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Spätestens aber innerhalb der vorzunehmenden Güterabwägung wird dieses fundamentale Recht vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig verwässert, früher mit
dem räumlichen Kriterium als eine fast zwingende Folge des nie ganz aufgegeben
Denkens in Sphären,838 aktuell mit dem Kriterium des Informationswerts.
Die konsequente Umsetzung des Schutzgutes der Selbstbestimmung wird vom
Gericht scheinbar vermieden, weil es den sozialen Bezug des Einzelnen als Grenze
des Persönlichkeitsrechts ansieht. Selbstbestimmung scheint damit im Wesentlichen
auf die Rückzugsbereiche begrenzt zu sein, die den Schutz vor der Öffentlichkeit
gewähren sollen. Ist Persönlichkeitsschutz indes zu begreifen als Schutz der individuellen Faktoren einer selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung839 und findet
diese im Wesentlichen in sozialen Bezügen statt, so muss dieses soziale Element geradezu zwingend auch bei der Frage des Schutzgutes berücksichtigt werden. Dies
führt dann zur Anerkennung des umfänglichen Schutzes des Selbstseins, begrenzt
durch das Recht auf Selbstsein der anderen.
D. Der Wert des Selbstbestimmungsrechts
Das Selbstbestimmungsrecht ist wiederum Ausdruck und Grundlage personaler
Freiheit und verleiht dem Einzelnen das Recht, autonom über seine Lebensinhalte zu
entscheiden. Diese Freiheit bildet das Urelement menschlicher Selbstbestimmung.
Personale Freiheit ist das Wesen der Person.840 Als geistig-sittliches Wesen ist sein
Dasein darauf angelegt, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten.841
Aus dieser selbstbestimmten Freiheit heraus ergeben sich Ansprüche auf Achtung
seiner Person. Denn in dieser freien selbstbestimmten Wesenheit widerspiegelt sich
das Recht des Menschen auf sich selbst, auf Achtung seiner selbst, seiner Persönlichkeit. So verstanden ist die Persönlichkeit – um deren Schutz es vorliegend vordergründig geht – eine selbstbestimmte menschliche Wesenseinheit, die in freier
Selbstentfaltung steht.
838 Weil dies räumliche Vorstellungen geradezu impliziert, vgl. Brosette, Der Wert der Wahrheit
im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, S. 129; Schmidt, JZ 1974, S.
241, 243; Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, S. 115.
839 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69.
840 Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, S. 64
841 Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 6; Vgl. Coing, Die obersten Grundsätze des
Rechts, S. 68: „Die höchste Aufgabe des Menschen ist die Verwirklichung der Werte, die ihm
als Individualität gegeben und aufgegeben sind. In dieser seiner Entfaltung als geistigsittliches Wesen selbst kann das Recht den Menschen nur schützen, indem es ihm die Freiheit
gewährt, seinem geistig sittlichen Streben zu folgen, es zu äußern und zu betätigen.“
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Das aus der selbstbestimmten menschlichen Persönlichkeit fließende (natürliche)
Recht auf sich selbst ist der Inbegriff des dem Menschen zustehenden Menschenrechts auf Schutz und Achtung seiner Persönlichkeit,842 auf personale Selbstbestimmung und Selbstverfügung.
Aus diesem Sichselbstgehören, dieser selbstbestimmten menschlichen Freiheit,
fließt daher einmal der grundlegende Anspruch des Menschen auf die uneingeschränkte Respektierung der menschlichen Eigensphäre, wie auch der Anspruch auf
größtmögliche Selbstentfaltung. In diesem nicht nur räumlich zu verstehenden Bereich, der jeglichem Zugriff Dritter versperrt ist, offenbart sich der tiefste Grund
menschlichen Seins.843 Dem Menschen als geistig-sittliche Person erwächst in der so
verstandenen selbstbestimmten Freiheit der Anspruch auf Wahrung der Sphäre des
eigenen Selbst.
Nimmt man an dieser Stelle die Begriffe Privatheit und Öffentlichkeit wieder auf,
lässt sich erkennen, dass gerade hierin die Berechtigung liegt, den Wert des Privaten
zu schützen. Privatheit ist mit der so verstandenen Autonomie verbunden,844 die
Grundlage freier Lebensführung ist. Der Kreis schließt sich mit der Erkenntnis, dass
der Mensch seine Würde nur dann erreichen kann, wenn seine Persönlichkeit geachtet wird. Nach hiesigem Verständnis bedeutet dies größtmögliche Gewährung und
Achtung menschlicher Autonomie.
E. Die Grenze der Selbstbestimmung
„Kürze und Bündigkeit mit der der wortkarge Grundgesetzgeber die Grundrechte
formuliert hat“,845 bringen es mit sich, dass ein Konflikt zweier Grundrechte nicht
durch schlichte Subsumtion zu lösen ist.846 Bei der notwendigerweise zu stellenden
Frage nach der Grenze der Selbstbestimmung ist daher erst einmal festzustellen,
wodurch die verfassungsrechtlich gesicherte Selbstbestimmung konkretisiert wird.
Die Antwort ist zunächst einfach: Recht und Gesetz als verbindliche Grenze äu-
ßeren menschlichen Verhaltens hat diese Sphäre der Freiheit zu sichern und damit
den Grundwert der menschlichen Person auf Selbstbestimmung, auf Selbstsein zu
gewährleisten.
842 Vgl. Nietlispach, Grundlagen des Freiheitsrechts, Menschenrechtliche und grundrechtliche
Aspekte, S. 17.
843 Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 6.
844 Vgl. Rössler, Der Wert des Privaten, S. 136.
845 Ossenbühl, Der Staat 10 (1971), S. 53, 59.
846 Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 8.
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References
Zusammenfassung
Der Autor wendet sich der viel diskutierten Frage zu, wie Persönlichkeitsschutz einerseits, Meinungs- und Pressefreiheit andererseits in einer freiheitlichen Rechtsordnung zueinander stehen. Neu dimensionierte Verletzungsmodalitäten in der Medien- und Informationsgesellschaft verlangen eine Überprüfung der bisher nach deutschem Recht vor allem von der Rechtsprechung zum Verhältnis Persönlichkeitsrecht – Meinungs-/Pressefreiheit entwickelten Rechtsgrundsätze.
Ausgehend vom Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem fundamentalen und mit der Menschenwürde in Verbindung stehenden Recht auf Selbstbestimmung, misst der Verfasser die Grundsätze der Konfliktlösung nach deutschem Recht an europäischen Standards und rekonstruiert davon ausgehend den Problemzugang zum nationalen Recht.
Das Werk weist einen Weg, wie der Achtungsanspruch des Einzelnen in verfassungsrechtlich gebotener Weise aufgewertet werden kann, ohne die konstitutive Funktion der Meinungs- und Pressefreiheit für das europäische Modell der pluralistischen Demokratie zu vernachlässigen.