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denselben Inhalt und der eine kann nicht als Begründung für den anderen herangezogen werden. Der Begriff des Eigeninteresses ist daher im Grunde verzichtbar. Ihm
kommt keinerlei Erklärungswert zu.
5. Zwischenergebnis
Dem Begriff des „Eigeninteresses“ kommt kein eigenständiger Begründungswert zu.
Die allein entscheidende Frage lautet, ob den Gesellschaftern existenzvernichtende
Maßnahmen verboten sind. Die aus diesem Verbot folgende Pflicht existenzvernichtende Maßnahmen zu unterlassen, wäre dann, wie oben gezeigt,487 Teil der mitgliedschaftlichen Sonderbeziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft. Eine Verletzung dieser Pflicht hätte nach § 280 BGB eine Verpflichtung zum Schadensersatz
zur Folge. Dabei ist klar, dass sich ein derartiges Verbot aus dem GmbHG nicht
ohne weiteres quasi als schon immer geltendendes Recht „ablesen“ lässt.488 Es geht
vielmehr darum, im GmbHG nach normativen Anhaltspunkten zu suchen, die die
Entwicklung eines solchen Verbots im Wege der Rechtsfortbildung gestatten.489
IV. Normative Anhaltspunkte für die Entwicklung eines Existenzvernichtungsverbots
1. Kapitalerhaltungsvorschriften
In der Literatur ist versucht worden, ein Verbot existenzvernichtender bzw. existenzgefährdender Eingriffe aus Sinn und Zweck der Kapitalerhaltungsvorschriften
zu entwickeln.490 Dabei vermag die Einbeziehung existenzgefährdender Auszahlungen in den Anwendungsbereich der §§ 30, 31 GmbHG, wie an anderer Stelle bereits
dargelegt, zwar nicht zu überzeugen.491 Das schließt es allerdings noch nicht aus,
dass aus dem mit den Kapitalerhaltungsvorschriften verfolgten Zweck eine neben
das Kapitalerhaltungsgebot des § 30 GmbHG tretende Dispositionsschranke entwickelt werden kann. Diesen Weg will Mülbert gehen.492
487 2. Kapitel D I.
488 Versteegen, Konzernverantwortung und Haftungsprivileg (1993), S. 90.
489 Winter, ZGR 1994, 570, 586.
490 Fleck, ZGR 1990, 31, 36 ff; ders. FS 100 Jahre GmbHG (1992), S. 391, 398 ff; Mülbert,
DStR 2001, 1937, 1942; Priester, ZGR 1993, 512, 525.
491 Siehe oben 1. Kapitel A II.
492 DStR 2001, 1937, 1941 ff.
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Er sieht die ratio der Kapitalerhaltungsvorschriften in der Insolvenzprophylaxe:
Das Stammkapital habe als Risikopuffer einen präventiv gläubigerschützenden
Zweck. Den §§ 30, 31 GmbHG gehe es im Kern darum, die insolvenzprophylaktische Wirkung des Stammkapitals zu effektuieren und damit die Wahrscheinlichkeit
der Insolvenz der GmbH auf ein die Interessen der Gläubiger angemessen berücksichtigendes Maß zu reduzieren.493 Vor diesem Hintergrund seien die Kapitalerhaltungsvorschriften als Ausdruck der gesetzgeberischen Vermutung zu verstehen, dass
sich der vom Gesetz als unvermeidbar akzeptierte Wahrscheinlichkeitswert für den
Eintritt der Insolvenz solange nicht signifikant erhöhe, wie das zur Stammkapitaldeckung erforderliche Vermögen nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werde.494 Oder
diese gesetzgeberische Vermutung anders formuliert: Der durch die §§ 30, 31
GmbHG erreichte Vermögensschutz gewährleiste, dass die Insolvenzwahrscheinlichkeit den vom Gesetzgeber selbst als unvermeidbar akzeptierten Wert nicht signifikant übersteige. Soweit nun aber dieser Vermutungszusammenhang zwischen
Stammkapitalschutz und Insolvenz-wahrscheinlichkeit tatsächlich nicht gelte, sei ein
weitergehender Schutz des Gesellschaftsvermögens gegenüber Einwirkungen ihrer
Gesellschafter geboten.495 Der auf Insolvenzprophylaxe gerichtete Zweck der §§ 30,
31 GmbHG fordere also, den Gesellschaftern jede nachteilige Einwirkung auf die
Gesellschaft zu verbieten, die deren wirtschaftliche Existenz manifest gefährde und
damit die Insolvenzwahrscheinlichkeit signifikant erhöhe.496
Zugestimmt werden kann Mülbert insofern, als er davon ausgeht, dass der Gesetzgeber mit den Kapitalerhaltungsvorschriften (zusammen mit den Kapitalaufbringungs-vorschriften) das Ziel verfolgt hat, das Insolvenzrisiko der GmbH abzumildern. Das Stammkapital hat (unter anderem) die Funktion eines „Risikopolsters“
und soll dafür sorgen, dass die Gläubiger mit gewisser Wahrscheinlichkeit eine
Deckungsmasse für ihre Forderungen vorfinden.497 Problematisch ist aber, ob der
hinter den Kapitalerhaltungsvorschriften stehende Zweck der Insolvenzprophylaxe
verselbständigt und zu einem Verbot existenzvernichtender bzw. existenzgefährdender Maßnahmen verallgemeinert werden kann. Die §§ 30, 31 GmbHG schützen
einen bestimmten Vermögensstock vor Auszahlungen an die Gesellschafter. Dabei
orientieren sich diese Vorschriften, wie gesehen, an einer festen, im Handelsregister
493 Mülbert, DStR 2001, 1937, 1942.
494 Mülbert, DStR 2001, 1937, 1942.
495 Mülbert, DStR 2001, 1937, 1942.
496 Diese Argumentation hat nicht zwingend zur Folge, dass schon die Existenzgefährdung
und nicht erst die Existenzvernichtung (Eintritt der Insolvenz) den haftungsbegründenden
Tatbestand darstellt; Mülbert, DStR 2001, 1937, 1942 hält eine Existenzgefährdung für
ausreichend; näher dazu unten 4. Kapitel E.
497 Weitbrecht, Haftung der Gesellschafter bei materieller Unterkapitalisierung der GmbH
(1990), S. 13; Wiedemann, Gesellschaftsrecht (1980), § 10 IV 1b, S. 557; siehe auch den
Entwurf zum GmbHG, Amtliche Ausgabe (1891), S. 39, nach dem das Stammkapital „den
dauernden Grundstock des Unternehmens und zugleich ein bestimmtes Befriedigungsobjekt für die Gesellschaftsgläubiger bildet“.
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publizierten und relativ einfach zu handhabenden Grenze.498 Anknüpfungspunkt für
die Zulässigkeit einer Entnahme aus dem Gesellschaftsvermögen ist diese feste
Grenze und gerade nicht die mit der Entnahme verbundene Insolvenzgefahr selbst.
Der Gesetzgeber hat sich mit den §§ 30, 31 GmbHG also für ein System entschieden, dass auf prognostische Elemente weitgehend verzichtet. Daher ist zumindest
zweifelhaft, ob aus diesem starren Gläubigerschutzkonzept eine Dispositionsbeschränkung abgeleitet werden kann, die auf die mit einer bestimmten Maßnahme
verbundene Insolvenzgefahr abstellt und damit eine (oftmals schwer zu treffende)
Prognose gerade erforderlich macht. Diesbezüglich stellt sich eine Haftung für existenzgefährdende oder existenzvernichtende Eingriffe eher als Gegensatz zum Konzept der Kapitalerhaltungsvorschriften dar, denn als deren sinnentsprechende Fortentwicklung. Nicht zuletzt deshalb ist fraglich, ob den Kapitalerhaltungsvorschriften
nicht sogar eine Wertung entnommen werden muss, die gerade gegen die Anerkennung einer Existenzvernichtungshaftung spricht.499 Einen eindeutigen Ansatzpunkt
für die generelle Unzulässigkeit existenzgefährdender oder existenzvernichtender
Gesellschaftereingriffe liefern die §§ 30, 31 GmbHG jedenfalls nicht.
2. Liquidationsvorschriften (§§ 65 ff GmbHG)
Einen (eindeutigen) positivrechtlichen Anhaltspunkt für die Entwicklung einer
mitgliedschaftlichen Pflicht, existenzvernichtende bzw. existenzgefährdende Eingriffe zu unterlassen, könnten aber die Liquidationsvorschriften (§§ 65 ff GmbHG)
bieten. Von einer inzwischen weit verbreiteten Auffassung wird aus diesen Normen
ein Verbot der „Liquidation auf kaltem Wege“ abgeleitet.500 Auch in der Rechtspre-
498 Näher dazu oben 1. Kapitel A.
499 Ausführlich hierzu unten 3. Kapitel C.
500 Herausgearbeitet wurde dieser Gedanke insbesondere von Winter, Mitgliedschaftliche
Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 204 f; ders., ZGR 1994, 571, 585 ff; dem
(zumeist ohne Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenmeinung) folgend
Schnauder/ Müller-Christmann, JuS 1998, 980, 984 f; Priester, ZGR 1993, 512, 520 f,
527; Röhricht, FS 50 Jahre BGH (2000), S. 83, 97 ff; Parmentier, ZIP 2001, 551, 557;
Keßler, GmbHR 2002, 945, 950; Drygala, GmbHR 2003, 729, 730; Ziegler, WM 1989,
1041, 1044; Ziemons, Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH (1996), S. 129; Emmerich/ Sonnenschein/ Habersack, Konzernrecht 7. A. (2001), § 30 V 2, S. 459; Belling/ Steinau-Steinrück, SAE 1996, 253, 259;
Goette, ZHR Beiheft 70 (2001), S. 11, 22 f; Wodicka, Die Untreue zum Nachteil der
GmbH bei vorheriger Zustimmung aller Gesellschafter (1993), S. 249 ff, insbes. 252 f;
Eckhold, Materielle Unterkapitalisierung (2002), S. 444 ff; Hölzle, ZIP 2003, 1376, 1379;
Rowedder- Pentz, GmbHG 4. A. (2002), § 13 Rn. 109; Vetter, ZIP 2003, 601, 602; Wahl,
Die Haftung der GmbH-Gesellschafter wegen Existenzvernichtungshaftung (2005), S. 40
ff; Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung (2004), S. 144
f; vorher schon in diese Richtung Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht (1982), S.
256.
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chung des BGH zur Existenzvernichtungshaftung wurde mitunter auf diesen Gedanken abgestellt.501
Danach sollen der Alleingesellschafter bzw. die Gesellschaftergesamtheit die
Auflösung der Gesellschaft und die Desinvestition ihres gebundenen Vermögens nur
unter Einhaltung der weitgehend zwingenden Vorschriften der §§ 65 ff GmbHG
vornehmen dürfen.502 Zur Begründung wird insbesondere auf § 73 GmbHG verwiesen, nach dem die Verteilung des Liquidationserlöses erst nach Befriedigung oder
Sicherstellung aller Gläubiger und erst nach Ablauf eines Sperrjahres erlaubt sei.
Die Rechtsordnung stelle den Gesellschaftern ein geordnetes Verfahren zur Liquidation der Gesellschaft und zur Desinvestition ihres eingesetzten Kapitals zur Verfügung. Damit seien die Gesellschafter dann zwar hinsichtlich des „Ob“ einer Auflösung der Gesellschaft in ihrem Ermessen frei (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG), hinsichtlich des „Wie“ habe der Gesetzgeber mit den §§ 65 ff GmbHG jedoch zwingende
Schutzvorschriften zugunsten der Gläubiger normiert.503 Ein Vermögensabzug,
durch den die wirtschaftliche Existenz der Gesellschaft bedroht bzw. vernichtet
werde, stelle nun als de-facto-Liquidation (oft bezeichnet als „Liquidation auf kaltem Wege“) eine Umgehung dieser zwingenden Vorschriften dar und sei daher unzulässig. Hiernach wären die Gesellschafter, solange sie sich nicht zur Liquidation
nach §§ 65 ff GmbHG entschließen, zur Respektierung der wirtschaftlichen Existenzfähigkeit der Gesellschaft verpflichtet. Existenzgefährdende bzw. existenzvernichtende Eingriffe wären ihnen mithin verboten.
Dieser Begründungsansatz hat in der Literatur Widerspruch erfahren.504 Zum einen wird vorgebracht, die Funktion der Liquidationsvorschriften lasse sich nicht
isoliert ermitteln, sondern zeige sich erst in der Zusammenschau mit der Insolvenzantragspflicht und den Regeln über das Insolvenzverfahren.505 Der Gesetzgeber habe
zwei Verfahrensalternativen bereitgestellt, um je nach dem noch vorhandenen Gesellschaftsvermögen optimalen Gläubigerschutz zu gewährleisten. Regeln zum
Schutz der Gläubiger seien damit sowohl bei einer Abwicklung nach §§ 65 ff
501 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 186 („KBV“); BGH Urt. v. 20.
9. 2004 - II ZR 302/02 - NJW 2005, 145, 146 („Klinik“).
502 Winter, ZGR 1994, 571, 586; Priester, ZGR 1993, 512, 520 f.
503 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 204; ders., ZGR
1994, 571, 586.
504 Mülbert, DStR 2001, 1937, 1941 f; Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1066; Ziche, Die
Verweisung des § 35 Abs. 4 GmbHG auf das Verbot der Vornahme von Insichgeschäften
(1991), S. 125 ff; Möhring, Schutz der Gläubiger einer konzernabhängigen GmbH (1992),
S. 85 ff; kritisch auch Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995), S. 81 ff; Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S. 113 ff; Bruns, WM 2003, 815, 817; Grigoleit, Gesellschafterhaftung für
interne Einflussnahme im Recht der GmbH (2006), S. 283 ff; Rubner, „Solvat socius“ statt
„caveat creditor“? (2005), S. 27 f, 147 f.
505 Mülbert, DStR 2001, 1937, 1941; ebenso zuvor schon Möhring, Schutz der Gläubiger
einer konzernabhängigen GmbH (1992), S. 85 f.
117
GmbHG als auch bei einer Abwicklung im Insolvenzverfahren vorhanden. Ein geordnetes Verfahren zum Schutz der Gläubiger finde also in jedem Fall statt, von
einer „Umgehung“ zwingender Gläubigerschutzvorschriften könne deshalb nicht
gesprochen werden.506
Zum anderen wird auf den rein verfahrensrechtlichen Charakter der Liquidationsvorschriften verwiesen:507 Die §§ 65 ff GmbHG gewährleisteten Gläubigerschutz
durch Verfahren, indem sie sicherstellten, dass die Gläubiger bei der Verteilung des
Gesellschaftsvermögens Priorität genössen (siehe insbesondere § 73 GmbHG). Dieser Vorrang der Gläubiger beschränke sich aber zeitlich auf das Verteilungsverfahren nach Auflösung und gegenständlich auf das im Zeitpunkt der Auflösung tatsächlich vorhandene Gesellschaftsvermögen. Somit garantierten die Liquidationsvorschriften den Gläubigern nur dann ein sie schützendes Verfahren, wenn sich die
Gesellschafter zur Auflösung entschlössen. Sie garantierten aber kein bestimmtes
Volumen der Haftungsmasse. Vor diesem Hintergrund sei eine „kalte Liquidation“
gerade keine Liquidation nach §§ 65 ff GmbHG. Sie berühre den Regelungsbereich
dieser Vorschriften gar nicht, sondern sei nur ein vorgelagertes Abschmelzen dessen, was im Rahmen der Liquidation zur vorrangigen Verteilung an die Gläubiger
bereit stehe. Das Verhalten der Gesellschafter vor Eintritt des Abwicklungsfalles
spiele aus Sicht der Liquidationsvorschriften keine Rolle.508
Den Kritikern ist zuzugeben, dass der Gesetzgeber für die Abwicklung einer
GmbH nicht allein das Verfahren nach den §§ 65 ff GmbHG vorgesehen, sondern
als Alternative hierzu das Insolvenzverfahren zur Verfügung gestellt hat. Die Gesellschafter sind hinsichtlich des „Wie“ der Abwicklung also nicht auf das Verfahren nach §§ 65 ff GmbHG festgelegt. Unter den Voraussetzungen des § 64 Abs. 1
GmbHG besteht im Gegenteil sogar eine Pflicht (für die Geschäftsführer), Antrag
auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen. Beim Verbot der „Liquidation
auf kaltem Wege“ geht es aber auch gar nicht darum, die Gesellschafter unter bestimmten Voraussetzungen zur Liquidation nach §§ 65 ff GmbHG zu verpflichten.
Ebenso wenig geht es um die Erweiterung des zeitlichen oder gegenständlichen
Anwendungsbereichs der §§ 65 ff GmbHG. Die insofern von Hartmann509 vorgebrachten Bedenken sind daher unbegründet. Zu prüfen ist allein, ob sich aus den
Liquidationsvorschriften etwas für die Frage gewinnen lässt, inwieweit die Gesellschafter der GmbH außerhalb eines Liquidationsverfahrens nach §§ 65 ff GmbHG
existenznotwendiges Vermögen (bzw. existenznotwendige Geschäftschancen) entziehen dürfen. Es geht damit um die Frage nach der Reichweite der Befugnis zur
506 Möhring, Schutz der Gläubiger einer konzernabhängigen GmbH (1992), S. 85 f; ähnlich
Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995),
S. 82; Versteegen, Konzernverantwortlichkeit und Haftungsprivileg (1993), S. 113 ff,
nach denen den Gesellschaftern regelmäßig die Umgehungsabsicht fehle.
507 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1066.
508 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1066; Mülbert, DStR 2001, 1937, 1942.
509 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1066.
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Desinvestition des in der GmbH gebündelten Vermögens. Für diese Frage können
die Vorschriften über das Insolvenzverfahren aber außer Ansatz bleiben, weil zur
Desinvestition des eingesetzten Kapitals allein das Verfahren nach den §§ 65 ff
GmbHG geeignet ist. Denn im Insolvenzverfahren hat die Gesellschafterversammlung all ihre Organkompetenzen an den Insolvenzverwalter verloren (§ 80 InsO)510
und die Verteilung des Gesellschaftsvermögens an die Gesellschafter ist nur für den
eher theoretischen Fall vorgesehen, dass nach der Schlussverteilung an die Insolvenzgläubiger noch ein Vermögensüberschuss vorhanden ist (§ 199 Satz 2 InsO).
Was die Desinvestition im Liquidationsverfahren nach §§ 65 ff GmbHG betrifft,
so bestimmt hier § 73 GmbHG, dass die Verteilung des Gesellschaftsvermögens erst
nach Befriedigung oder Sicherstellung aller Gläubiger und erst nach Ablauf eines
Sperrjahres erlaubt ist. Die Auflösung muss zudem zu drei verschiedenen Zeitpunkten öffentlich bekannt gemacht werden, in der Bekanntmachung sind die Gläubiger
zur Geltendmachung ihrer Forderungen aufzufordern (§ 65 Abs. 2 GmbHG). Für
eine zur Beendigung der Gesellschaft führende Desinvestition sieht das Gesetz also
ein zwingendes Verfahren vor, das die vorrangige Befriedigung der Gläubiger gewährleistet. Dieser Umstand ist dann aber deutliches Indiz dafür, dass der Gesetzgeber eine existenzvernichtende und damit zur faktischen Beendigung der Gesellschaft
führende Desinvestition des eingesetzten Kapitals außerhalb des Verfahrens nach §§
65 ff GmbHG gerade nicht zulassen wollte. Wenn der Gesetzgeber für ein bestimmtes Gesellschafterhandeln - nämlich die zur (faktischen) Beendigung der Gesellschaft führende Desinvestition - ein Verfahren mit besonderen Kautelen zum Schutz
der Gläubiger bereit stellt, ist nicht davon auszugehen, dass er dieses Gesellschafterhandeln auch außerhalb dieses Verfahrens erlauben wollte. Ansonsten liefe der mit
diesen Vorschriften bezweckte Schutz weitgehend leer. Diese Sichtweise lässt sich
zudem durch den Gedanken stützen, dass es eine gewisse Widersprüchlichkeit im
Verhalten der Gesellschafter bedeutet, wenn sie die Gesellschaft formal als werbende weiter betreiben, sie aber faktisch liquidieren.511
Dass die Liquidationsvorschriften kein bestimmtes Volumen der Haftungsmasse
garantieren, steht diesem Ergebnis jedenfalls nicht entgegen. Die Gesellschafter
sollen ja nicht verpflichtet werden, für ein bestimmtes Volumen der Haftungsmasse
zu sorgen. Ihnen soll lediglich die existenzvernichtende Desinvestition außerhalb
des die vorrangige Befriedigung der Gläubiger sichernden Verfahrens nach §§ 65 ff
GmbHG verboten werden. Die Liquidationsvorschriften sind also normativer Anhaltspunkt dafür, dass die Dispositionsfreiheit der Gesellschafter zwar nicht allge-
510 Im Falle der Anordnung der Eigenverwaltung unter Sachwalteraufsicht verbleiben der
Gesellschafterversammlung ihre Kompetenzen im Wesentlichen (§§ 270, 274 ff InsO);
zur Desinvestition ist es gleichwohl nicht geeignet.
511 So Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH
(1995), S. 83; grundsätzlich können sich die Gesellschafter allerdings, wie oben (2. Kapitel D II 4-6) gezeigt, für jeden Einzelfall von der Bindung an den Gesellschaftszweck befreien.
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mein hinsichtlich des „Wie“ der Abwicklung beschränkt ist,512 aber doch hinsichtlich des „Wie“ einer zur (faktischen) Beendigung der Gesellschaft führenden Desinvestition.
V. Zwischenergebnis
Die in den Liquidationsvorschriften der §§ 65 ff GmbHG enthaltene Wertung
spricht also dafür, dass die Gesellschafter einer mitgliedschaftlichen Pflicht unterliegen, existenzvernichtende Eingriffe zu unterlassen. Die Anerkennung einer solchen
Pflicht könnte allerdings wegen einer entgegenstehenden abschließenden gesetzlichen Regelung gleichwohl ausgeschlossen sein. Zum einen könnten die §§ 30, 31
GmbHG als Ausdruck des gesetzgeberischen Willens zu verstehen sein, dass die
Dispositionsbefugnis der Gesellschaftergesamtheit über das Gesellschaftsvermögen
in der werbenden Gesellschaft oberhalb der Grenze der §§ 30, 31 GmbHG unbeschränkt sein soll.513 Die Gläubiger einer GmbH hätten dann im Grundsatz nicht
mehr als die Erhaltung des Stammkapitals zu erwarten.514 Zum anderen könnten die
Folgen von Vermögensverschiebungen im Vorfeld der Insolvenz im Anfechtungsrecht der InsO und des AnfG (ergänzt durch die Erstattungspflicht des GmbH-
Geschäftsführers nach § 64 Abs. 2 GmbHG) eine abschließende gesetzliche Regelung gefunden haben.515
E. Ergebnis 2. Kapitel
Als Ergebnis dieses Abschnitts lässt sich damit festhalten, dass als Grundlage eines
Existenzvernichtungsverbots allein die mitgliedschaftliche Sonderrechtsbeziehung
zwischen Gesellschafter und Gesellschaft in Betracht kommt. Folge einer Verletzung der Pflichten aus dieser Sonderrechtsbeziehung durch die Gesellschafter ist
grundsätzlich nach § 280 BGB die Verpflichtung zum Schadensersatz gegenüber der
Gesellschaft. Einen normativen Anhaltspunkt dafür, dass den Gesellschaftern existenzvernichtende Eingriffe verboten sein sollen, liefern die Liquidationsvorschriften.
Die rechtsfortbildende Entwicklung eines Existenzvernichtungsverbotes aus diesen
512 Insofern bleibt es den Gesellschafter unbenommen, die Gesellschaft bis zur Insolvenzantragspflicht als werbende weiterzuführen und die Gesellschaft dann im Insolvenzverfahren
abzuwickeln.
513 Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), Anh. KonzernR Rn. 83; Vonnemann
BB 1990, 217, 219 f; Wilhelmi, DZWIR 2003, 45, 52 ff.
514 Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), Anh. KonzernR Rn. 83.
515 So Nasall, ZIP 2003, 969, 972 ff, 976.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.