159
Ist man auf den ersten Blick auch geneigt, hierin den Versuch zu erkennen den
Einfluss der EMRK auf die Verfassung trotz der Stellung als nur einfaches Bundesgesetz zu erhöhen, so erweist sich diese Methodik bei genauerer Betrachtung als
konsequente Fortsetzung geltender Dogmatik und Rechtsprechung. Auch wenn regelmäßig einfache Gesetze im Lichte der Verfassung auszulegen sind, so ist das
umgekehrte Verlangen, Gesetze – und die Verfassung - im Lichte der Konvention
auszulegen, Ausdruck der anerkannten Regel der völkerrechtsfreundlichen Interpretation nationaler Rechtsnormen.692 Die Möglichkeit, dem Betroffenen mittelbar eine
Verfassungsbeschwerde über die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zu eröffnen, ist vordergründig nicht einer gewünschten Verstärkung der EMRK geschuldet.
Das Bundesverfassungsgericht setzt damit seine frühe Rechtsprechung fort, wonach
ein solcher Verstoß durch eine offenkundige (willkürliche) Rechtsverletzung der Instanzgerichte begründet sein kann.693
B. Die Verpflichtung der Bundesrepublik aus den Entscheidungen des EGMR
Für die vorliegende Untersuchung ist es weder notwendig, noch ist der Raum dafür
vorhanden, die Problematik umfassend zu erörtern.694 Gleichwohl ist es für die Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen des Caroline von Hannover-Urteils
des EGMR auf die nationale Rechtsprechung entscheidend, ob und inwieweit die
nationalen Gerichte an den Tenor oder bei der Interpretation der Normen der EMRK
an das in den Urteilen des EGMR zum Ausdruck gebrachte Verständnis gebunden
sind. Die geltende Rechtslage soll deshalb in einem zusammenfassenden Überblick
dargestellt werden.
Wie bereits festgestellt, herrscht Konsens in der Frage, unbestimmte Rechtsbegriffe des Grundgesetzes mit Hilfe der Normen der EMRK inhaltlich auszufüllen.695
Dabei kommt den Entscheidungen des EGMR eine tragende Rolle zu, spiegeln sich
doch darin die aktuellen Entwicklungen der Menschenrechte – aus der Sicht des Gerichtshofs – wider.
Unmittelbare Auswirkung auf die innerstaatliche Rechtsordnung können nur solche Entscheidungen des EGMR haben, in denen er mittels eines (positiven) Feststellungsurteils696 eine Konventionsverletzung feststellt.
692 Statt vieler Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 10.
693 BVerfGE 4, S. 1, 7.
694 Hierzu sei auf die umfangreiche Literatur verwiesen.Vgl. Polakiewicz, Die Verpflichtungen
der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; Uerpmann,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung.
695 Vgl. oben Fn. 688.
696 Bei Leistungsurteilen nach Art. 41 EMRK erschöpft sich die Aussage notwendigerweise in
der Verpflichtung des Staates zur Zahlung einer Entschädigung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof ist diesem Verfahrensstadium bereits vorausgegangen.
160
Mit einem negativen Feststellungsurteil hingegen wird dem nationalen Staat konventionsmäßiges Handeln zuerkannt.
Die dort getroffenen Aussagen zur Auslegung der Konvention können aber bedeutsam für die weitere Rechtsprechungspraxis des EGMR sein und so mittelbar auf
die innerstaatliche Rechtsordnung ausstrahlen.
I. Die Regelung der EMRK
Urteile der Großen Kammer des Gerichtshofs sind nach Art. 44 Abs. 1 EMRK endgültig. Urteile einer Kammer werden dies nach Maßgabe des Abs. 2 in der Regel
drei Monate nach dem Datum des Urteils, wenn nicht die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt worden ist. Der Begriff der Endgültigkeit bezeichnet das, was im nationalen Recht der (formellen) Rechtskraft entspricht.697
Gemäß Art.46 EMRK haben sich die Hohen Vertragsparteien verpflichtet, das
endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Damit ist die materielle Rechtskraftwirkung der Urteile des EGMR angesprochen, die grundsätzlich nur die Parteien des Verfahrens trifft und in sachlicher Hinsicht von dem mit der Beschwerde
vorgetragenen historischen Lebenssachverhalt begrenzt wird. Dies erfordert bei der
Beantwortung der Frage nach den Wirkungen des Caroline von Hannover-Urteils
auf die innerstaatliche Rechtsprechung – besonders auf die des Bundesverfassungsgericht - eine Differenzierung, nämlich einmal mit Blick auf die Beschwerdeführerin
und zum anderen fallübergreifend.
II. Die Sichtweise des EGMR
Das Urteil ist zugunsten der Beschwerdeführerin innerstaatlich in einer Form umzusetzen, die einen konventionsgemäßen Zustand herbeiführt, wobei den Mitgliedstaaten frei steht, mit welchen Mitteln sie dieser Verpflichtung genügen wollen.698 Besonders problematisch gestaltet sich dies bei konventionswidrigen Gerichtsurteilen,
da nach innerstaatlichem Recht regelmäßig bereits Rechtskraft eingetreten ist. Ein
Institut zur gerichtlichen Überprüfung rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen
ist die Wiederaufnahme des Verfahrens.699
697 Ress, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen
der Urteile des EGMR im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, S. 227,
231.
698 EGMR, Marckx u.a. gegen Belgien, NJW 1979, S. 2449, 2453; EGMR, Lyons gegen Vereinigtes Königreich, EuGRZ 2004, S. 777, 778.
699 Vgl. die Regelungen der §§ 153 VwGO, 578 ff. ZPO für das Verwaltungsverfahren, §§ 359 ff.
StPO, 79 I BVerfGG für das Strafverfahren, §§ 578 ff. ZPO für das Zivilverfahren. Diese Regelungen stellen im Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materiell richtiger
Entscheidung einen Ausgleich her, vgl. BVerfG MDR 1975, S. 468. Gemeinsam sind all diesen Regelungen die engen Zulässigkeitsvoraussetzungen.
161
Gleichwohl besteht Einigkeit darüber, dass die Einführung eines Wiederaufnahmegrundes der Feststellung einer Verletzung der Konvention durch den EGMR
nicht zur Erfüllung der übernommenen Vertragspflichten seitens der Mitgliedstaaten
geschuldet wird.700 Die zum Zeitpunkt des Urteils des EGMR geregelten Wiederaufnahmegründe in den bundesdeutschen Verfahrensordnungen erfassten den Fall
einer festgestellten Konventionsverletzung folglich auch nicht - mit Ausnahme des
Strafverfahrens.701 Auch wenn es in der Literatur Stimmen gab, die in analoger Anwendung des § 580 Nr. 7 lit. b ZPO einer Entscheidung des EGMR die Qualität eines Wiederaufnahmegrundes zukommen lassen wollten,702 erschöpfte sich die
Pflicht zur Wiedergutmachung in den Möglichkeiten des nationalen Rechts. Die
Wiedergutmachung im Falle Caroline von Hannover war daher auf die Zahlung einer angemessenen Entschädigung beschränkt.
Inzwischen wurde durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom
22.12.2006 § 580 Nr. 8 in die ZPO eingefügt. Danach findet die Restitutionsklage
nunmehr auch statt, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.
Demgegenüber verpflichten die Urteile die nicht am Verfahren beteiligten Staaten
nur mittelbar, eine unmittelbare erga-omnes-Wirkung nimmt der EGMR - schon
wegen des entgegenstehenden Wortlauts des Art. 46 EMRK - nicht an.703
700 Ress, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen
der Urteile des EGMR im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, S. 227,
241; Schmid, Die Wirkungen der Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane, S.
99; a. A. Sattler, Wiederaufnahme des Strafprozesses nach Feststellung der Konventionswidrigkeit durch Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 95 ff.
701 Auch im Strafverfahren wurden auf §§ 359 Nr.5 StPO gestützte Wiederaufnahmeverfahren
ohne Erfolg durchgeführt. Urteile des EGMR sind keine neuen Beweismittel oder Tatsachen
im Sinne dieser Regelung, was sich auf den insoweit eindeutigen Wortlaut stützen lässt, OLG
Stuttgart, MDR 1985, S. 605, OLG Koblenz, MDR 1987, S. 254. Gleiches gilt für § 79 I
BVerfGG. Der Fall der festgestellten Konventionsverletzung lässt sich ohne Überdehnung des
Wortlauts nicht unter diese Vorschrift subsumieren, vgl. OLG Stuttgart, MDR 1985, S. 605.
Diese Sicht hat das BVerfG jeweils ausdrücklich gebilligt, vgl. BVerfG NJW 1986, S. 1425,
BVerfG, Beschluss vom 24.09.1986, 2 BvR 1021/86.
Inzwischen ist der Gesetzgeber – auch in Reaktion auf diese Entscheidungen des BVerfG aktiv geworden und hat mit Gesetz vom 09.07.1998, BGBl. I, S. 1802 § 359 Nr. 6 StPO eingefügt, wonach die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR einen Wiederaufnahmegrund darstellt.
702 Zöller/Vollkommer, ZPO, Einl. Rn. 136.
703 Auch aus dem Urteil des EGMR, Loizidou gegen Türkei, 23.03.1995, Ziffer 84,
www.echr.coe.int, lässt sich nichts anderes entnehmen. Zwar führt das Gericht aus, dass es
sich bei der Konvention um ein „europäisches Verfassungsinstrument“ handle und ihm die
Einhaltung des Vertragsrechts („law-making treaty“) obliege. Doch vermeidet es eine klare
Aussage zur Reichweite der rechtlichen Bindungswirkung.
162
Gleichwohl entfalten die Urteile für die anderen Mitgliedsstaaten eine „Orientierungswirkung“ dahingehend, die darin vertretene Auslegung der Konvention bei ihrer Entscheidungsfindung zu beachten, schon um die künftige Feststellung einer
Verletzung der EMRK gegen sich zu vermeiden.
Aus dieser bei Nichtbeachtung der Auslegung des Gerichtshofs drohenden festzustellenden Konventionsverletzung wird vereinzelt anstatt einer bloß faktischen Wirkung der Auslegung der Konvention durch den EGMR eine umfassende normative
Wirkung gefolgert.704 Wildhaber argumentiert damit, dass der Gerichtshof mit seiner
Auslegung die Konventionsrechte konkretisiert, den jeweiligen Entwicklungsstand
dokumentiert und seine Präjudizien damit „an der völkerrechtlichen Verpflichtungskraft des Grundvertrages“ teilnehmen.705 In der Rechtsprechung des EGMR hat sich
diese Sicht in dieser scharfen Form nicht manifestiert.
III. Die Sichtweise der deutschen Fachgerichte
Es wurde schon dargelegt, dass nationale Gerichte unter Berufung auf die Regel „lex
posterior derogat legi priori“ immer wieder konventionsunfreundlich entschieden
haben.706 Eine andere Qualität aber haben Entscheidungen nationaler Gerichte, die
eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR schlichtweg ablehnen.
So führte das LG Bielefeld betreffend die Erstattung von Dolmetscherkosten auch
im Bußgeldverfahren707 aus: „Eine ausdehnende Auslegung dieser Vorschriften
(scil. §§ 46 Abs. 1 OWiG, 464a Abs. 1 S. 1 StPO in der damals geltenden Fassung),
insbesondere aber des Art. 6 Abs. 3 e EMRK, über den Wortlaut hinaus auch auf
andere dem Strafverfahren ähnliche Verfahren erscheint nicht angebracht, da es sich
um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift handelt (...). An dieser – von dem
Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 21.02.1984 (NStZ 1984, S. 269) abweichenden – Entscheidung war die Kammer nicht gehindert, da eine Bindungswirkung, etwa entsprechend § 358 Abs. 1 StPO, nicht eintritt. Nach Art. 53 EMRK
(a.F.) sind nur die vertragsschließenden Parteien – das sind nach der Präambel zur
EMRK die betreffenden Regierungen – die Verpflichtung eingegangen, sich an die
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes zu halten, so dass nur insoweit eine
Bindung bestehen kann.“708
704 Bernhard, Einwirkungen der Entscheidungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen auf
das nationale Recht, in: FS Doehring, S. 23, 29; Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387, 389; Vgl.
Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, S. 279 ff.; Wildhaber, ZSR NF 98 (1979), S. 229, 355 ff.
705 Wildhaber, ZSR NF 98 (1979), S. 229, 355 ff.
706 Siehe oben Fn. 687.
707 Vgl. KG Berlin Rpfleger 1988, S. 330 ff.
708 LG Bielefeld, JurBüro 1988, S. 908. Ebenso äußerte sich in gleicher Sache das LG Osnabrück, JurBüro 1986, S. 1224, 1225.
163
Diese ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsprechung des EGMR ist weder
ein Einzelfall, noch zeitlich überholt. So hat erst kürzlich das OLG Naumburg in einem Beschwerdeverfahren gegen den dem Kindesvater im Wege der einstweiligen
Anordnung das Umgangsrecht einräumenden Beschluss ausgeführt: „Der Erlass der
einstweiligen Anordnung lässt sich auch nicht mit dem im Februar dieses Jahres zugunsten des Kindesvaters ergangenen Urteil des EGMR rechtfertigen.
Zwar lässt sich der Entscheidung entnehmen, dass der seinerzeit im Juni 2001 angeordnete Ausschluss des Umgangs nach Ansicht des Gerichtshofs das Recht des
Kindesvaters auf Achtung seines Familienlebens nach Art. 8 EMRK verletzt habe,
und unter Ziffer 64 des Urteils ist ausgeführt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland als beteiligter Vertragsstaat gemäß Art. 46 EMRK verpflichtet habe, den Urteilen des EGMR Folge zu leisten, was hier bedeute, dass durch geeignete Maßnahmen
zur Anpassung der Rechtsprechung dem Kindesvater zumindest das Recht auf Umgang zu ermöglichen sei. Doch bindet dieser Urteilsspruch unmittelbar nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deren Organe oder Behörden und namentlich nicht die Gerichte als nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängige
Organe der Rechtsprechung. Die Wirkung des Urteilsspruchs erschöpft sich mithin
de iure und de facto (...) in der Feststellung und Sanktionierung einer in der Vergangenheit nach Ansicht des EGMR liegenden Rechtsverletzung, sodass einem wie
immer zu wertenden, jedenfalls für die Gerichte unverbindlichen Ausspruch hinsichtlich einer künftig nach Ansicht des Gerichtshofs hierzulande gesetzlich gebotenen Änderung des Umgangs – und Sorgerechts nichtehelicher Väter ebenso wenig
Bedeutung, geschweige denn bindende Wirkung zukommt, wie die Entscheidung
selbst ohne Einfluss auf die Rechtskraft der beanstandeten Entscheidung bleibt. (...)
Funktionell ist der EGMR im Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedstaaten kein
höherrangiges Gericht, weshalb die nationalen Gerichte weder bei der Auslegung
der Menschenrechtskonvention noch bei der Auslegung nationaler Grundrechte an
dessen Entscheidung gebunden sein können. Sie unterliegen lediglich der immanenten Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts.“709
In einer weiteren denselben Sachverhalt betreffenden Entscheidung hat das Gericht die Konfrontation in polemischer Art und Weise geradezu herausgefordert und
die Entscheidung des EGMR auch inhaltlich offen in Frage gestellt.710 So sei eine
auch nur mittelbare Bindungswirkung „schon mangels plausibler Begründung der
einen derartigen Verstoß (scil. gegen Art. 8 EMRK) eher gleichermaßen apodiktisch
wie apriorisch behauptenden, aber nicht schlüssig oder auch nur widerspruchsfrei
feststellenden Entscheidung nicht ausfindig zu machen.“711
709 OLG Naumburg, Beschluss vom 30. Juni 2004, EuGRZ 2004, S. 749, 751. Klein, JZ 2004, S.
1176 attestiert dem OLG Naumburg ein geringes Verständnis für die internationalen Zusammenhänge, in die Staaten heute eingebunden sind. Vgl. auch OLG Naumburg, Beschluss vom
09.07.2004, FamRZ 2004, S. 1507, 1508.
710 Zur zum Teil auch offenen Kritik der deutschen Fachgerichte an der Rechtsprechung des
BVerfG vgl. Benda, NJW 2001, S. 2947.
711 OLG Naumburg, Beschluss vom 09.07.2004, FamRZ 2004, S. 1507, 1508.
164
Auch dass Bundesverwaltungsgericht hat sich bei seinen Entscheidungen schon
mehrfach gegen die Rechtsprechung des EGMR gestellt und dabei ausdrücklich auf
die Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis hingewiesen.
So führt das Gericht im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit von Art. 3
EMRK712 auch auf von nichtstaatlicher Seite drohende Leibes- oder Lebensgefahren
aus: „Der erkennende Senat hält auch angesichts dieser letzten Entscheidung des
EGMR713 daran fest, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m.
Art. 3 EMRK nur dann in Betracht kommt, wenn die dem Ausländer im Zielstaat
drohende Misshandlung vom Staat oder einer staatsähnlichen Organisation ausgeht
oder zu verantworten ist. Die rechtlichen Ausführungen des EGMR in der Sache D.
gegen Vereinigtes Königreich verwischen die Grenzen des Schutzbereichs des Art. 3
EMRK. Dies gilt insbesondere angesichts der Aussage des EGMR, er dürfe selbst
solche Fälle anhand Art. 3 EMRK prüfen, in denen die Quelle der Gefahr für den
Antragsteller auf Umstände zurückzuführen sei, die (...) nicht in sich selbst die Standards des Art. 3 EMRK verletzen. (...) Damit erhöht sich die Gefahr, dass Art. 3
EMRK in eine unbestimmt weite vom Vertragszweck und vom Willen der Vertragsstaaten nicht mehr getragene Generalklausel umgeformt wird (...).“714
Gleichwohl legen die Gerichte in einer Vielzahl von Fällen ihren Entscheidungen
die Auslegung des EGMR zu Grunde.715 Offen bleibt dabei aber regelmäßig, ob sich
die nationalen Gerichte an diese Entscheidungen gebunden sehen, oder ob sie ihnen
folgen, weil sie diese auch in der Sache für richtig halten.
IV. Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts
Das vorgenannte Urteil des OLG Naumburg gab dem Bundesverfassungsgericht in
dem dagegen erhobenen Verfassungsbeschwerdeverfahren die Gelegenheit, sich
ausführlich zu den Wirkungen der Urteile des EGMR auf die nationale Rechtsordnung und die Rechtsprechung der nationalen Gerichte zu äußern.716
712 Art. 3 EMRK lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterzogen werden.“
713 EGMR, D. gegen Vereinigtes Königreich, NVwZ 1998, S. 161 ff. In dieser Entscheidung hat
der EGMR zwar zunächst noch hervorgehoben, dass er bis dahin Art. 3 EMRK nur auf Fälle
angewandt hat, in denen dem von einer Abschiebung Betroffenen eine absichtlich zugefügte
unmenschliche Behandlung durch die öffentlichen Behörden des Empfangsstaates oder durch
nichtstaatliche Gruppen in diesem Lande gedroht hat, gegen die die Behörden ihm keinen ausreichenden Schutz hätten bieten können. Wegen der fundamentalen Bedeutung von Art. 3
EMRK im System der Konvention sehe er sich jedoch nicht daran gehindert, Art. 3 EMRK
auch auf die Fälle anzuwenden, in denen die Gefahr einer nach dieser Norm verbotenen Behandlung auf Umstände zurückzuführen sei, die weder direkt noch indirekt eine Verantwortlichkeit der öffentlichen Behörden des Empfangsstaates begründeten.
714 BVerwG NVwZ 1999, S. 311, 312.
715 BVerwG NVwZ 2000, S. 810.
716 BVerfG, NJW 2004, S. 3407.
165
1. Grundsätze der neuesten Rechtsprechung zur Bindungswirkung
Nicht neu sind die Ausführungen des Gerichts zum Rang der EMRK im nationalen
Recht, zur formellen Rechtskraft der Entscheidungen nach Art. 42, 44 EMRK und
der aus Art. 46 EMRK folgenden, durch die personellen, sachlichen und zeitlichen
Grenzen des Streitgegenstands begrenzten materiellen Rechtskraft.717 Hier folgt das
Gericht seiner bisherigen Rechtsprechung.718
Doch schon mit der Aussage im ersten Leitsatz betritt das Gericht – zumindest in
dieser deutlichen Form – Neuland, wenn es ausspricht, dass zur Bindung an Gesetz
und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG die Berücksichtigung der Gewährleistungen der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung gehört.719 Gerade der zweite Halbsatz stellt
eine willkommene Klarstellung dar, gehören Entscheidungen doch grundsätzlich
nicht zu Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG720 und kommt Entscheidungen
von Gerichten – mit Ausnahme der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
nach § 31 BVerfGG - weder eine unmittelbare Bindungswirkung, noch Gesetzeskraft zu. Zwar ist die Problematik an diesem Verlangen nach „Berücksichtigung“
nicht zu übersehen, ist der Begriff doch extrem unbestimmt.721 Doch bemüht sich
das Bundesverfassungsgericht im Folgenden selbst um eine Bestimmung und konkretisiert die den Fachgerichten auferlegten Pflichten.
717 BVerfG, NJW 2004, S. 3407.
718 BVerfG, NJW 1986, S. 1425 ff.
719 BVerfG, NJW 2004, S. 3407.
720 Vgl. Sommermann, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 275.
721 Die Unbestimmtheit dieses Begriffes wurde von Geyer, FAZ vom 20.10.2004, S. 33, wie folgt
beschrieben: „Es gelte lediglich die Straßburger Entscheidungen hierzulande zu `berücksichtigen´. Was aber heißt berücksichtigen? Berücksichtigen heißt, sich `gebührend´ mit ihnen auseinander zu setzen. Was aber heißt `gebührend´? Gebührend heißt, sie `schonend´ in die nationale Rechtsprechung einzupassen. Was aber heißt schonend? Schonend heißt, sie als `Auslegungshilfe´ heranzuziehen. Was aber heißt Auslegungshilfe? Auslegungshilfe heißt, die
Straßburger Entscheidungen in den Willensbildungsprozess deutscher Gerichte `einfließen´ zu
lassen. Was aber heißt einfließen lassen? Einfließen lassen heißt (...) sie `zur Kenntnis zu
nehmen´. So dass man sich also gebunden und `im konkreten Ergebnis nicht gebunden´ weiß.
166
a) Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
Um nicht in einen offenen Widerspruch zu Art. 20 Abs. 3 GG zu geraten, stellt das
Bundesverfassungsgericht hier die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes722
in den Mittelpunkt, welche die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die allgemeinen Regeln des
Völkerrechts fördert und deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht
entsteht.723 Bei der inhaltlichen Ausfüllung des zu beachtenden Konventionsrechts
kommt den Entscheidungen des EGMR die wesentliche Rolle zu, weil sich darin der
Entwicklungsstand der jeweiligen Konventionsrechte widerspiegelt.
Im weiteren Fortgang der Entscheidungsgründe präzisiert das Bundesverfassungsgericht dann, was es unter methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung in diesem Zusammenhang versteht, nämlich dass die entsprechenden Texte und Judikate
zumindest zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des
zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen.724 Das nationale Gericht hat die vom Gerichtshof in seiner
Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung
einzubeziehen und sich mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen auseinanderzusetzen.725 Eine bedingungslose Übernahme der Rechtsprechung
des EGMR fordert das Bundesverfassungsgericht aber gerade nicht, wenn es ausführt, dass sich Behörden und Gerichte mit der Entscheidung erkennbar auseinandersetzen müssen, ein Abweichen von der völkerrechtlichen Rechtsauffassung aber
möglich ist, solange die abweichende Auffassung nachvollziehbar begründet
wird.726
722 Vgl. dazu BVerfGE 23, S. 288, 316; BVerfGE 46, S. 342, 363; BVerfGE 64, S.1, 20; BVerf-
GE 74, S. 358, 370; BVerfGE 75, 1, 18; Bleckmann, DÖV 1996, S. 137 ff.; Sommermann,
AöR 114 (1989), S. 391 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I,
S. 476; Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in:
Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 172 Rn. 27.
723 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3408.
724 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3410.
725 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3410.
726 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3409. Im zweiten Satz der Begründetheitsprüfung der Beschwerde führt das Gericht aus: „Die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland
sind verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen die Europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den Gerichtshof bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.“
167
b) Nationale Teilrechtssysteme
Gerade dann, wenn Entscheidungen des Gerichtshofs auf durch differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme treffen, in denen widerstreitende Grundrechtspositionen durch die Bildung von Fallgruppen und abgestuften Rechtsfolgen
zu einem Ausgleich gebracht werden, ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, eine
Entscheidung des EGMR in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen.727 Die enorme Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dieser Aussage beimisst, spiegelt sich darin wider, dass es auch diesen Gedanken seiner
Entscheidung als zweiten Leitsatz vorangestellt hat. Die Grenze der konventionsgemäßen, völkerrechtsfreundlichen Auslegung hält das Bundesverfassungsgericht also
dann für erreicht, wenn die Berücksichtigung eines Urteils des EGMR gegen die
Verfassung verstößt.728
Um den Anforderungen des Art. 20 Abs. 3 GG zu genügen, ist dem nationalen
ausbalancierten Teilrechtssystem der Vorrang einzuräumen. Das Gericht führt aus,
dass es in diesen ausbalancierten Teilsystemen nationalen Rechts, wo verschiedene
Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich gebracht werden, weder der völkervertraglichen Grundlage, noch dem Willen des Gerichtshofs entsprechen kann,
mit seinen Entscheidungen gegebenenfalls notwendige Anpassungen innerhalb einer
nationalen Teilrechtsordnung unmittelbar selbst vorzunehmen.729
Die Vereinbarkeit von nationalem Recht und Völkerrecht lässt sich dann nur
durch eine Änderung der Verfassung herstellen.730
2. Bewertung
a) Maßstab – Die Stellung der EMRK im deutschen Recht
Gemessen an der Stellung der EMRK im deutschen Recht731 ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts konsequent. Die Beachtung des Völkervertragsrechts wird
nicht in Zweifel gezogen, mit dem betonten Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des (Grund-) Gesetzes vielmehr bestätigt.
727 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3411.
728 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3411.
729 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3411.
730 Vgl. Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15, 17.
731 Vgl. oben, Dritter Teil, § 6 A, S. 153 ff. und nochmals deutlich BVerfG, NJW 2004, S. 3407.
168
Die Grenze der Völkerrechtsfreundlichkeit muss aber notwendig das demokratische
und rechtsstaatliche System des Grundgesetzes sein, weil das Grundgesetz gerade
nicht die größtmögliche Bindung an völkerrechtliche Verträge – durch die Gewährung von Verfassungs- oder sogar Überverfassungsrang - vorgesehen hat.
So ist es nur folgerichtig, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus die Möglichkeit und Pflicht sieht, ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht zu beachten,
wenn nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung
abzuwenden ist, weil dieses letzte Wort der deutschen Verfassung Ausdruck der nationalen Souveränität ist.732 Gerade dieser ausgesprochene Souveränitätsgedanke ist
sowohl auf nationaler,733 wie auch auf internationaler Ebene734 scharf kritisiert worden. Doch schwankt das Gericht nicht „zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und der
Behauptung einer deutschen Verfassungssouveränität“735, sondern bringt beide elementaren Verfassungsgrundsätze zu einem verfassungsrechtlich auch gebotenen
Ausgleich. Die Existenz nationaler Verfassungssouveränität kann nicht ernsthaft angezweifelt werden.736 Die in verschiedenen Mitgliedstaaten aufkommende Unruhe737
bezüglich der Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR kann dem Bundesverfassungsgericht schon deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil es diese
Frage auf verfassungsrechtlicher Grundlage (nur) für die Bundesrepublik Deutschland entschieden hat. Mag dieses Urteil aus rein völkerrechtlicher Sicht im Ergebnis
auch unbefriedigend sein,738 so darf es gleichwohl nicht unter Übergehung verfassungsrechtlicher Grundsätze aufgeweicht werden.
732 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3409. Das Gericht spricht in diesem Zusammenhang zwar nur
vom Gesetzgeber, es ist aber davon auszugehen, dass er jeglicher Staatsgewalt diese Möglichkeit und Pflicht zuerkennt.
733 Cremer, EuGRZ 2004, S.683 ff: „Der Görgülü Beschluss zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit
und falsch verstandener Souveränität.“
734 Wildhaber, DER SPIEGEL 47/2004, S.50: „Das tut mir weh“
735 Cremer, EuGRZ 2004, S. 683, 684; Wohl auch Wildhaber, DER SPIEGEL 47/2004, S. 50,
wenn er ausführt: „Ach, dieser Beschluss hat viele Passagen, und es geht hin und her.“
736 Folgt schon aus Art. 24 GG. Auch die „Solange II-Rechtsprechung“ des BVerfG war Folge
dieses Souveränitätsgedankens der Verfassung, BVerfGE 73, 339, 375 ff. Das Gericht überließ dem EuGH nicht zwingend das letzte Wort für die Prüfung von sekundärem Gemeinschaftsrecht am Maßstab der Grundrechte. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 183 Rn. 66,
führt für die Europäische Integration aus: „Die Öffnung der nationalen Rechtsordnung für Europarecht basiert auf der Verfassungsstaatlichkeit und findet dort ihre Grenze.“ Vgl. des weiteren: Papier, FAZ vom 09.12.2004, S.5: „Das Grundgesetz ist eine sehr völkerrechtsfreundliche Verfassung. Aber sie verzichtet nicht auf das letzte Wort als Ausdruck der staatlichen
Souveränität.“ Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, in: FS Böckenförde,
S. 29, 30.
737 „Seit wir mit dem deutschen Verfassungsgericht in diese Diskussion geraten sind, haben sich
die Anfragen aus anderen Staaten – aus der Türkei und Polen – gehäuft, ob man sich wirklich
in allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse“, Wildhaber, DER SPIEGEL
47/2004, S. 50, 54.
738 Vgl. Cremer, EuGRZ 2004, S. 683, 684.
169
Ein weiterer Schritt der Öffnung für völkerrechtliche Bindungen erfordert eine
Änderung der verfassungsrechtlichen Grundlagen.
b) Maßstab – Zielsetzung der EMRK
Auch vor dem Hintergrund, dass maßgebliches Vertragsziel die Etablierung eines
menschenrechtlichen Mindeststandards739 war, ist dieser Argumentation uneingeschränkt beizupflichten. Bei der Anwendung völkerrechtlicher Verträge ist deren
Ziel und Zweck als wesentlicher Grundsatz zu berücksichtigen.740 Es ist die Aufgabe
des EGMR zu prüfen und gegebenenfalls dann auch festzustellen, „ob der Menschenrechtsschutz der Konvention in grundsätzlicher oder in systematischer Hinsicht
von dem betreffenden Staat missachtet wird.“741 Die Vornahme der Feinabstimmung
innerhalb verschiedener nationaler Grundrechtskonflikte durch den EGMR wird
hingegen vom Vertragszweck nicht gedeckt. Dies ist auch innerhalb des Gerichtshofs unumstritten. So geht der Präsident des EGMR, Luzius Wildhaber, auch nach
dem Caroline von Hannover-Urteil des EGMR davon aus, dass der Gerichtshof den
Staaten Ermessensspielraum einräume und selbst nur Mindeststandards festlege.742
Diese Aussage lässt sich mit dem Urteil des EGMR in dieser Sache nicht in Einklang bringen. Nicht zweifelhaft kann schon sein, dass das Bundesverfassungsgericht selbst ein Mindestmaß an Persönlichkeits- und Privatspärenschutz gewährleistet. Schließlich ist nicht zu erkennen, wo der Präsident im Rahmen der dort getroffenen Abwägung noch einen Ermessensspielraum für nationale Gerichte sieht.
c) Notwendigkeit der Aussagen zur Bindungswirkung
Zum Teil wird davon gesprochen, das Bundesverfassungsgericht habe ohne Not die
Grenze der Bindungswirkung von EGMR-Urteilen bis ins Einzelne bestimmt. Dies
mag zutreffen, soweit isoliert auf den diesem Beschluss zu Grunde liegenden Sachverhalt abgestellt wird.
739 Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 21.
740 Nach Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in
Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Vgl. Doehring,
Völkerrecht, Rn. 390.
741 So deutlich Papier, FAZ vom 09.12.2004, S.5.
742 Wildhaber, DER SPIEGEL 47/2004, S. 50, 52.
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Übersehen wird dabei aber, dass der EGMR gerade im Caroline von Hannover-
Urteil entgegen seiner eigenen Rechtsprechung weitestgehend davon abgekommen
ist, den Vertragsstaaten beim Ausgleich konfliegierender Grund- und Menschenrechte in der Drittrichtung – wie auch beim Ausgleich zwischen Freiheitsschutz des
Einzelnen und Freiheitsbeschränkung im Staatsinteresse – einen großzügig bemessenen Einschätzungsspielraum zuzugestehen.743 Ein solcher ist dort nicht mehr erkennbar. Somit bestand für das Bundesverfassungsgericht sehr wohl die Notwendigkeit, zur Frage der Bindungswirkung bei sich bietender Gelegenheit dezidiert Stellung zu nehmen.
Es wäre auch irrig anzunehmen, der EGMR würde durch seine Entscheidungen
ein Mehr an Grundrechtsschutz erreichen. Gerade in der Drittrichtung ist dies kaum
möglich. Kollidieren zwei Freiheitsgrundrechte - insbesondere Persönlichkeitsrecht
und Kommunikationsfreiheiten - miteinander, so führt ein Mehr an Freiheit bei dem
Einen, notwendigerweise zu einem Weniger an Freiheit bei dem Anderen. Es kommt
immer darauf an, beide Rechte optimal zur Geltung zu bringen. Bei dieser Optimierung handelt es sich im hier relevanten Bereich aber regelmäßig um hochgradig einzelfallbezogene Nuancierungen, nicht um die Klärung grundsätzlicher Fragen des
Grund-/Menschenrechtsschutzes. Anders kann man dies möglicherweise in der
Staatsrichtung sehen. Werden im Staatsinteresse liegende Grundrechtseingriffe vermieden, kann sich die Freiheit für den Einzelnen durchaus erhöhen.744
3. Das Bundesverfassungsgericht in Gesellschaft des EuGH
Wie gezeigt, ist die Konsequenz, dass Urteile des EGMR nicht in jedem Fall vollumfänglich im nationalen Recht berücksichtigt werden müssen, darauf zurückzuführen, dass sich der deutsche Verfassungsgeber nicht für den Weg der am weitesten
möglichen Öffnung für das Völkervertragsrecht entschieden hat.745 Die Verfassung
spricht deshalb das letzte Wort.746
743 Vgl. EGMR, Prager und Oberschlick gegen Österreich, 26.04.1995, Ziffer 35 ff.,
www.echr.coe.int.
744 Zu beachten sind in diesem Zusammenhang aber die staatlichen Schutzpflichten, wonach
Grundrechtsbeschränkungen zu Gunsten der Sicherung anderer Grundrechte notwendig sind,
ein Grundrecht seine Wirkung erst durch die Beschränkung eines anderen Grundrechts entfalten vgl. BVerfGE 39, 1, 42 ff.; BVerfGE 88, 203, 251 ff., Schutzpflicht zu Gunsten des Lebens bei Schwangerschaftsabbruch.
745 Vgl. oben, Dritter Teil, § 6 A, S. 153 ff.
746 Vgl. Papier, FAZ vom 09.12.2005, S. 5.
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Auch für die Gemeinschaftsrechtsordnung stellt sich die Frage nach den innergemeinschaftlichen Rang völkerrechtlicher Verträge. Spätestens dann, wenn es zu einer Kollision von Gemeinschafts- und Völkervertragsrecht kommt, stellt sich die
Frage, welcher der kollidierenden Normen der Vorrang einzuräumen ist.747
Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass völkerrechtliche
Verträge einen integrierenden Bestandteil des Gemeinschaftsrechts bilden.748 Sie
entfalten unmittelbare Wirkung dahingehend, dass der Einzelne eine völkervertragliche Bestimmung vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaft geltend machen
kann.749
Grundlage dieser Rechtsprechung ist auch750 Art. 300 Abs. 7 EGV, wonach nach
Maßgabe dieses Artikels geschlossene Abkommen für die Organe der Gemeinschaft
und für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Daraus lässt sich der Vorrang von völkerrechtlichen Gemeinschaftsabkommen vor sekundärem Gemeinschaftsrecht ableiten.751 Den Gemeinschaftsorganen ist es wegen der aus Art. 300 Abs. 7 EGV folgenden Bindung verwehrt, den geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen widersprechendes sekundäres Gemeinschaftsrecht zu setzen.752
747 Die Diskussion wird dort mit demselben Inhalt geführt, wie verstärkt in Deutschland nach
dem Görgülü-Beschluss des BVerfG, vgl. Petersmann, EuZW 1997, S. 325 ff: „Darf das Gemeinschaftsrecht Völkerrecht ignorieren?“
748 EuGH-Racke, Rs. C-162/96, Slg. 1998, 3655, 3657; EuGH-Demirel, Rs. 12/86, Slg. 1987, S.
3747, 3750; EuGH-Kupferberg, Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641, 3642;.
749 EuGH-Kupferberg, Rs. 104/81, Slg. 1982, S. 3641.
750 Diese Rechtsprechung ergibt sich bereits aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „Pacta sunt
servanda, vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1719.
751 Krück, Völkerrechtliche Verträge im Recht der Europäischen Gemeinschaften. Abschlusskompetenzen, Bindungswirkung, Kollisionen, S. 170. Streinz, JuS 1999, S. 698; Streinz, Europarecht, Rn. 605; Oppermann, Europarecht, Rn. 1719. Epiney, EuZW 1999, S. 5, 7. Die
Auseinandersetzung mit dieser gemeinschaftsrechtlich relevanten Frage fällt in den Zuständigkeitsbereich des EuGH, vgl. EuGH, International Fruit Company, Rs. 21-24/72, Slg. 72, S.
1219 ff.
Der EuGH vertritt in seiner Rechtsprechung zum GATT 1947 (General Agreement of Tariffs
and Trade; ersetzt mit Gründung der WTO (World Trade Organisation) vom 15. April 1994,
die am 1. Januar 1995 ihre Arbeit aufnahm) einen engeren Standpunkt. Danach können völkerrechtliche Verträge eine EG-Verordnung nur dann beeinträchtigen, wenn sie unmittelbar
anwendbar sind, stärkt also die Position des sekundären Gemeinschaftsrechts gegenüber dem
Völkervertragsrecht, indem er gemeinschaftsrechtliche Sekundärrechtsakte nicht an den Bestimmungen des GATT misst, EuGH NJW 1974, S. 438; EuGH EuZW 1994, S. 688, 693.
Nach In Kraft treten der WTO-Übereinkünfte hat der EuGH an dieser Rechtsprechung festgehalten, EuGH-Portugal gegen Rat, Rs. C-149/96, Slg. I-1999, S. 8395, 8396. Eingehend zu
dieser Problematik Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher
Verträge im Europäischen Gemeinschaftsrecht; Neugärtner/Puth, JuS 2000, S. 640 ff.
752 Vgl. Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 300 EGV Rn.
77.
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Das letzte Wort spricht aber auch innerhalb dieses Konflikts das Gemeinschaftsrecht. Primäres Gemeinschaftsrecht hat nämlich Vorrang vor Völkervertragsrecht.753
Kollidiert also Völkervertragsrecht mit primären Gemeinschaftsrecht tritt die Einhaltung der völkervertraglichen Verpflichtungen hinter die innergemeinschaftliche
Konstitutionalität zurück.
Zusammenfassend lässt sich daher auch das Verhältnis von primären Gemeinschaftsrecht und Völkervertragsrecht entsprechend der verfassungsrechtlichen Lage
des Verhältnisses von Völkervertragsrecht und Verfassungsrecht in der BRD charakterisieren.
C. Konsequenzen für die Konfliktlösung zwischen Persönlichkeitsschutz und den
Kommunikationsfreiheiten auf der Basis dieser Rechtsprechung
I. Keine Bindungswirkung
Das Bundesverfassungsgericht sieht sich von der Völkerrechtsfreundlichkeit des
Grundgesetzes nicht daran gehindert, ausnahmsweise vom Völkervertragsrecht abzuweichen, wenn „nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der
Verfassung abzuwenden ist.“754 Diese „tragenden Grundsätze der Verfassung“ sind
zwar inhaltlich ausfüllungsbedürftig, doch klingt diese Voraussetzung sehr eng. Es
sieht zunächst so aus, als seien „geringe“ Verfassungsverstöße im Interesse des Völkervertragsrechts dennoch hinzunehmen. Im Rahmen des Grundrechtsschutzes sollten die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes als gewahrt angesehen werden, solange der Wesensgehalt der betreffenden Grundrechte nicht angetastet wird, Art. 19
Abs. 2 GG. Die einzelfallbezogene Abwägung zweier konfligierender Grundrechte
wird den Wesensgehalt eines dieser Grundrechte regelmäßig nicht berühren, sollte
die Abwägung im Ergebnis auch nicht beiden Grundrechten zu maximaler Geltung
verhelfen. Konsequenterweise dürfte man in der vom EGMR im Caroline von Hannover – Urteil vorgenommenen Abwägung zwischen Privatsphärenschutz und Meinungsfreiheit keinen Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung sehen und
müsste folglich der Völkerrechtsfreundlichkeit im Sinne einer Bindungswirkung nationaler Gerichte den Vorrang einräumen.
Diese als ultima ratio ausgestaltete Möglichkeit, Völkervertragsrecht nicht beachten zu müssen, hat das Bundesverfassungsgericht im selben Urteil deutlich ausgeweitet.
753 Streinz, Europarecht, Rn. 605; Tomuschat, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag,
Art. 300 EGV Rn. 83; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rn. 77; Müller-
Ibold, in: Lenz/Borchardt, EU-/EG-Vertrag, Kommentar, Art. 300 EGV Rn. 5.
754 BVerfG, NJW 2004, S. 3407, 3409.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Autor wendet sich der viel diskutierten Frage zu, wie Persönlichkeitsschutz einerseits, Meinungs- und Pressefreiheit andererseits in einer freiheitlichen Rechtsordnung zueinander stehen. Neu dimensionierte Verletzungsmodalitäten in der Medien- und Informationsgesellschaft verlangen eine Überprüfung der bisher nach deutschem Recht vor allem von der Rechtsprechung zum Verhältnis Persönlichkeitsrecht – Meinungs-/Pressefreiheit entwickelten Rechtsgrundsätze.
Ausgehend vom Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem fundamentalen und mit der Menschenwürde in Verbindung stehenden Recht auf Selbstbestimmung, misst der Verfasser die Grundsätze der Konfliktlösung nach deutschem Recht an europäischen Standards und rekonstruiert davon ausgehend den Problemzugang zum nationalen Recht.
Das Werk weist einen Weg, wie der Achtungsanspruch des Einzelnen in verfassungsrechtlich gebotener Weise aufgewertet werden kann, ohne die konstitutive Funktion der Meinungs- und Pressefreiheit für das europäische Modell der pluralistischen Demokratie zu vernachlässigen.