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nicht mit dem Begriff der Sonderverbindung selbst erklärt werden, sondern bedarf
einer eigenständigen Begründung. Dafür gilt es, die mitgliedschaftliche Sonderverbindung zwischen Gesellschafter und GmbH im Folgenden näher zu untersuchen.
II. Treuepflicht
Eine Pflicht aus der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung zwischen Gesellschafter
und GmbH stellt die so genannte (mitgliedschaftliche) Treuepflicht dar,432 die sich
gerade aus der Mitgliedschaft als Teilhabe an der juristischen Person ergibt. Dabei
braucht hier nicht erörtert zu werden, inwieweit Treuebindungen auch unmittelbar
zwischen den GmbH-Gesellschaftern bestehen.433 Hier geht es von vornherein nur
um die Treuebindung der Gesellschafter gegenüber der GmbH. Zu prüfen ist, ob
sich aus dieser Treuebindung gegenüber der GmbH etwas für die Entwicklung eines
Existenzvernichtungsverbotes gewinnen lässt.
Die Treuepflicht ist nicht als klar umrissener Pflichtenkatalog für die Gesellschafter zu verstehen, unter den es einzelne Fallkonstellationen lediglich zu subsumieren
gilt. Sie ist vielmehr generalklauselartiger Oberbegriff für ein Bündel verschiedener
mitgliedschaftlicher Förder- und Loyalitätspflichten.434 Allgemein gesprochen geht
es bei der Treuepflicht um die Ausrichtung des internen Gesellschaftsrechts auf ein
harmonisches Zusammenwirken aller Beteiligten zur Erreichung des Gesellschaftszwecks.435 Die Treuepflicht hat die Funktion, die Gesellschafter bei der Ausübung
ihrer durch das Gesetz oder den Gesellschaftsvertrag eingeräumten vielfältigen Einflussmöglichkeiten zur Rücksichtnahme auf die Belange der Gesellschaft und der
Mitgesellschafter zu verpflichten. Es geht dabei weniger um den Schutz des dem
einzelnen Gesellschafter konkret entgegengebrachten Vertrauens, als vielmehr um
die Kontrolle jener mit der Zuweisung verbandsinterner Kompetenzen notwendig
verbundenen Einflussmöglichkeiten auf fremde Interessen.436 Sie dient insbesondere
auch der Inhaltskontrolle von Mehrheitsentscheidungen und ist insofern (auch) ein
Instrument des Minderheitenschutzes in der GmbH.437
432 Die mitgliedschaftliche Treuepflicht ist also Teil des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses, K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4. A. (2002), § 20 IV 1 b, S. 588; Eckhold, Materielle Unterkapitalisierung (2002), S. 399.
433 Ausführlich dazu Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S.
67 ff, 130 ff.
434 So auch Wiedemann, FS Heinsius (1991), S. 949, 949 f; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4.
A. (2002), § 20 IV 1, S. 588 f.; Baumbach/ Hueck- Hueck/ Fastrich, GmbHG 17. A.
(2000), § 13 Rn. 22.
435 Wiedemann, FS Heinsius (1991), S. 949, 949.
436 Dies hat vor allem Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den
privatrechtlichen Personenverbänden (1963), S. 335 ff, insbes. S. 341 und 343 herausgearbeitet und ist heute weitestgehend anerkannt, siehe etwa Winter, Mitgliedschaftliche
Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 16 ff; ders, ZGR 1994, 570, 581.
437 Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen
Personenverbänden (1963), S. 335 ff; Lutter, ZHR 162 (1998), 164, 167; Wiedemann, Ge-
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Die Treuepflicht untersagt den Gesellschaftern grundsätzlich jede (ex ante erkennbar) gesellschaftsschädigende Einflussnahme auf die Geschäftsführung.438 Damit sind dann auch existenzvernichtende Eingriffe durch die Treuepflicht verboten.
Problematisch ist aber, ob die Treuebindung gegenüber der GmbH auch dann noch
besteht, wenn alle Gesellschafter der gesellschaftsschädigenden Maßnahme zugestimmt haben oder wenn gar keine Mitgesellschafter existieren. Das Grundproblem
bei der Anwendung des Treuepflichtgedankens in diesen Fällen liegt darin, dass die
Treuepflicht nach ihrer Herleitung und Begründung ausschließlich an das Innenverhältnis adressiert ist und nur reflexartig Gläubigerschutz bewirkt.439 Wollte man
auch den Alleingesellschafter bzw. die einvernehmlich handelnde Gesellschaftergesamtheit Treuebindungen unterwerfen, hätte diese Treuebindung aber ausschließlich
gläubigerschützende Funktion.
1. Treuebindung gegenüber der GmbH als Bindung an den Gesellschaftszweck
Die Diskussion um die Treuebindung der Gesellschafter wird von zahlreichen Missverständnissen belastet, die zu einem Gutteil darauf beruhen, dass die Vorstellung
einer Verpflichtung zur „Treue“ gegenüber einem Zweckgebilde wie dem der
GmbH schwer fällt.440 Das zeigt sich etwa an der Formulierung, dass in der Einmanngesellschaft die Annahme einer Treuepflicht schon deshalb ausgeschlossen sei,
weil es an einem tauglichen Inhaber des Anspruchs auf Treue fehle.441 Es ist aber
unbestreitbar und auch allgemein anerkannt, dass die GmbH nicht nur gegenüber
Dritten, sondern auch gegenüber den Gesellschaftern rechtlich verselbständigt ist,
sellschaftsrecht (1980), § 8 I, S. 404 ff; die Treuepflicht kann aber auch die (über eine
Sperrminorität verfügende) Minderheit zu einem bestimmten Verhalten verpflichten (etwa
zur Zustimmung zu einer Satzungsänderung); siehe dazu etwa das - allerdings umstrittene
- „ Girmes“-Urteil (BGH Urt. v. 20. 3. 1995 - II ZR 205/94 - BGHZ, 129, 136, 136 ff) zur
Treuepflicht des Minderheitsaktionärs.
438 Im Grundsatz wohl unbestritten, siehe etwa Baumbach/ Hueck- Hueck/ Fastrich, GmbHG
17. A. (2000), § 13 Rn. 27; Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Bayer, GmbHG 16. A. (2004), §
14 Rn. 22; Rowedder- Pentz, GmbHG 4. A. (2002), § 13 Rn. 36; Hachenburg- Raiser,
GmbHG 8. A. (1992), § 14 Rn. 52 ff; Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im
GmbH-Recht (1988), S. 105 ff.
439 Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995),
S. 59.
440 Teilweise wird der Begriff der Treuepflicht daher generell abgelehnt, so insbesondere
Flume, Die Juristische Person (1983), § 8 I, S. 258 ff; ders. ZIP 1996, 161, 161 ff; ferner
Gätsch, Gläubigerschutz im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern (1997), S. 129; andere halten den Begriff der Treuepflicht immerhin für entbehrlich, so etwa Roth/ Altmeppen- Altmeppen, GmbHG 4. A. (2003), § 13 Rn. 61 ff: „allgemeine Charakterisierung der
Gesellschafterstellung ohne spezifischen Aussagegehalt“.
441 So Bitter, WM 2001, 2133, 2139; ähnlich ders., Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei
Personengesellschaften (2000), S. 317.
102
womit sie dann auch einen tauglichen Anspruchsinhaber darstellt.442 Die Diskussion
wird klarer, wenn man sich zunächst von dem Fehlvorstellungen provozierenden
Begriff der Treuepflicht löst und ihn durch das ersetzt, was die Treuebindung der
Gesellschafter gegenüber der GmbH ihrem wesentlichen inhaltlichen Gehalt nach
bedeutet, nämlich die Bindung der Gesellschafter an den Gesellschaftszweck.443
Dabei kann letztlich offen bleiben, ob mit der Bindung an den Gesellschaftszweck
tatsächlich alle Aspekte der Treuebindung gegenüber der Gesellschaft erfasst sind.
Im hier interessierenden Zusammenhang geht es jedenfalls allein um diese Zweckbindung.
2. Grundsätzliches zur Bindung an den Gesellschaftszweck
Der Gesellschaftszweck bildet nicht nur für die Geschäftsführer, sondern auch für
die Gesellschafterversammlung und jeden einzelnen Gesellschafter eine verbindliche
Verhaltensrichtlinie. An ihr haben sich die Gesellschafter bei der Ausübung ihrer
Mitgliedschaftsrechte zu orientieren. Vom Gesellschaftszweck zu unterscheiden ist
der Unternehmensgegenstand, der den konkreten Tätigkeitsbereich der Gesellschaft
bezeichnet. Der Gesellschaftszweck lässt sich in einem weiten Sinne verstehen, der
den Unternehmensgegenstand mit einschließt: Der Zweck ist dann definiert als die
Erreichung des Formalziels durch die im Unternehmensgegenstand bezeichnete
Tätigkeit.444 Oder man kann den Zweck allein in einem engeren Sinne, ausschließlich als Erreichung des Formalziels verstehen.445 Eine verbindliche Verhaltensricht-
442 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1062; näher zur Treuebindung des Alleingesellschafters
sogleich unten 2. Kapitel D II 3.
443 Dass der Inhalt der Treuepflicht wesentlich vom Gesellschaftszweck bestimmt wird,
dürfte weitestgehend anerkannt sein, siehe etwa Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17.
A. (2000), Anh. KonzernR Rn. 53a; Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im
GmbH-Recht (1988), S. 95 ff; Ulmer, ZHR 148 (1984), 391, 418 ff; Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995), S. 60 f; Ziemons,
Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH
(1996), S. 81 ff, insbes. 87; grundlegend Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher
Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden (1963), S.318 ff und 335
ff. Keinen wesentlichen sachlichen Unterschied bedeutet es, wenn man von der Bindung
an das Gesellschaftsinteresse spricht, da sich auch das Gesellschaftsinteresse maßgeblich
nach dem Gesellschaftszweck bestimmt.
444 So etwa Roth/ Altmeppen- Roth, GmbHG 4. A. (2003), § 1 Rn. 4; Ziemons, Die Haftung
der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH (1996), S. 89
ff; grundsätzlich auch Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Bayer, GmbHG 16. A. (2004), § 1 Rn.
3 „im Regelfall“.
445 So wohl Wiedemann, Gesellschaftsrecht (1980), § 3 I 3, S. 154 ff.
103
linie stellt der Unternehmensgegenstand jedenfalls auch dann dar, wenn man ihn
nicht als Bestandteil des Gesellschaftszwecks ansehen will.446
Im hier interessierenden Zusammenhang kommt aber vor allem dem Formalziel,
also dem Zweck im engeren Sinne Bedeutung als Verhaltensrichtlinie zu. Dieses
Formalziel muss, anders als der Unternehmensgegenstand nach § 3 Abs. 1 Nr. 2
GmbHG, nicht ausdrücklich in die Satzung aufgenommen werden. Gleichwohl ist
auch das Formalziel stets Bestandteil der Satzung und ist, wenn ausdrückliche Angaben fehlen, im Wege der Satzungsauslegung, insbesondere unter Berücksichtigung des Unternehmens-gegenstandes, zu ermitteln. Dabei ist das Formalziel regelmäßig, das heißt, sofern sich aus der Satzung keine entgegenstehenden oder abweichenden Anhaltspunkte ergeben, auf Gewinnerzielung gerichtet. Das macht z.B. die
Vorschrift des § 29 GmbHG deutlich, die die Gewinnverwendung regelt und damit
von der Erzielung eines Gewinns und einer darauf gerichteten Absicht ausgeht.447
An dieses satzungsmäßig festgelegte Formalziel sind die Gesellschafter gebunden.
Inwieweit diese Zweckbindung im Einzelfall aktive Förderpflichten zu konstituieren vermag, kann hier dahingestellt bleiben.448 Jedenfalls begründet sie die Pflicht,
Maßnahmen, die im Widerspruch zum Gesellschaftszweck stehen oder dessen Erreichung gefährden, zu unterlassen.449 Ist der Gesellschaftszweck auf Gewinnerzielung
gerichtet, verbietet die Zweckbindung den Gesellschaftern jede gesellschaftsschädigende Maßnahme, wobei den Gesellschaftern allerdings ein Ermessensspielraum bei
der Bestimmung dessen eingeräumt ist, was den Gesellschaftszweck fördert. Bei
existenzvernichtenden Eingriffen in das Gesellschaftsvermögen oder die Geschäftschancen der Gesellschaft ist dieser Ermessensspielraum aber jedenfalls überschritten.450 Jeder Gesellschafter der diese mitgliedschaftliche Pflicht zur Beachtung des
Gesellschaftszwecks schuldhaft verletzt, macht sich gegenüber der Gesellschaft nach
§ 280 Abs. 1 BGB grundsätzlich schadensersatzpflichtig.
446 Wiedemann, Gesellschaftsrecht (1980), § 6 III 1, S. 329; Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden (1963), S. 26
ff.
447 Beinert, Die Konzernhaftung für die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995),
S. 34.
448 Dazu Lutter, AcP 180 (1980), 84, 108 ff.
449 Immenga, FS 100 Jahre GmbHG (1992), S. 189, 198 ff; Beinert, Die Konzernhaftung für
die satzungsgemäß abhängig gegründete GmbH (1995), S. 61; Lutter, AcP 180 (1980), 84,
113 ff; Ziemons, Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH (1996), S. 92 ff.
450 A.A. wohl Falkenstein, Grenzen für die Entnahmerechte der GmbH-Gesellschafter (1992),
S. 226 f, der damit aber die zu trennenden Fragen der grundsätzlichen Bindung an den Gesellschaftszweck einerseits und der Möglichkeit der Befreiung von dieser Bindung andererseits vermengt.
104
3. Bindung an den Gesellschaftszweck in der Einmann-GmbH
Fraglich ist aber, ob die Pflicht zur Beachtung des Gesellschaftszwecks auch den
Alleingesellschafter trifft. Wie bereits angedeutet, wird von einer weit verbreiteten
Auffassung eine solche „Treuebindung“ des Alleingesellschafters schon im Ansatz
für ausgeschlossen gehalten.451 Zur Begründung wird insbesondere vorgebracht, der
Alleingesellschafter sei als alleiniger Herr der Gesellschaft bis zur Grenze der Regeln zum Schutz der Gläubiger aus §§ 30, 31, 32 a, 32 b, 64 GmbHG in seiner Herrschaftsausübung frei.452
Diese Auffassung vermengt jedoch zwei gedanklich klar auseinander zu haltende
Fragen. Zum einen geht es darum, ob auch der Alleingesellschafter grundsätzlich an
den Gesellschaftszweck gebunden ist, zum anderen darum, inwieweit er diese
Pflichtbindung definieren und über sie disponieren kann. Sieht man auch den Alleingesellschafter als Adressat der Zweckbindung an, steht damit noch nicht fest,
dass er in seiner Herrschaftsmacht über die zwingenden Gläubigerschutzregeln hinaus beschränkt ist.453 Ob die Zweckbindung die Herrschaftsmacht des Alleingesellschafters einzuschränken vermag, ist erst eine Frage der Definitions- und insbesondere Dispositionsbefugnis des Alleingesellschafters über die Zweckbindung. Dagegen ist es nicht angängig, das Bestehen einer Zweckbindung des Einmann-
Gesellschafters schon im Ausgangspunkt zu leugnen. Denn dass auch der Alleingesellschafter grundsätzlich an den Gesellschaftszweck gebunden ist, folgt schon aus
dem Geltungsanspruch der Satzung, die mit ihrer Eintragung ins Handelsregister (§
8 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG) die Funktion einer „Quelle objektiven Rechts“ bekommt.454
Der Vergleich mit der mehrgliederigen GmbH verdeutlicht dieses Gefüge zwischen der grundsätzlich bestehenden Zweckbindung einerseits und der Befugnis zur
Definition und Disposition über diese Bindung andererseits. Dort ist jeder einzelne
Gesellschafter zur Beachtung des Gesellschaftszwecks verpflichtet. Zumindest alle
Gesellschafter zusammen455 können jedoch unter Beachtung der in §§ 53, 54
GmbHG vorgeschriebenen Kautelen den Gesellschaftszweck ändern und damit den
Bezugspunkt und den Inhalt ihrer Pflicht neu bestimmen und sich darüber hinaus
unter den sogleich darzustellenden Voraussetzungen für den Einzelfall von der Be-
451 So etwa Bitter, WM 2001, 2133, 2138; Semler, FS Goerdeler (1987), S. 551, 558 f; Cahn,
Kapitalerhaltung im Konzern (1998), S. 83 und die in der folgenden Fußnote Genannten.
452 Lutter, ZIP 1985, 1425, 1428; ähnlich Römermann/ Schröder, GmbHR 2001, 1015, 1018;
Vonnemann, BB 1990, 217, 218 f.
453 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S.190 ff.
454 Ulmer, FS Werner (1984), S. 911, 912; Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im
GmbH-Recht (1988), S. 63 f.
455 Zum Erfordernis der Zustimmung aller Gesellschafter analog § 33 Abs.1 S.2 BGB sogleich unten 2. Kapitel D II 4.
105
achtung der Zweckbindung befreien.456 Adressat der Pflicht ist also jedes einzelne
Mitglied, definitions- und dispositionsbefugt die Gesamtheit der Mitglieder. Die
Einpersonengesellschaft unterscheidet sich von der mehrgliedrigen Gesellschaft
lediglich dadurch, dass die Gesamtheit der Mitglieder durch eine Person repräsentiert wird. Der Alleingesellschafter kann danach also genauso wie die Gesamtheit
der Gesellschafter in der mehrgliedrigen GmbH den Zweck unter Beachtung der §§
53, 54 GmbHG neu definieren und damit die inhaltliche Ausrichtung seiner Zweckbindung gegenüber der GmbH neu bestimmen. Unterlässt er das aber, bleibt es bei
der Bindung an den bisherigen Zweck. Darüber hinaus kann der Alleingesellschafter
sich auch für den Einzelfall von der Beachtung der Zweckbindung dispensieren, der
er aber im Ausgangspunkt in gleicher Weise unterliegt, wie die Gesellschafter einer
mehrgliedrigen GmbH.
Für die Frage, inwieweit die Zweckbindung die „Herrschaftsmacht“ der Gesellschafter letztlich zu beschränken und damit möglicherweise eine Haftung wegen
Existenzvernichtung zu etablieren vermag, kommt es damit sowohl in der mehrgliedrigen als auch in der Einmann-GmbH entscheidend darauf an, wieweit die Dispositionsbefugnis der Gesellschaftergesamtheit bzw. des Alleingesellschafters über
die Zweckbindung reicht. Zu prüfen ist daher, inwieweit sich die Gesellschaftergesamtheit bzw. der Alleingesellschafter von der Zweckbindung befreien können.
4. Möglichkeit der Befreiung von der Zweckbindung
Die Änderung des Gesellschaftszwecks als materiellem Bestandteil der Satzung
bedarf nach den für Satzungsänderungen geltenden §§ 53, 54 GmbHG der notariellen Beurkundung und Eintragung in das Handelsregister. Für die mehrgliedrige
GmbH ist hier zu beachten, dass bei der Änderung des Gesellschaftszwecks analog §
33 Abs. 1 Satz 2 BGB, über die nach § 53 Abs. 2 GmbHG allgemein für Satzungs-
änderungen geltende Dreiviertelmehrheit hinaus, die Zustimmung aller Gesellschafter erforderlich ist.457 Die Herrschaft der Mehrheit hat die Minderheit nur unter der
Voraussetzung hinzunehmen, dass sie innerhalb des gemeinsam bestimmten Zwecks
ausgeübt wird. Eine Änderung der durch den Zweck festgelegten „Geschäftsgrundlage“ bedarf dagegen ihrer Zustimmung.458 Von der Satzung abweichende abstrakte
Regelungen, die eine der eben genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, sind unwirksam. Eine Neudefinition des Gesellschaftszwecks für die Zukunft kann also
456 Wie soeben gezeigt, wird meist (missverständlich) formuliert, bei einvernehmlichem
Handeln bestehe keine Treuepflicht.
457 Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 53 Rn. 19; Roth/
Altmeppen- Roth, GmbHG 4. A. (2003), § 53 Rn. 42.
458 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1064.
106
auch die Gesellschaftergesamtheit bzw. der Alleingesellschafter nicht bewirken,
ohne die formellen Erfordernisse der §§ 53, 54 GmbHG zu beachten.
Von einer solchen auf Dauer angelegten Neudefinition des Gesellschaftszwecks
ist die auf einen Einzelfall abzielende Befreiung von der Zweckbindung zu unterscheiden. Inwieweit sich hier der Alleingesellschafter bzw. die Gesellschaftergesamtheit durch Beschluss auch ohne Beachtung der formellen Erfordernisse aus §§
53, 54 GmbHG wirksam von der Zweckbindung befreien können, bestimmt sich
maßgeblich nach den für die so genannte Satzungsdurchbrechung entwickelten
Grundsätzen. Eine Satzungsdurchbrechung liegt vor, wenn die Gesellschafter unter
grundsätzlichem Festhalten an der Satzung für einen Einzelfall einen in Widerspruch
zur Satzung stehenden Beschluss fassen, ohne die formellen Voraussetzungen einer
Satzungsänderung einzuhalten.459 Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Frage
zu, wann ein solcher satzungsdurchbrechender Beschluss grundsätzlich wirksam,
aber (analog § 243 Abs. 1 AktG) anfechtbar ist und wann er nichtig ist. Denn ein an
sich anfechtbarer Beschluss, der mit Zustimmung sämtlicher Gesellschafter gefasst
wurde, ist im Ergebnis unanfechtbar, weil alle Gesellschafter, die dem Beschluss
zugestimmt haben, ihre Anfechtungsbefugnis verlieren.460 Dasselbe gilt für Beschlüsse (eigentlich besser Entschlüsse) des Alleingesellschafters, denn auch hier
fehlt es an einem zur Anfechtung befugten Gesellschafter.461 Diese unanfechtbaren
Beschlüsse sind von vornherein wie rechtmäßige zu behandeln.
Die Einzelheiten bezüglich der rechtlichen Behandlung satzungsdurchbrechender
Beschlüsse sind umstritten. So wird teilweise angenommen, jeder satzungsverletzende Gesellschafterbeschluss, der einen konkreten Anwendungsfall betreffe, sei
wirksam und lediglich anfechtbar.462 Nur dann, wenn der Beschluss nicht nur auf die
konkrete Angelegenheit, sondern erklärtermaßen zugleich auf eine Ad-hoc-
Änderung der Satzung gerichtet sei, sei von Unwirksamkeit auszugehen. Der
BGH463 hingegen differenziert im Anschluss an Priester464 danach, ob sich der satzungsdurchbrechende Beschluss in einer punktuellen Regelung erschöpft (dann
459 Hachenburg- Ulmer, GmbHG 8. A. (1997), § 53 Rn. 30; Baumbach/ Hueck- Zöllner,
GmbHG 17. A. (2000), § 53 Rn. 23; Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im
GmbH-Recht (1988), S. 201; Priester, ZHR 151 (1987), 40, 40; Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 53 Rn. 23 sprechen hier von Satzungsdurchbrechungen im engeren Sinn.
460 Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 201; verkannt
von Ziemons, Die Haftung der Gesellschafter für Einflussnahmen auf die Geschäftsführung der GmbH (1996), S. 108.
461 Zur Vorschrift des § 48 Abs. 3 GmbHG, nach der der Alleingesellschafter unverzüglich
nach der Beschlussfassung eine Niederschrift aufzunehmen und zu unterschreiben hat,
sogleich unten 2. Kapitel D II 5.
462 Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), § 53 Rn. 23a; bei anderer Terminologie der Sache nach auch Habersack, ZGR 1994, 354, 363.
463 BGH Urt. v. 7. 6. 1993 - II ZR 81/92 - BGHZ 123, 15, 19.
464 ZHR 151 (1987), 40, 51ff.
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Anfechtbarkeit) oder ob er einen von der Satzung abweichenden rechtlichen Zustand
begründet, also eine Dauerwirkung zeitigt (dann Unwirksamkeit). Begründet wird
die Nichtigkeit der „zustandsbegründenden“ Beschlüsse mit dem Interesse des
Rechtsverkehrs einschließlich etwaiger später eintretender Gesellschafter an der
Publizität durch das Handelsregister: Der Rechtsverkehr müsse aus der zum Handelsregister einzureichenden Satzungsurkunde den richtigen und vollständigen Satzungsinhalt erkennen können.465
Danach sind aber nach beiden Auffassungen jedenfalls diejenigen Beschlüsse
wirksam und lediglich anfechtbar, die zwar inhaltlich gegen die Satzung verstoßen,
aber keinen von der Satzung abweichenden rechtlichen Zustand begründen. Einen
solchen Beschluss stellt auch die Befreiung von der Zweckbindung für einen konkreten Einzelfall dar. Die Wirkung eines solchen Dispensbeschlusses erschöpft sich
in der „Legalisierung“ einer bestimmten zweckwidrigen Maßnahme. Durch den
Dispensbeschluss wird, ungeachtet der möglicherweise erheblichen nachteiligen
Auswirkungen der Maßnahme auf das Gesellschaftsvermögen, kein in Widerspruch
zur Satzung stehender rechtlicher Zustand geschaffen, über den der Rechtsverkehr
informiert werden müsste. Die Satzungsurkunde gibt die rechtlichen Verhältnisse in
der Gesellschaft weiterhin richtig und vollständig wieder.
5. Form des Dispensbeschlusses
Somit kann die Gesellschaftergesamtheit bzw. der Alleingesellschafter jedem grundsätzlich zweckgebundenen Mitglied oder Organ durch einfachen Beschluss wirksam
für jede einzelne zweckwidrige Maßnahme eine Befreiung von der Bindung an den
Gesellschaftszweck erteilen. Beschließen die Gesellschafter eine gegen den Gesellschaftszweck verstoßende Maßnahme, bringen sie damit zum Ausdruck, dass für
diesen konkreten Fall die Bindung an den Gesellschaftszweck nicht bestehen soll.
Ein solcher den Gesellschaftszweck missachtender Beschluss enthält also konkludent den auf den Beschlussgegenstand bezogenen Dispens von der Beachtung der
Zweckbindung.466 Dieser Dispensbeschluss kann, wenn alle Gesellschafter gleichzeitig anwesend sind und damit eine Vollversammlung vorliegt, auch im Rahmen
einer formlosen, ja sogar einer zufälligen Zusammenkunft ohne vorherige Einberufung wirksam erfolgen (§ 51 Abs. 3 GmbHG), wenn kein Gesellschafter der Beschlussfassung widerspricht.467
465 BGH Urt. v. 7. 6. 1993 - II ZR 81/92 - BGHZ 123, 15, 19; Priester, ZHR 151 (1987), 40,
55 ff; Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 53 Rn. 23 ff.
466 Hartmann, GmbHR 1999, 1061, 1065.
467 Baumbach/ Hueck- Zöllner, GmbHG 17. A. (2000), § 48 Rn. 25 und § 51 Rn. 25; Lutter/
Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 51 Rn. 17 f; Roth/ Altmeppen- Roth, GmbHG 4. A. (2003), § 51 Rn. 16.
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In der Einmann-GmbH kann der Alleingesellschafter jederzeit ad hoc Beschlüsse
fassen, weil er stets allein die Vollversammlung bildet. Allerdings ist hier die Vorschrift des § 48 Abs. 3 GmbHG zu beachten, nach der der Alleingesellschafter unverzüglich nach der Beschlussfassung eine Niederschrift aufzunehmen und zu unterschreiben hat. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Protokollierung keine
Wirksamkeitsvoraussetzung des Beschlusses sein.468 Verbreitet wird jedoch angenommen, dass sich Einmanngesellschafter und GmbH auf Beschlüsse nicht berufen
könnten, solange die Protokollierung nicht erfolgt sei.469 Davon sollte aber jedenfalls
dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn der Vollzug der beschlossenen Maßnahme den Beschluss hinreichend dokumentiert.470 Denn die Gefahr nachträglicher
Manipulationen, der die Vorschrift des § 48 Abs. 3 GmbHG begegnen will, besteht
in diesen Fällen nicht. Eine hinreichende Dokumentation durch Vollzug ist insbesondere auch bei vom Alleingesellschafter veranlassten Eingriffen in das Vermögen
oder die Geschäftschancen der Gesellschaft gegeben. Hier ist für jeden Außenstehenden erkennbar, dass sich der Alleingesellschafter für diese konkrete Maßnahme
von der Bindung an den Gesellschaftszweck befreien wollte.
6. Zwischenergebnis
Die Gesellschaftergesamtheit bzw. der Alleingesellschafter kann sich also für die
Missachtung des Gesellschaftszwecks im Einzelfall, die an sich eine schadensersatzauslösende Pflichtverletzung darstellt, durch formlosen Beschluss ein den Tatbestand der Pflichtverletzung ausschließendes Einverständnis erteilen.471 Die Zweckbindung schafft keine indisponible Kompetenzschranke, die den Gesellschaftern
existenzvernichtende Eingriffe verbieten würde. Daher kann allein mit den Regeln
über die Zweckbindung ein Verbot existenzvernichtender Eingriffe nicht begründet
werden. Ein Verbot existenzvernichtender Eingriffe wäre aber auch gänzlich unabhängig von den Regeln über die Zweckbindung. Denn wenn sich aus bestimmten
Wertungen des GmbHG eine existenzvernichtende Eingriffe verbietende Kompetenzschranke ableiten ließe, dann würde schon unmittelbar daraus ein an die Gesellschafter adressiertes Existenzvernichtungsverbot folgen. Eines Rückgriffs auf die
Pflicht des Gesellschafters zur Beachtung des Gesellschaftszwecks bedürfte es dann
nicht mehr. Eine solche indisponible Kompetenzschranke soll im Folgenden gesucht
werden.
468 Siehe den Bericht des Rechtsausschusses BT- Drucksache 8/ 3908, S. 75.
469 Lutter/ Hommelhoff- Lutter/ Hommelhoff, GmbHG 16. A. (2004), § 48 Rn. 17 f; Roth/
Altmeppen- Roth, GmbHG 4. A. (2003), § 48 Rn. 44 f.
470 A. A. wohl Burgard, ZIP 2002, 827, 832, der diese Frage aber nicht explizit erörtert.
471 Winter, ZGR 1994, 570, 582.
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III. „Eigeninteresse“ der Gesellschaft
Als eine über § 30 GmbHG hinausgehende, indisponible Kompetenzschranke wird
ein Eigeninteresse der Gesellschaft diskutiert. Dabei ist der Streit um das Eigeninteresse der Gesellschaft von zahlreichen Missverständnissen geprägt, bei denen es sich
in erster Linie um rein begriffliche Probleme handelt.
1. Einordnung des Eigeninteresses durch den BGH in der „Bremer-Vulkan“-
Entscheidung
Der BGH erkannte zwar in der „Bremer-Vulkan“-Entscheidung „Eigenbelange“ der
Gesellschaft verbal an,472 will aber bei Missachtung dieser eigenen Belange durch
die Gesellschafter - entgegen dem Wortsinn - keinen Anspruch der Gesellschaft
ausgelöst wissen. Dem BGH diente der Begriff des Eigeninteresses damit nur als
Umschreibung der Wertungsgrundlage, nach der den Gesellschaftern existenzvernichtende Eingriffe verboten sein sollen.
2. Funktion und Bedeutung des Eigeninteresses
Das Eigeninteresse dient dazu, die Dispositionsfreiheit der Gesellschafter über die
zwingenden Gläubigerschutznormen hinaus zugunsten von Gläubigerinteressen zu
begrenzen. Es geht also nicht um den Schutz der Gesellschaft um ihrer selbst willen,
sondern um mittelbaren Gläubigerschutz. Mit der Anerkennung eines Eigeninteresses wird die GmbH zur Trägerin von Drittinteressen instrumentalisiert. Der Schutz
der Gläubigerinteressen wird rechtstechnisch durch den Schutz des Vermögens (und
der Geschäftschancen) der Gesellschaft erreicht. Die Gläubigerinteressen werden so
auf die Ebene der Gesellschaft verlagert.473 Diese Konzeption, Gläubigerschutz
mittelbar über den Schutz des Gesellschaftsvermögens zu gewährleisten, entspricht
dabei, wie schon bei der Diskussion der Durchgriffshaftung gezeigt,474 dem Weg,
den das GmbHG zum Schutz von Gläubigerinteressen auch sonst grundsätzlich geht
(etwa in den §§ 9, 9a, 9b, 31 GmbHG).475
472 BGH Urt. v. 17. 9. 2001 - II ZR 178/99 - BGHZ 149, 10, 16.
473 Möhring, Schutz der Gläubiger einer konzernabhängigen GmbH (1992), S. 83.
474 Siehe oben 2. Kapitel A IV 6 und V.
475 Winter, ZGR 1994, 570, 588; Assmann, JZ 1986, 928, 931; Ulmer, ZHR 148 (1984), 391,
408.
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Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.