plädierten, überwiegend schon die Existenzgefährdung als haftungsauslösend an, siehe etwa Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht
(1988), S. 204 f; ders., ZGR 1994, 570, 585 ff; Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 15. A.
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Erfolgsmoment für die Einordnung eines bestimmten Verhaltens als pflichtwidrig
bzw. missbräuchlich an sich keine Rolle spielt.621 Ob ein Verhalten pflichtwidrig
bzw. missbräuchlich ist, steht schon zum Zeitpunkt der Vornahme der betreffenden
Maßnahme fest. Entscheidend ist insofern die ex ante festzustellende Gefährlichkeit
der Maßnahme.622 Die Pflichtwidrigkeit kann nicht dadurch entfallen, dass die Gesellschaft aufgrund nachträglich eingetretener externer Umstände wider Erwarten
am Leben erhalten wird.623 Dem Ziel einer effektiven Verhaltenssteuerung entspräche es daher eher, schon die Existenzgefährdung ausreichen zu lassen.
Anderseits ergäben sich zusätzliche Abgrenzungsprobleme, wenn man auf die Insolvenzgefährdung abstellen würde. Das gilt insbesondere für den Zeitpunkt, ab dem
die Haftung der Gesellschafter einsetzen soll. Wollte man dafür den Zeitpunkt der
Vornahme der pflichtwidrigen Handlung maßgebend sein lassen, wäre die Haftung
auch dann schon begründet, wenn zu diesem Zeitpunkt nur eine geringe oder noch
gar keine Vermögensminderung bei der Gesellschaft eingetreten ist und der wirtschaftliche Zusammenbruch erst in einiger zeitlicher Entfernung droht. Setzt man
hingegen einen bestimmten Gefährdungserfolg voraus, ergibt sich die Schwierigkeit,
hier eine hinreichend scharfe Grenze zu ziehen.624
Für die Lösung letztlich ausschlaggebend sind indes folgende Überlegungen: Solange die Gesellschaft noch solvent ist, ist die Haftung der Gesellschafter zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger nicht erforderlich. Schon der Gedanke einer
möglichst behutsamen Rechtsfortbildung spricht dafür, die Gesellschafter erst dann
der Haftung auszusetzen, wenn dies zur Befriedigung der Gläubiger notwendig ist.
Hiervon gehen dann auch die §§ 43 Abs. 3 Satz 3, 31 Abs. 2 GmbHG aus:625 In
diesen Fällen ist die Ersatzpflicht des Geschäftsführers bzw. gutgläubigen Gesellschafters nur dann unverzichtbar, wenn sie zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist.
(2000), § 30 Rn. 5; Schnauder/ Müller-Christmann, JuS 1998, 980, 984 ff; Priester, ZGR
1993, 512, 521 ff; Emmerich/ Sonnenschein/ Habersack, Konzernrecht 7. A. (2001), § 30
V 2, S. 459; unklar hingegen Nissing, Eigeninteresse der Gesellschaft oder Liquidation
auf kaltem Wege? (1993), S. 114 ff.
621 So zu Recht Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 417, die im Ergebnis gleichwohl die Existenzvernichtung der Gesellschaft für erforderlich halten.
622 Dazu oben 4. Kapitel C.
623 Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 417.
624 Ähnliche Bedenken äußern Schrell/ Kirchner, BB 2003, 1451, 1456, die ein Abstellen auf
die Existenzgefährdung als ungeeignet ansehen, den Haftungsanspruch in der erforderlichen Klarheit zu beschreiben.
625 Hierauf verweisen Altmeppen, ZIP 2002, 1553, 1557 Fn. 60; Lutter/ Banerjea, ZGR 2003,
402, 417; hieraus eine allgemeine Wertung herzuleiten, ist allerdings insofern nicht ganz
unproblematisch, als § 31 Abs. 2 GmbHG lediglich den Sonderfall des gutgläubigen Leistungsempfängers betrifft, während die Ersatzpflicht nach § 31 Abs. 1 GmbHG gemäß § 31
Abs. 4 GmbHG auch dann unverzichtbar ist, wenn die Ersatzpflicht nicht zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich ist.
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Praktisch würden Ansprüche gegen die Gesellschafter regelmäßig wohl ohnehin
erst nach dem tatsächlichen Eintritt der Insolvenz geltend gemacht. Denn solange
die Gesellschaft (auch ohne Ansprüche gegen ihre Gesellschafter) solvent ist, besteht kein Anlass (unmittelbar oder mittelbar) auf deren Vermögen zuzugreifen.626
Zudem wird oftmals erst der Insolvenzverwalter die Existenz solcher Ansprüche
aufspüren. Davon abgesehen kommt der Existenzvernichtungshaftung auch dann
eine verhaltenssteuernde Wirkung zu, wenn man den tatsächlichen Eintritt der Insolvenz zur Voraussetzung macht, da die Verhaltensanforderungen an die Gesellschafter dieselben bleiben. Im Ergebnis ist daher als Haftungsvoraussetzung der
wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesellschaft und somit ein bestimmter Verletzungserfolg zu verlangen.627 Der wirtschaftliche Zusammenbruch - also die Insolvenz der Gesellschaft - ist dabei ein weiteres neben die Pflichtverletzung tretendes
Tatbestandsmerkmal. Diese beiden Tatbestandsmerkmale stehen freilich nicht beziehungslos nebeneinander, vielmehr muss die Insolvenz gerade auf der Pflichtverletzung beruhen.
Zu klären bleibt, ab welcher Grenze von der Insolvenz bzw. dem wirtschaftlichen
Zusammenbruch der Gesellschaft gesprochen werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Grenze, von der ab die Existenzvernichtungshaftung eingreifen
soll, einfach zu handhaben und für jedermann klar erkennbar sein muss.628 Daher
kann der Eintritt der (aufwendig zu ermittelnden) materiellen Insolvenz nicht das
entscheidende Kriterium sein. Für die Existenzvernichtungshaftung ist vielmehr erst
dann Raum, wenn bereits ein vergeblicher Vollstreckungsversuch bei der GmbH
unternommen wurde oder das Insolvenzverfahren eröffnet bzw. die Eröffnung mangels Masse abgelehnt wurde.629
Nicht erforderlich ist dagegen, dass der Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren
die Zerschlagung des Unternehmens betreibt.630 Eine solche Einschränkung würde
626 So auch Altmeppen, ZIP 2002, 1553, 1557; Röhricht, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 83,
113 f.
627 So auch der BGH sowohl für sein bisheriges Durchgriffskonzept (BGH Urt. v. 24. 6. 2002
- II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 186 ff ) als auch für sein neues bei § 826 BGB angesiedeltes Haftungsmodell (BGH, Urt. v. 16.07.2007 II ZR 3/04 - NJW 2007, 2689, 2691, Rz.
24); wie hier, neben den in der vorigen Fußnote Genannten, etwa auch Roth, NZG 2003,
1081 1082; Vetter, ZIP 2003, 601, 602; Bruns, WM 2003, 815, 820; Lutter/ Banerjea,
ZGR 2003, 402, 417; Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), §
13 Rn. 18.
628 So - in Auseinandersetzung mit dem inzwischen aufgegebenen Durchgriffskonzept des
BGH, bei dem das Bedürfnis nach einer klaren Grenzziehung noch dringlicher war - auch
Haas, WM 2003, 1929, 1937.
629 Haas, WM 2003, 1929, 1937; Henze, NZG 2003, 649, 65,7 jeweils wiederum in Auseinandersetzung mit dem Durchgriffskonzept.
630 So aber Bruns, WM 2003, 815, 820.
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die Möglichkeit der Sanierung ohne Not auch dort ausschließen, wo sie nach den
Interessen der Verfahrensbeteiligten die beste Lösung wäre.631
Die Existenzvernichtungshaftung wird schließlich auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Gesellschaft schon vor dem Eingriff überschuldet und damit
materiell insolvent war. Neben der Insolvenzverursachung kann nämlich auch die
Insolvenzvertiefung haftungsauslösend sein.632 Auch hier greift die Existenzvernichtungshaftung ein, sobald bereits ein vergeblicher Vollstreckungsversuch bei der
GmbH unternommen wurde oder das Insolvenzverfahren eröffnet bzw. die Eröffnung mangels Masse abgelehnt wurde.
F. Kausalität und Beweislast
Der existenzvernichtende Eingriff muss die Insolvenz der Gesellschaft verursacht
haben, bzw. die bereits eingetretene materielle Insolvenz der Gesellschaft vertieft
haben. Mitursächlichkeit reicht dabei aus. Der existenzvernichtende Eingriff muss
also nicht die alleinige Ursache für die Insolvenz bzw. für die Insolvenzvertiefung
gewesen sein. Dabei kann auch ein längerer Zeitraum zwischen Eingriff und Insolvenzeintritt liegen, solange nur die (Mit-) Ursächlichkeit des Eingriffs belegt ist. Der
Nachweis eines konkreten Zusammenhangs wird allerdings umso schwerer werden,
je mehr Zeit seit dem Eingriff des Gesellschafters vergangen ist. Insbesondere auf
die Gesellschaft einwirkende externe Einflüsse - wie vor allem die Entwicklung der
Konjunktur - gewinnen im Lauf der Zeit mehr und mehr an Gewicht. Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Gesellschaft hinsichtlich der Darlegungsund Beweislast Erleichterungen zu gewähren sind. Ein Teil der Literatur will hier
die Darlegungs- und Beweislastregel aus dem „TBB“-Urteil633 auf die Existenzvernichtungshaftung übertragen.634 Andere sehen die Übertragung der „TBB“-Regel
immerhin dann (aber auch nur dann) als gerechtfertigt an, wenn es sich bei der
GmbH um eine abhängige GmbH handelt.635
Die „TBB“-Regel begründet ausdrücklich keine vollständige Umkehr der Darlegungs- und Beweislast, sondern gewährt lediglich Erleichterungen hinsichtlich der
631 Zu den Möglichkeiten des Insolvenzplans, der grundsätzlich allen privatautonomen Regelungen offen steht und damit nicht nur der Sanierung, sondern auch der Erleichterung und
Verbesserung der Liquidation dienen kann eingehend Häsemeyer, Insolvenzrecht 3. A.
(2003), Kap. 28, S. 686 ff.
632 Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 13 Rn. 18; Lutter/
Banerjea, ZGR 2003, 402, 418; Görner/ Kling, GmbHR 2004, 778, 780.
633 BGH Urt. v. 29. 3. 1992 - II ZR 265/91 - BGHZ 122, 123, 123 ff.
634 Lutter/ Banerjea, ZGR 2003, 402, 417; Keßler, GmbHR 2002, 945, 950 f.
635 Drygala, GmbHR 2003, 729, 737 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.