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Stimmabgabe in der Gläubigerversammlung per Brief möglich ist.85 Dagegen spreche, dass ein möglicher Streit über die Stimmrechtsgewährung in der Versammlung
selbst müsse entschieden werden können.86 In der Tat kann eine Abstimmung per
Brief eine Stimmrechtsfestsetzung beeinträchtigen. Insbesondere ist eine Einigung
über das Stimmrecht nicht möglich, so dass allein das Insolvenzgericht entscheiden
müsste, § 77 Abs. 2 InsO. Auch ein Umkehrschluss zu § 242 InsO, nach dem eine
schriftliche Stimmabgabe bei einem gesonderten Termin im Insolvenzplanverfahren
zulässig ist, spricht gegen eine schriftliche Abstimmung im Regelinsolvenzverfahren. Das sind überwindbare Schwierigkeiten. § 242 InsO erlaubt eine schriftliche
Stimmabgabe, weil ein Festsetzungsverfahren nach §§ 237, 77 InsO bereits erfolgt
ist.87 Letztlich muss man also nur die Bedenken ausräumen, die gegen eine Stimmrechtsfestsetzung bei schriftlicher Stimmabgabe sprechen. Die Rechte der versammelten Gläubiger sprechen nicht gegen eine schriftliche Abnstimmung, da ihre
Rechte keine Einbuße erleiden. Der nicht präsente Gläubiger hat die Wahl, ob er lieber überhaupt nicht abstimmen oder ob er in Kauf nehmen will, dass er das Bestehen
seiner Forderung nicht persönlich verteidigen kann, wenn jemand seine Forderung
bestreitet. Einem missbräuchlichen Bestreiten durch andere Gläubiger kann durch
die Entscheidung des Gerichts vorgebeugt werden. Dazu sollte der Gläubiger natürlich frühzeitig seine Forderung substantiiert und belegt haben.
IV. Kompetenzen
Die Gläubigerversammlung verfügt über verschiedene Kompetenzen, über deren
Ausübung sie im Beschlussverfahren entscheidet. Anders als die geschriebenen
Kompetenzen (unten 1.) sind ungeschriebene Kompetenzen ein häufiger Diskussionsgegenstand (unten 2.).
1. Geschriebene Kompetenzen
Von den zahlreichen Kompetenzen seien hier nur einige hervorgehoben.88 Die Gläubigerversammlung kann einen neuen Insolvenzverwalter wählen, § 57 InsO.89 Sie
85 Dafür immerhin Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 76 RN 10; a.A.: Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 76 RN 14; Herzig, in:
Braun/Bauch (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 76 RN 9; Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 76 RN 21.
86 Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 76 RN 14; Kübler, in:
Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 76 RN 21.
87 Vgl. dazu BT-Drucks. 12/2442, S. 207 f.
88 Eine guten Überblick bieten etwa Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), Münch-
Komm-InsO, § 74 RN 13; Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 61 ff.
89 Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 57 RN 5; Uhlenbruck,
KTS 1989, 229 (232); hier wird aber darauf hingewiesen, dass diese Vorschrift deswegen in
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kann auch über die Einsetzung und Zusammensetzung eines Gläubigerausschusses
entscheiden, § 68 InsO.
Ferner kann sie initiativ insbesondere über die Betriebsfortführung entscheiden,
§ 157 InsO. Sie muss besonders bedeutsamen Rechtshandlungen wie etwa der Ver-
äußerung eines Betriebs oder der Aufnahme eines großen Darlehens zustimmen,
§ 160 InsO. Diese Zustimmungskompetenzen werden aber mit Ausnahme des Falls
der Betriebsveräußerung an Insider nach § 162 InsO90 mit der Einsetzung eines Ausschusses verlagert.
Diese Rechte, mit denen die Gläubigerversammlung das Verfahren aktiv gestalten
kann, werden von diversen Informations- bzw. Kontrollrechten (etwa §§ 79,
97 InsO) sowie der Möglichkeit flankiert, das Verfahren durch Anträge zu beeinflussen (etwa §§ 59, 70 InsO).
2. Ungeschriebene Kompetenzen
a) Weisungsbefugnis gegenüber dem Insolvenzverwalter
In manchen Fällen mögen sich die Gläubiger und der Insolvenzverwalter uneins
sein, ob bestimmte Maßnahmen - etwa die Durchführung eines kleineren Anfechtungsprozesses - sinnvoll sind. Dann wird die Frage relevant, ob die Gläubiger dem
Insolvenzverwalter über die im Gesetz vorgesehenen Fälle hinaus Weisungen erteilen können, die gegebenenfalls auch mit aufsichtsrechtlichen Mitteln durchgesetzt
werden können.91 Es ist streitig, ob die Gläubigerversammlung Entscheidungen treffen kann, die für den Insolvenzverwalter einen Bindungscharakter,92 oder ob solchen
Entscheidungen nur die Qualität bloßer Empfehlungen zukommt.93
Diese Weisungsbefugnis lässt sich nicht aus der Gläubigerautonomie ableiten.94
Denn der Begriff Gläubigerautonomie umschreibt nur die Beteiligungsrechte der
der Praxis eine geringe Bedeutung habe, weil die wesentlichen Weichen ohnehin in den ersten Wochen des Verfahrens gestellt werden würden und anschließend eine neue Einarbeitung
des Verwalters einen zu großen Aufwand kosten würde. In wichtigeren Verfahren stimmten
ohnehin die Großgläubiger mit dem Insolvenzgericht die Bestellung des ersten Insolvenzverwalters ab.
90 Vgl. dazu Gundlach/Frenzel/Jahn, ZInsO 2008, 360 ff.
91 Vgl. Pape, NZI 2006, 65 (71); zu der Durchsetzbarkeit von Entscheidungen der Gläubigerversammlung siehe im Übrigen unten S. 48 ff.
92 Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 66 ff.; Uhlenbruck, InsO, § 76 RN 10.
93 Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 74 RN 11; Heukamp,
Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 64 ff.; Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 74 RN 14; Pape, ZIP 1990, 1251 (1254);
Pape, NZI 2006, 65 (70).
94 So aber Uhlenbruck, InsO, § 76 RN 10.
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Gläubiger, die es erst zu bestimmen gilt; es handelt sich also um einen Zirkelschluss.95
Auch der Wortlaut des § 160 Abs. 2 InsO, der durch die Formulierung „insbesondere“ darauf hinweist, dass die Zustimmungserfordernisse in der Insolvenzordnung
nicht abschließend aufgezählt sind, trägt nichts zur Lösung des Problems bei.96 Denn
aus § 160 InsO geht nicht hervor, dass die Gläubigerversammlung es selbst in der
Hand hätte, Zustimmungserfordernisse nach ihrem Willen zu bestimmen. Vielmehr
handelt es sich allein um eine rechtliche Wertung, welche Handlungen zustimmungsbedürftig sind und welche nicht.97 Erst recht enthält § 160 Abs. 2 InsO aber
kein Recht der Versammlung, initiativ darüber zu entscheiden, dass der Insolvenzverwalter eine bestimmte Handlung vornehmen muss.98
Allein die Tatsache, dass der Insolvenzverwalter primär im Interesse der Gläubiger handelt, spricht nicht für eine Weisungskompetenz.99 Auch der Vorstand einer
Aktiengesellschaft handelt im Interesse des Unternehmens und damit letztlich im
Interesse der Aktionäre und unterliegt dennoch keinem umfassenden Weisungsrecht.100
Gegen eine Weisungskompetenz über die im Gesetz geregelten Fälle spricht auch,
dass dies das gesetzliche Gefüge der Insolvenzordnung stören würde, da der Insolvenzverwalter über die im Gesetz geregelten Fälle hinaus von den Gläubigern dazu
gebracht werden könnte, eine persönliche Haftung im Außenverhältnis zu riskieren.101 So muss der Verwalter bei der Weisung durch die Gläubigerversammlung zu
einer kostenträchtigen Maßnahme sehenden Auges seine Haftung riskieren, wenn
nach seiner Auffassung keine ausreichende Masse mehr vorhanden ist.102
Ferner würde man die Regelungen zur Wahl und Entlassung des Insolvenzverwalters unterlaufen, wenn man der Versammlung ein Weisungsrecht gegenüber dem
Insolvenzverwalter zubilligte. So stellen das Erfordernis einer Kopfmehrheit bei der
Wahl des Insolvenzverwalters gemäß § 57 S. 2 InsO und die Hürde des wichtigen
Grundes bei seiner Entlassung nach § 59 InsO nicht nur sicher, dass der Insolvenzverwalter eine breite Zustimmung hat und sein Amt eine gewisse Kontinuität aufweist; vielmehr sollen beide Normen auf ihre Weise sicherstellen, dass der Insolvenzverwalter eine gewisse Unabhängigkeit hat. Diese Unabhängigkeit wäre inhaltsleer, wenn es dem Insolvenzverwalter wegen bindender Weisungen der Gläubiger,
die in der Versammlung die Betragsmehrheit repräsentieren, nicht auch erlaubt wäre, zumindest bei geringeren Angelegenheiten (also solchen, die nicht nach Art.
95 Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 67; vgl. auch Pape,
NZI 2006, 65 (69).
96 A.A.: Uhlenbruck, InsO, § 76 RN 10.
97 Vgl. Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 66.
98 Pape, NZI 2006, 65 (68 f.); vgl. auch Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 65 f.
99 So aber Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 67.
100 Vgl. im Einzelnen K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 28 II 1 a.
101 Pape, NZI 2006, 65 (69).
102 Pape, NZI 2006, 65 (69).
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160 InsO zustimmungsbedürftig sind) unpopuläre Maßnahmen zu treffen. Daher ist
eine Weisungsbefugnis der Versammlung gegenüber dem Insolvenzverwalter abzulehnen.
b) Ersetzungsbefugnis der Entscheidungen des Ausschusses
Auch zwischen der Gläubigerversammlung und dem Gläubigerausschuss kann es zu
Auseinandersetzungen kommen, ob eine bestimmte Maßnahme sinnvoll ist. Aus
Sicht der Gläubigerversammlung mag dann das Interesse bestehen, eine Entscheidung des Gläubigerausschusses - etwa die Nichterteilung einer Zustimmung - aus
Zweckmäßigkeitsgründen ersetzt werden kann.103 Bei der Diskussion dieser Streitfrage ist es hilfreich, nach der Art des jeweils zu ersetzenden Beschlusses zu differenzieren. Von dem Streit sind solche Kompetenzen nicht betroffen, in denen der
Ausschuss schon nach dem Gesetz nur eine vorläufige Entscheidung bis zur endgültigen Entscheidung durch die Gläubigerversammlung trifft (vgl. etwa §§ 100, 149,
157 f. InsO).
Für diese Fälle, in denen es um die Zustimmung zu einer besonders bedeutsamen
Rechtshandlung im Sinne des § 160 InsO geht, regelt § 161 S. 2 InsO, dass das Gericht auf Antrag des Schuldners oder einer in § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO genannte
Mehrheit von Gläubigern (trotz einer eventuellen Zustimmung des Gläubigerausschusses) eine Maßnahme des Insolvenzverwalters vorläufig untersagen und eine
Gläubigerversammlung einberufen kann, die über die Vornahme beschließt. Man ist
sich weitgehend einig, dass das Gericht dazu verpflichtet ist, wenn (orientiert an der
wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit) absehbar ist, dass die Gläubigerversammlung anders entscheiden würde.104 Daraus ergibt sich, dass die in § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO bezeichnete Mehrheit von Gläubigern auf diesem Wege immer eine Entscheidung des
Ausschusses ersetzen kann. Eine solche Mehrheit wird in den größeren Verfahren,
103 Für eine Ersetzungsbefugnis: Blersch, in: Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht, § 72
RN 6; Hegmanns, Der Gläubigerausschuss, S. 51 ff.; Eickmann, in: Eickmann et al. (Hrsg.),
HK-InsO, § 72 RN 7; Neumann, Gläubigerautonomie, S. 469; Uhlenbruck, InsO, § 160 RN 3;
vgl. auch Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 74 RN 17;
im Ergebnis auch Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 269 ff.; a.A.: Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung,
§ 69 RN 9; Frege, NZG 1999, 478 (483); Eickmann, in: Eickmann et al. (Hrsg.), HK-InsO,
§ 69 RN 6; Frege/Keller/Schmidt, Insolvenzrecht, RN 1227; Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt
(Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 67 RN 7; Jaeger, KuT 1934, 1; Keller, Insolvenzrecht,
RN 472; Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 19; Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 69 RN 7; Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S.
35 f.; Pape, ZinsO 1999, 675 (691); Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 176 und 332; Vallender,
WM 2002, 2040 (2047).
104 Teilweise nimmt man an, das Gericht habe entgegen dem Wortlaut keinen Ermessensspielraum, Flessner, in: Eickmann et al. (Hrsg.), HK-InsO, § 161 RN 4. Teilweise wird angenommen, das Gericht solle sich in Vorgriff auf die Entscheidung der Versammlung in erster Linie
an der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit orientieren, Uhlenbruck, InsO, § 161 RN 5.
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in denen auch nur ein Ausschuss eingesetzt wird, in der Regel erforderlich sein, um
einen entsprechenden Beschluss der Gläubigerversammlung zu fassen. Zwingend ist
dies jedoch nicht. So ist auch denkbar, dass ein einzelner Gläubiger den Beschluss
des Ausschusses ersetzen will, während die übrigen Gläubiger das Interesse an dem
Verfahren verloren haben. § 161 InsO i.V.m. § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO stellt sicher,
dass eine Ersetzung nur bei einer bestimmten Beteiligung erfolgen kann.105
Die Einhaltung des Verfahrens ist noch aus einem anderen Grund relevant. Lehnt
man nämlich eine Ersetzungsbefugnis der Gläubigerversammlung außerhalb des von
§ 161 InsO vorgesehenen Verfahrens ab, so kann der Insolvenzverwalter nicht aus
eigener Kraft eine Versammlung einberufen, die über die Ersetzung entscheidet.
Denn der Insolvenzverwalter kann zwar nach § 75 Abs. 1 Nr. 1 InsO einen Antrag
auf Einberufung der Gläubigerversammlung stellen. Ihm steht jedoch kein Antragsrecht nach § 161 InsO zu. So betrachtet, geht es also weniger um die Freiheiten der
Gläubigerversammlung, als vielmehr um die Definition der Zuständigkeiten des Insolvenzverwalters. Gegen eine Ersetzungsbefugnis spricht insbesondere der Umstand, dass man das Verfahren nach § 161 InsO andernfalls umginge.106 Zwar ließe
sich (entsprechend dem in dem Antragsrecht gemäß § 78 InsO zum Ausdruck kommenden Gedanken) argumentieren, dass der Insolvenzverwalter bei einem insolvenzzweckwidrigen Beschluss des Ausschusses als Sachwalter der Interessen der
übrigen Gläubiger auch eine Ersetzung der Entscheidung in die Wege leiten können
muss. Diesen Interessen wird aber ausreichend durch die Haftung der Ausschussmitglieder nach § 71 InsO und eine Informationspflicht107 des Insolvenzverwalters
Rechnung getragen. Daher ist eine Ersetzungsbefugnis für Zustimmungen nach
§ 161 InsO abzulehnen.
In den Fällen, in denen eine Mitwirkung der Gläubiger nur vorgesehen ist, wenn
ein Gläubigerausschuss eingesetzt ist (dazu zählen insbesondere die Entscheidungen
über die Verteilungen, §§ 187 Abs. 3 S. 2, 195 Abs. 1 InsO), besteht ebenfalls keine
Ersetzungskompetenz der Versammlung. Zwar halten sich hier Umkehrschlüsse108
und Bezugnahmen auf einen zugrundeliegenden allgemeinen Rechtsgedanken109 argumentativ in der Balance.110 In Bezug auf diese Regelungen leuchtet aber nach wie
vor die Auffassung des Gesetzgebers der Konkursordnung ein, dass die Kompetenzen, die in erster Linie den Insolvenzverwalter beschränken sollen, bei Nichteinsetzung eines Ausschusses fortfallen müssten.111 Der Gesetzgeber geht in diesen Fällen
105 Siehe dazu auch unten S. 258.
106 Heukamp, ZInsO 2007, S. 66.
107 Siehe dazu unten S. 102 ff.
108 Vgl. Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 66; Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 176.
109 Vgl. Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 74 RN 17.
110 So richtig Hegmanns, Der Gläubigerausschuss, S. 51; Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 267.
111 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 284 „Ebensowenig lässt sich ein gesetzlicher Zwang
gegen die Gläubiger rechtfertigen gegen die Gläubiger rechtfertigen oder praktisch ausüben,
ein eigenes Organ für ihre Vertretung zu wählen. […] Wählen die Gläubiger trotzdem nicht,
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davon aus, dass die große Gläubigerversammlung diese Rechte nicht effektiv wahrnehmen kann. Dabei geht es um relativ geringfügige Mitwirkungsrechte, zu deren
Wahrnehmung sich die Einberufung einer Gläubigerversammlung in der Regel nicht
lohnt.
Übrig bleibt ein kleiner Kreis von Mitwirkungs- bzw. Kontrollrechten (z.B. das
Recht zur Kassenprüfung nach § 79 S. 2 InsO), in denen der Gläubigerversammlung
nach dem Gesetzeswortlaut die Kompetenz zukommt, wenn ein Ausschuss nicht
eingesetzt ist. Die Auffassung, die Gläubigerversammlung, die über die Einsetzung
eines Gläubigerausschusses entscheidet, habe aber nicht das Recht, über derart delegierte Entscheidungen selbst zu befinden, bedarf der teleologischen Rechtfertigung.
Der Gedanke einer erhöhten Richtigkeitsgewähr (etwa durch die für die Ausschussmitglieder bestehende Haftung)112 scheint hier nicht recht zu passen, da es sich weniger um eine wirtschaftliche Entscheidung als mehr um eine Kontrolle der anderen
Verfahrensbeteiligten handelt. Vielmehr ist es auch im Hinblick auf die Gefahr des
kollusiven Zusammenwirkens von Verwalter und Ausschuss sinnvoll, dass die
Gläubigerversammlung diese Rechte selbst wahrnehmen kann. Das Argument, es
drohe eine Verfahrensverzögerung, verfängt insoweit nicht.113 Denn wenn es in der
Macht der Gläubigerversammlung steht, das Verfahren durch die Einsetzung eines
Gläubigerausschusses zu beschleunigen, dann muss ihr auch das Recht zukommen,
über einzelne Fragen ohne diese fakultative Beschleunigung entscheiden zu können.
Daher wird man insoweit auch eine Befugnis der Gläubigerversammlung annehmen
können, diese Rechte trotz eines existierenden Gläubigerausschusses selbst wahrzunehmen.
c) Weisungsbefugnis gegenüber dem Ausschuss
Die Gläubigerversammlung kann dem Ausschuss gegenüber keine Weisungen erteilen.114 Selbst wenn man das anders sähe, könnte ein solches Weisungsrecht allein
über die Androhung einer Entlassung nach § 70 InsO durchgesetzt werden, da andere Zwangsmaßnahmen nicht möglich sind und die Gläubigerversammlung den Ausschuss nicht durch einen Beschluss entlasten kann.115
so verzichten sie dadurch auf eine besondere Vertretung; die von dem Gesetz ihrem Organe
zugedachte Funktion kann dann zwar nicht auf das Gericht übergehen, die Funktionen müssen vielmehr von den Gläubigern selbst wahrgenommen werden, oder, sofern die Funktionen
des Verwalters beschränken sollten, fortfallen.“.
112 Vgl. Jaeger, KuT 1934, 1 (2); Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 177.
113 Frege, NZG 1999, 478 (483).
114 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, § 69 RN 1; Frege/Keller/Schmidt, Insolvenzrecht, RN 1227; Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 68 RN 5;
Pape, ZinsO 1999, 675; Vallender, WM 2002, 2040 (2047).
115 Vgl. Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21
RN 310.
40
Zwar ging der Gesetzgeber der Konkursordnung noch von einer Weisungskompetenz der Versammlung gegenüber dem Ausschuss aus.116 Diese Auffassung beansprucht jedoch durch eine Reihe geänderter Normen keine Gültigkeit mehr. So
spricht gegen eine Weisungskompetenz nicht nur die geänderte Regelung zur Entlassung der Ausschussmitglieder nach § 70 InsO, der den Mitgliedern des Ausschusses über das Erfordernis eines wichtigen Grundes eine unabhängige Stellung sichern
soll.117 Vielmehr spricht auch das Verfahren über die Ersetzung von Beschlüssen des
Ausschusses gegen eine Weisungskompetenz.118
d) Übertragbarkeit von Kompetenzen
Der Teilnahme an den Gläubigerversammlungen stehen gerade bei kleinen Gläubigern im Verhältnis hohe Transaktionskosten entgegen, die sie von der Teilnahme
sogar ganz abhalten können. Daher stellt sich die Frage, inwieweit die Gläubigerversammlung Kompetenzen auf andere Organe, insbesondere den Gläubigerausschuss
oder das Insolvenzgericht übertragen kann. Das ist insbesondere in den Fällen (wie
etwa der Betriebsfortführung) relevant, in denen es einer schnellen Entscheidung
bedarf und eine Einberufung der Versammlung zu langwierig ist.
Eine Delegierung ist in der Insolvenzordnung nicht ausdrücklich geregelt.
aa) Übertragung auf das Gericht
Nahe liegt zunächst die Übertragung auf das Gericht, das ohnehin das Verfahren überwacht und nicht erst eigens einberufen werden muss. Das soll nach wohl herrschenden Meinung zulässig sein.119 Nur teilweise lehnt man dies ab.120
Eine solche Delegierung von Kompetenzen der Versammlung auf das Gericht
mag in rechtspolitischer Hinsicht im Einzelfall sinnvoll sein.121 Neben der Verringerung von Transaktionskosten sprechen für eine solche Möglichkeit Praktikabilitäts-
116 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 286: „Die Gläubigerversammlung kann bei Meinungsverschiedenheiten des Ausschusses den Ausschlag geben; gerade so wie sie berechtigt
ist, denselben an Instruktionen zu binden, deren Überschreitung die Mitglieder den Gläubigern verantwortlich macht.“
117 Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 132; Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 36 f.
118 Siehe dazu oben S. 37 ff.
119 Ehricke, NZI 2000, 57 (62); Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-
InsO, § 76 RN 21; Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 76 RN
7; Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 83; Heukamp, ZInsO
2007, 57 (59); Eickmann, in: Eickmann et al. (Hrsg.), HK-InsO, § 76 RN 5.
120 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, §§ 76, 77 RN 3; Kind, in: Wimmer
(Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 76 RN 9; Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 259; Voigt-
Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, S. 1176.
121 Siehe dazu unten S. 226.
41
erwägungen wie Schnelligkeit und Flexibilität. Außerdem böte die Entscheidungskompetenz des Gerichts eine zusätzliche Kontrolle über den Insolvenzverwalter,
wenn absehbar ist, dass die den Aufwand scheuenden Gläubiger eine solche nicht
ausüben.122
De lege lata ist allerdings zu beachten, dass die Möglichkeit einer Delegierung
bewusst123 nicht im Gesetz (anders als in anderen Rechtsordnungen) vorgesehen ist.
Selbst wenn man aus teleologischen Erwägungen für die Möglichkeit einer Delegierung eintreten würde, bestünden verschiedene praktische Schwierigkeiten im Hinblick auf die Gefahr von Fehlentscheidungen. Die Art der Schwierigkeit hängt davon ab, welches Alternativszenario man betrachtet. Geht man davon aus, dass es ohne die mögliche Delegierung zu einer Entscheidung der Gläubigerversammlung käme, so scheinen Gläubiger, die die Entscheidung nicht hinnehmen wollen, vordergründig der Möglichkeit beraubt, einen Aufhebungsantrag nach § 78 InsO zu stellen.124 Dem kann man nicht entgegenhalten, dass die Gläubiger den Antrag nach
§ 78 InsO bereits bei der Übertragung selbst stellen können. Denn die Übertragung
widerspricht als solche nicht dem gemeinsamen Interesse der Insolvenzgläubiger, so
dass der Antrag ohne Erfolg sein wird. Allerdings wird dem Kontrollregime des
§ 78 InsO dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass bei einer Delegierung der
gleiche Entscheidungsträger tätig wird wie im Fall des § 78 InsO. Den Umstand,
dass bei einem Tätigwerden des Gerichts aufgrund einer Übertragung durch die Versammlung, anders als nach § 78 InsO, kein Rechtsmittel vorgesehen ist, sollte man
nicht allzu stark gewichten, besteht doch eine Beschwerdemöglichkeit gegebenenfalls durch eine Analogie zu § 78 Abs. 2 InsO.
Etwas schwieriger gestaltet sich die Situation dann, wenn die Gläubiger keine eigene Entscheidung treffen, sondern dem Insolvenzverwalter die Entscheidung überlassen. Denn dann schützt sie die Haftung des Insolvenzverwalters vor dessen Fehlentscheidungen. Entscheidet das Gericht aber in für den Insolvenzverwalter bindender Weise, weil die Gläubiger ihre Entscheidung delegiert haben, so dürfte eine Haftung des Insolvenzverwalters zweifelhaft sein, so dass nur noch eine Staatshaftung
in Betracht kommt.
Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass die Insolvenzgerichte, die unter
erheblicher Arbeitsbelastung stehen125 und für wirtschaftliche Fragen nur über eine
eingeschränkte wirtschaftliche Kompetenz verfügen, nicht auf die Erweiterung ihres
Aufgabenkreises ausgelegt und auch nicht dazu berufen sind.126 Daher ist eine Delegierungsmöglichkeit von Kompetenzen der Versammlung auf das Gericht abzulehnen.
122 Siehe zu diesem Aspekt unten S. 226 und S. 218.
123 Siehe oben FN 111.
124 Vgl. Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 86; siehe auch Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 262: „[…] außerhalb des Einflussbereiches der Gläubigerversammlung […]“.
125 Frind, ZInsO 2006, 182.
126 Vgl. Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 262.
42
bb) Übertragung auf den Ausschuss
Demgegenüber ist die Möglichkeit einer Übertragung von Kompetenzen auf den
Ausschuss mit der wohl herrschenden Meinung127 grundsätzlich zu bejahen. Um aber nicht ein unübersehbares Haftungsrisiko für die Mitglieder des Ausschusses zu
schaffen, bedarf eine solche Delegierung ihrer Zustimmung.128 Durch die Haftung
des Ausschusses sind die Gläubiger auch ausreichend vor der Verfolgung von Sonderinteressen geschützt,129 so dass der mit der Delegierung einhergehende Verlust
der möglichen Entscheidungskorrektur nach § 78 InsO hinnehmbar ist.130 Soweit die
Entscheidung über die Betriebsfortführung delegiert wird, sollte man aber eine Ersetzungsbefugnis analog § 161 InsO bejahen.
cc) Delegierung an Dritte
Auch eine Übertragung von Befugnissen auf Dritte soll möglich sein.131 Dem ist im
Grundsatz zuzustimmen; die Voraussetzungen der Übertragung bedürfen aber der
Präzisierung. Zum einen kann die Gläubigerversammlung nur solche Kompetenzen
auf Dritte übertragen, die sie auch selbst wahrnehmen konnte. Hatte sie bereits einen
Gläubigerausschuss eingesetzt, kann sie Entscheidungskompetenzen nur insoweit
auf Dritte übertragen, als diese ihr weiterhin selbst zustehen oder die Voraussetzungen des § 161 InsO vorliegen.
Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass das bestehende Kontrollregime
zum Schutz von Minderheiten nicht unterlaufen wird. In der Regel wird dies durch
das der Delegierung zugrundeliegende Grundverhältnis sichergestellt. Dieses
Grundverhältnis ist – soweit es nur mit einem Teil der Gläubiger abgeschlossen ist –
als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu qualifizieren,132 so dass bei aus
Sicht der Gesamtgläubigerschaft nachteiligen Entscheidungen Schadensersatzansprüche der betroffenen Gläubiger bestehen.
127 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, § 69 RN 10; Frind, in: Schmidt (Hrsg.),
Hamburger Kommentar-InsO, § 69 RN 13; Heukamp, ZInsO 2007, 57 (59); Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 84; Pape, Gläubigerbeteiligung,
RN 261 und 263.
128 Heukamp, ZInsO 2007, 57 (59).
129 Heukamp, ZInsO 2007, 57 (59).
130 Zu der Anwendbarkeit des § 78 InsO auf die Entscheidungen des Ausschusses siehe unten
S. 107 f.
131 Heukamp, ZInsO 2007, 57 (59); Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 84.
132 Siehe zu diesem Aspekt auch S. 90 f.
43
e) Zusammenfassung
Die Gläubigerversammlung kann weder dem Insolvenzverwalter noch dem Gläubigerausschuss Weisungen erteilen. Eine Ersetzungsbefugnis der Gläubigerversammlung von Entscheidungen des Gläubigerausschusses besteht über den Fall des § 161
InsO hinaus in der Regel nicht. Eine Delegierung von Kompetenzen der Gläubigerversammlung auf den Ausschuss oder Dritte ist im Grundsatz möglich; eine Delegierung von Entscheidungskompetenzen auf das Gericht ist der Gläubigerversammlung jedoch versagt.
V. Beschlüsse
Ein Beschluss der Gläubigerversammlung setzt ihre Beschlussfähigkeit voraus (dazu
1.). Liegt die Beschlussfähigkeit nicht vor, weil die Gläubiger nicht teilnehmen,
muss geregelt werden, wer stattdessen entscheidet (dazu 2.). Je nach Beschlussgegenstand können unterschiedliche Mehrheitserfordernisse bestehen (dazu 3.).
1. Beschlussfähigkeit
Die Insolvenzordnung kennt – anders als bei der Beschlussfassung des Gläubigerausschusses – keine Regeln zur Beschlussfähigkeit der Gläubigerversammlung. Da
aber bei der Beschlussfassung, anders als bei der Einberufung (vgl. § 75 InsO), keine Mindestquoren festgelegt sind, ist es herrschende Auffassung, dass für die Beschlussfähigkeit ein einziger stimmberechtigter Gläubiger ausreicht.133 Das kann etwa dann problematisch sein, wenn damit ein Gläubiger, der nur über einen Bruchteil
der summierten Passiva verfügt, Entscheidungen für die Mehrheit der zugelassenen
Gläubiger trifft.134 Die Auffassung, dass die nicht erschienenen Gläubiger auch nicht
schützenswert seien,135 charakterisiert zutreffend die dem Gesetz zugrunde liegende
ratio – in rechtspolitischer Hinsicht erscheint sie aber bedenklich.
133 Vgl. Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, §§ 76, 77 RN 3; Delhaes, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 76 RN 3; Ehricke, NZI 2000, 57 (58); Ehricke,
in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 76 RN 15 f.; Eickmann, in:
Eickmann et al. (Hrsg.), HK-InsO, § 76 RN 2; Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger
Insolvenzordnung, § 76 RN 5; Keller, Insolvenzrecht, RN 464; Kind, in: Wimmer (Hrsg.),
Frankfurter Kommentar, § 76 RN 7; Klopp/Kluth, in: Gottwald et al. (Hrsg.), Insolvenzrechts-Handbuch, § 20 RN 10; Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 213.
134 Dazu ausfürlich unten S. 233 f.
135 Ehricke, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 76 RN 15.
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Zusammenfassung
Die umfassende Gläubigerbeteiligung hat eine lange Tradition im deutschen Insolvenzrecht. In der Praxis beteiligen sich die Gläubiger jedoch häufig nicht. Dieser Umstand und unausgewogene Entscheidungen der Gläubiger können das Verfahrensziel, die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, gefährden. Die Untersuchung vergleicht die Gläubigerbeteiligung nach der deutschen Insolvenzordnung mit der durch das decreto legislativo 9 gennaio 2006, n. 5 und das decreto legislativo 12 Settembre 2007, n. 169 reformierten legge fallimentare. Die Arbeit erörtert umfassend aktuelle juristische Fragen. Der rechtsvergleichende Teil bezieht Ansätze der ökonomischen Analyse des Rechts und der Verhaltensökonomik ein, um konkrete Änderungsvorschläge zu erarbeiten.