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sönlichen Haftung zu entziehen, soll den Gesellschaftern die Berufung auf die haftungsausschließende Trennung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter versagt
werden, so dass die Verpflichtung der Gesellschaft auf die Gesellschafter übergreifen könne.268 Einigkeit besteht dabei darin, dass eine Durchgriffshaftung nur in eng
begrenzten, besonders begründeten Ausnahmefällen eingreifen kann. Der BGH hatte
das im Anschluss an Entscheidungen des Reichsgerichts in älteren Entscheidungen
wiederholt so ausgedrückt, dass „über die Rechtsform der juristischen Person nicht
leichtfertig oder schrankenlos hinweggegangen werden dürfe“.269
II. Die verschiedenen Ebenen der Diskussion um die Durchgriffshaftung
Bei der Durchgriffsdiskussion geht es zum einen um die Frage, wie eine Haftung der
Gesellschafter für Schulden der Gesellschaft dogmatisch begründet werden kann
und zum anderen darum, den Anwendungsbereich und damit die tatbestandlichen
Voraussetzungen der Durchgriffshaftung festzulegen.270 Dabei stehen diese beiden
Ebenen freilich nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind ineinander verschränkt. Was die tatbestandliche Ebene betrifft, so wird heute ganz überwiegend
auf den Versuch einer allgemeinen rechtssatzmäßigen Definition verzichtet und
stattdessen auf die Technik der Fallgruppenbildung zurückgegriffen.271 Diskutiert
werden hier vor allem die Fallgruppen der Vermögensvermischung, der Sphärenvermischung, der Unterkapitalisierung und jetzt eben auch der Existenzvernichtung.272
268 BSG Urt. v. 7. 12. 1983 - 7 RAr 20/82 - BSGE 56, 76, 84.
269 Etwa BGH Urt. v. 5. 11. 1980 - VIII ZR 230/79 - BGHZ 78, 318, 333; BGH Urt. v. 8. 7.
1970 - VIII ZR 28/69 - BGHZ 54, 222, 224.
270 Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 257 ff untersucht zudem die diesen beiden Ebenen vorgelagerte Frage nach der methodologischen Zulässigkeit der Durchgriffshaftung. Er prüft
dabei hinsichtlich der in der Literatur diskutierten Durchgriffslagen jeweils, ob eine planwidrige Regelungslücke besteht, die die Durchgriffshaftung ausfüllen kann. Da sich die
Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsfortbildung auch dann stellt, wenn man zur Begründung einer Haftung wegen Existenzvernichtung nicht auf die Durchgriffsmethode zurückgreift, wird diese Frage im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als allgemeines
Problem gesondert behandelt (3. Kapitel).
271 Siehe aber auch den Versuch einer allgemeinen Definition von Wiedemann, WM 1975
Sonderbeilage 4, S.18; ders., Gesellschaftsrecht (1980), § 4 III 1, S. 221.
272 Dagegen sieht Wilhelm, NJW 2003, 175, 177 die Existenzvernichtung nicht als eigenständige Fallgruppe an, weil sie ein Unterfall der Haftung wegen Missbrauchs der juristischen
Person sei. Letztlich sind jedoch alle von der Literatur herausgearbeiteten Fallgruppen Unterfälle des Missbrauchs der juristischen Person. Daher ist es angezeigt, die Existenzvernichtung in eine Reihe neben die bisher diskutierten Fallgruppen zu stellen. Für eine eigene Fallgruppe auch Ulmer JZ 2002, 1049, 1049; Hoffmann, NZG 2002, 68, 71.
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Hier geht es allein um die dogmatische Begründbarkeit einer Durchgriffshaftung
wegen Existenzvernichtung. Zu untersuchen ist, ob mit einer der Durchgriffsmethoden eine Haftung der Gesellschafter wegen Existenzvernichtung begründet werden
kann. Die allgemeinere Frage, ob eine von den Gesellschaftern veranlasste Existenzvernichtung für diese haftungsbegründend wirkt, wird an dieser Stelle also auf
die Frage konzentriert, ob gerade eine der Durchgriffsmethoden geeignet ist, eine
Haftung der Gesellschafter bei Existenzvernichtung zu etablieren. Sieht man als
Durchgriffsprobleme all jene an, bei denen es „in bestimmten schwierigen Fällen die
Zugehörigkeit der Mitglieder zu einem Verband rechtlich zu bewältigen gilt“,273 so
kann man die Frage auch dahingehend formulieren, ob das Durchgriffsproblem
Existenzvernichtung mit der Durchgriffsmethode zu lösen ist. Sollte die Prüfung
ergeben, dass keine der Durchgriffsmethoden einen dogmatisch gangbaren Weg zur
Begründung einer Haftung der Gesellschafter bietet, bliebe zu untersuchen, ob sich
eine Existenzvernichtungshaftung auf anderem Wege etablieren lässt.
III. Die Durchgriffshaftung nach dem „KBV“-Urteil
Der Begründung einer Durchgriffshaftung des BGH im „KBV“-Urteil274 lag ausdrücklich der Gedanke der Haftung wegen „Missbrauchs der Rechtsform der
GmbH“ zu Grunde: Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten
Haftung beruhe auf der für das Kapitalgesellschaftsrecht grundlegenden Voraussetzung, dass dasjenige Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der im Namen der
Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigt werde, in der Gesellschaft
zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben müsse.275 Den Gesellschaftern stehe innerhalb wie außerhalb der Liquidation nur der Zugriff auf den zur
Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten nicht benötigten Überschuss zu. Die
Notwendigkeit der Trennung des Vermögens der Gesellschaft von dem Vermögen
der Gesellschafter einerseits und die strikte Bindung des Gesellschaftsvermögens
zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger andererseits seien unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass die Gesellschafter die Beschränkung ihrer
Haftung auf das Gesellschaftsvermögen in Anspruch nehmen könnten. Entzögen die
Gesellschafter unter Außerachtlassung der gebotenen Rücksichtnahme auf diese
Zweckbindung Vermögenswerte, und „beeinträchtigen sie dadurch in einem ins
Gewicht fallenden Ausmaß die Fähigkeit der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten“, dann liege darin ein Missbrauch der Rechtsform der GmbH, der
273 So K. Schmidt, Gesellschaftsrecht 4. A. (2002), § 9 IV, S. 225 und 233 unter Verweis auf
Flume, Die juristische Person (1983), § 3 II, S. 69 ff; nach K. Schmidt, a.a.O. „muss klar
und deutlich zwischen Durchgriffsproblemen und Durchgriffslösungen unterschieden
werden“.
274 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 181 ff.
275 BGH Urt. v. 24. 6. 2002 - II ZR 300/00 - BGHZ 151, 181, 186.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem „Bremer Vulkan“-Urteil des BGH vom 17.09.2001 ist die Frage nach einer Gesellschafterhaftung für existenzvernichtende Eingriffe eines der meist diskutierten Probleme im GmbH-Recht. Während in den Stellungnahmen zu diesem Problemkreis zumeist ohne weiteres davon ausgegangen wird, dass das gesetzliche Schutzinstrumentarium zur Bewältigung der Folgen existenzvernichtender Eingriffe nicht ausreichend sei, setzt sich der Autor ausführlich mit diesen Instrumenten, insbesondere den Möglichkeiten des insolvenzrechtlichen Anfechtungsrechts, auseinander; er untersucht eingehend, ob die für die rechtsfortbildende Entwicklung einer solchen Haftung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke vorliegt. Im Ergebnis hält er – ebenso wie die Rechtsprechung und die meisten Literaturstimmen – die Etablierung einer Existenzvernichtungshaftung für methodologisch zulässig und rechtspolitisch sinnvoll. Anders als der BGH, der die Existenzvernichtungshaftung zunächst als Durchgriffshaftung und später als besondere Fallgruppe des § 826 BGB eingeordnet hat, sieht der Verfasser die dogmatische Grundlage der Haftung aber in der mitgliedschaftlichen Sonderverbindung des Gesellschafters zur GmbH.