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Hier geht es allein um die dogmatische Begründbarkeit einer Durchgriffshaftung
wegen Existenzvernichtung. Zu untersuchen ist, ob mit einer der Durchgriffsmethoden eine Haftung der Gesellschafter wegen Existenzvernichtung begründet werden
kann. Die allgemeinere Frage, ob eine von den Gesellschaftern veranlasste Existenzvernichtung für diese haftungsbegründend wirkt, wird an dieser Stelle also auf
die Frage konzentriert, ob gerade eine der Durchgriffsmethoden geeignet ist, eine
Haftung der Gesellschafter bei Existenzvernichtung zu etablieren. Sieht man als
Durchgriffsprobleme all jene an, bei denen es „in bestimmten schwierigen Fällen die
Zugehörigkeit der Mitglieder zu einem Verband rechtlich zu bewältigen gilt“,273 so
kann man die Frage auch dahingehend formulieren, ob das Durchgriffsproblem
Existenzvernichtung mit der Durchgriffsmethode zu lösen ist. Sollte die Prüfung
ergeben, dass keine der Durchgriffsmethoden einen dogmatisch gangbaren Weg zur
Begründung einer Haftung der Gesellschafter bietet, bliebe zu untersuchen, ob sich
eine Existenzvernichtungshaftung auf anderem Wege etablieren lässt.
III. Die Durchgriffshaftung nach dem „KBV“-Urteil
Der Begründung einer Durchgriffshaftung des BGH im „KBV“-Urteil274 lag ausdrücklich der Gedanke der Haftung wegen „Missbrauchs der Rechtsform der
GmbH“ zu Grunde: Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten
Haftung beruhe auf der für das Kapitalgesellschaftsrecht grundlegenden Voraussetzung, dass dasjenige Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der im Namen der
Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigt werde, in der Gesellschaft
zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben müsse.275 Den Gesellschaftern stehe innerhalb wie außerhalb der Liquidation nur der Zugriff auf den zur
Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten nicht benötigten Überschuss zu. Die
Notwendigkeit der Trennung des Vermögens der Gesellschaft von dem Vermögen
der Gesellschafter einerseits und die strikte Bindung des Gesellschaftsvermögens
zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger andererseits seien unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass die Gesellschafter die Beschränkung ihrer
Haftung auf das Gesellschaftsvermögen in Anspruch nehmen könnten. Entzögen die
Gesellschafter unter Außerachtlassung der gebotenen Rücksichtnahme auf diese
Zweckbindung Vermögenswerte, und „beeinträchtigen sie dadurch in einem ins
Gewicht fallenden Ausmaß die Fähigkeit der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten“, dann liege darin ein Missbrauch der Rechtsform der GmbH, der
273 So K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4. A. (2002), § 9 IV, S. 225 und 233 unter Verweis auf
Flume, Die juristische Person (1983), § 3 II, S. 69 ff; nach K. Schmidt, a.a.O. „muss klar
und deutlich zwischen Durchgriffsproblemen und Durchgriffslösungen unterschieden
werden“.
274 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 181 ff.
275 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 186.
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zum „Verlust des Haftungsprivilegs“ aus § 13 Abs. 2 GmbHG führe.276 Diese
Durchgriffshaftung greife allerdings nur dann ein, wenn der der GmbH durch den
Eingriff insgesamt zugefügte Nachteil nicht schon nach §§ 30, 31 GmbHG vollständig ausgeglichen werden könne.
Der BGH legte sich in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich auf ein bestimmtes
Konzept der Durchgriffshaftung fest. Als dogmatisches Fundament der BGH-
Lösung kamen grundsätzlich alle der im Folgenden zu diskutierenden Durchgriffsmethoden in Betracht.
IV. Die verschiedenen Durchgriffsmethoden
Die Fülle der verschiedenen in der Literatur zur Durchgriffshaftung vertretenen
Ansätze ist kaum überschaubar. Man kann von einem regelrechten Theoriengewirr
sprechen.277 Die Ordnung der verschiedenen dogmatischen Ansätze wird zusätzlich
dadurch erschwert, dass denselben Begriffen oft unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. Zudem wird in zahlreichen Stellungnahmen das Augenmerk
ausschließlich auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Durchgriffshaftung
gelegt, während die Durchgriffsmethode selbst im Dunkeln bleibt.278 Hier soll die
Einteilung der verschiedenen Durchgriffsmethoden nicht nach der verbreiteten Unterteilung in Missbrauchs-, Normzweck- und Normanwendungslehren vorgenommen werden,279 sondern allein nach der Methode, mit der die Haftung der Mitglieder
für Schulden der juristischen Person rechtstechnisch begründet werden soll. Unter
diesem Gesichtspunkt lassen sich die verschiedenen Ansätze in drei Gruppen einteilen: Nach der ersten Gruppe vollzieht sich der Durchgriff im Wege der Nichtbeachtung der Selbständigkeit der juristischen Person im Einzelfall (a). Nach einem zweiten Ansatz geht es bei der Durchgriffshaftung lediglich um die Aufhebung der Haftungsbeschränkung (c). Eine dritte Gruppe will die Durchgriffshaftung im Wege der
Anwendung einer haftungsüberleitenden Norm begründen (e).
276 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 187.
277 So K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4. A. (2002), § 9 II, S. 221; Schramm, Konzernverantwortung und Haftungsdurchgriff im qualifiziert faktischen GmbH-Konzern (1991), S. 14:
„Erklärungs-Wirrwarr“.
278 Kritisch auch Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht (1988), S. 18 f; eine
unzureichende Beschäftigung mit der Rechtsfolgenseite (vor allem hier wird die Durchgriffsmethode praktisch relevant) beklagt Nirk, FS Stimpel (1985), S. 443, 443 ff.
279 So etwa bei K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4. A. (2002), § 9 II, S. 221 ff; ähnlich Hachenburg- Mertens, GmbHG 8. A. (1992), § 13, Rn. 28 ff; Benne, Haftungsdurchgriff bei
der GmbH (1978), S. 4 ff.
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References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.