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2. Teil. Das deutsche Regelinsolvenzverfahren
Im deutschen Insolvenzverfahren verfolgen die Gläubiger (unten B.) ihre Interessen
in erster Linie über Gremien, in denen sie einen gemeinsamen Willen bilden. Die
Zusammenfassung von mehreren Einzelbegehren zu einem kollektiven Verfahren
bedingt, dass die Gläubiger ihre Interessen primär über Gremien wahrnehmen, in
denen sie einen gemeinsamen Willen bilden. Neben der Beteiligung in der Gläubigerversammlung und in dem Gläubigerausschuss (unten C. und D.) nehmen die
Rechte des einzelnen Gläubigers eine untergeordnete Rolle ein (dazu unten E.). Dieses System hat in Deutschland eine gewisse Tradition (unten A.).
A. Historischer Hintergrund
Das Insolvenzrecht unterlag von seinen Ursprüngen in der Antike über das Mittelalter bis hin zur Neuzeit unterschiedlichen Wandlungen, die durch wechselnde Ideen
über die Aufgabe des Insolvenzrechts bestimmt wurden. Das deutsche Insolvenzrecht hat in den letzten einhundertfünfzig Jahren – gemessen an anderen Rechtsordnungen – nur relativ geringe Änderungen erfahren. Das liberalistische Grundkonzept
der preußischen Konkursordnung wurde zwar verschiedentlich in Frage gestellt,
blieb aber erhalten.
Die Konkursordnung von 1877 vereinheitlichte das bis dahin zersplitterte Konkursrecht in Deutschland.45 Dem Reichsgesetz diente in erster Linie die preußische
Konkursordnung von 1855 als Vorbild,46 die sich ihrerseits stark an dem französischen Code de commerce orientierte47 und die Rolle des Insolvenzverwalters und der
Gläubiger deutlich freier gestaltete als das gemeine Recht.48 Die neue Konkursordnung vereinte damit den Ansatz einer staatlich geleiteten Verfahrens mit dem einer
Gläubigerselbstverwaltung.
Im Einzelnen sah die Konkursordnung vor, dass der Insolvenzverwalter von dem
Gericht bestellt wurde. Eine Abwahl durch die Gläubigerversammlung sollte für das
Gericht nicht rechtlich bindend sein. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass der In-
45 Vgl. Thieme, in: Uhlenbruck (Hrsg.), Festschrift Konkursordnung, S. 35 (44 ff.); zu den früheren Regelungen der jeweiligen Länder Stobbe, Geschichte des älteren deutschen Konkursprozesses, S. 1 ff.
46 Thieme, in: Uhlenbruck (Hrsg.), Festschrift Konkursordnung, 35 (39).
47 Keller, Insolvenzrecht, RN 43; Thieme, in: Uhlenbruck (Hrsg.), Festschrift Konkursordnung,
35 (40).
48 Thieme, in: Uhlenbruck (Hrsg.), Festschrift Konkursordnung, 35 (45).
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solvenzverwalter durch seine amtliche Stellung, die ihm nur durch das Gericht verliehen werden konnte, eine gewisse Unabhängigkeit haben sollte.49
Die im gemeinen Recht und im Partikularrecht nicht einheitlich beantwortete
Frage, ob Beschlüsse der Versammlung mit der Kopf- oder der Summenmehrheit
der Forderungen gefasst werden sollten, wurde zugunsten der Summenmehrheit entschieden.50 Dem Schutz der ausgebliebenen und majorisierten Gläubiger sollte dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht die Ausführung des Mehrheitsbeschlusses untersagen konnte, wenn er dem gemeinsamen Interesse der Gläubiger
widersprach.51
Die Gläubigerversammlung konnte einen Gläubigerausschuss einsetzen. Dieser
hatte gegenüber dem Insolvenzverwalter kein Weisungsrecht, sondern sollte ihn lediglich kontrollieren und unterstützen.52 Dies äußerte sich etwa in dem Anspruch,
Berichterstattung von dem Verwalter zu verlangen, dem Antragsrecht auf Entlassung des Insolvenzverwalters und dem Genehmigungserfordernis für wichtige oder
ungewöhnliche Dispositionen.
Während der wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik zeigten sich verschiedene Probleme. Einerseits beklagte man, dass die Gläubiger in erster Linie ihre
Sonderinteressen verfolgten,53 und andererseits, dass sie die ihnen eingeräumten Beteiligungsrechte nicht wahrnähmen.54 In den dreißiger Jahren gab es zahlreiche Reformbestrebungen, den Einfluss der Gläubiger auf das Verfahren zu beschränken
und die Autorität des Gerichts zu stärken. Der Grund für solche Bestrebungen war
nicht allein die Identifikation von zu Tage getretenen Mängeln des Konkursrechts,
sondern auch der Zeitgeist.55 Die Reformen wurden aber (abgesehen von der 1935
entstandenen Vergleichsordnung) wegen der Gegenstimmen und dem Ausbruch des
zweiten Weltkriegs nicht umgesetzt.56
Mit der Insolvenzrechtsreform von 1994 sollte das Insolvenzrecht stärker auf ökonomische Prinzipien ausgerichtet und die Gläubigerautonomie gestärkt werden.57
B. Gläubigergruppen
Sieht man einmal von den so genannten Neugläubigern ab, deren Forderung erst
nach Insolvenzeröffnung gegen den Schuldner begründet wird und daher auch nicht
an der Masse beteiligt sind (arg e contrario zu § 38 InsO), unterscheidet man im
deutschen Recht vier Gläubigergruppen: Die Insolvenzgläubiger, die absonderungs-
49 Riedemann, Entwicklung des Konkursrechts, S. 18 ff.
50 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 316.
51 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 317.
52 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 311.
53 Riedemann, Entwicklung des Konkursrechts, S. 79.
54 Vgl. Riedemann, Entwicklung des Konkursrechts, S. 36 ff.
55 Im Einzelnen Riedemann, Entwicklung des Konkursrechts, S. 90 ff.
56 Riedemann, Entwicklung des Konkursrechts, S. 134.
57 Balz, Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, S. 1 ff.; Uhlenbruck, InsO, § 1 RN 4.
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References
Zusammenfassung
Die umfassende Gläubigerbeteiligung hat eine lange Tradition im deutschen Insolvenzrecht. In der Praxis beteiligen sich die Gläubiger jedoch häufig nicht. Dieser Umstand und unausgewogene Entscheidungen der Gläubiger können das Verfahrensziel, die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, gefährden. Die Untersuchung vergleicht die Gläubigerbeteiligung nach der deutschen Insolvenzordnung mit der durch das decreto legislativo 9 gennaio 2006, n. 5 und das decreto legislativo 12 Settembre 2007, n. 169 reformierten legge fallimentare. Die Arbeit erörtert umfassend aktuelle juristische Fragen. Der rechtsvergleichende Teil bezieht Ansätze der ökonomischen Analyse des Rechts und der Verhaltensökonomik ein, um konkrete Änderungsvorschläge zu erarbeiten.