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Dritter Teil - Versuch einer Harmonisierung
In den vorangehenden Abschnitten wurde das Spannungsverhältnis zwischen den
Kommunikationsfreiheiten und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht/Privatsphärenschutz und die Lösung dieses Konflikts auf Basis der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Bei dem notwendigen Schutz, dessen die Persönlichkeit bedarf, bei ihrem Anspruch auf Ruhe und Integrität ihrer Psyche, ihrem Verlangen
nach Freiheit von äußeren Zwängen, geht es um die Sicherung menschlichen Daseins über die bloße physische Existenz hinaus.653 Die hierzu verfolgten unterschiedlichen Lösungen der Gerichte führen zu einem weiteren Spannungsverhältnis, nämlich dem zwischen EGMR und Bundesverfassungsgericht.
§ 6: Die Auswirkungen des Urteils auf die nationale Rechtsprechung
Der EGMR hat in seinem viel beachteten Urteil eine Vertragsverletzung durch die
deutschen Gerichte festgestellt, weil die Veröffentlichung diverser Fotos der Prinzessin Caroline von Hannover, der vormaligen Prinzessin Caroline von Monaco, einen Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK darstellt und die deutschen Gerichte dieses Recht bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht in ausreichendem Maße gewürdigt haben.
Derartige Rechtsprechungsdivergenzen zwischen beiden Gerichten sind selten.
Einer der ersten bekannt gewordenen Fälle betraf die Regelung der sogenannten
Feuerwehrabgabe, die der EGMR654 entgegen der vorher ergangenen Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts655 als nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts bewertete (Art. 14 EMRK). Der Konflikt löste sich förmlich
von selbst, weil das Bundesverfassungsgericht in seiner nur ein halbes Jahr später
ergangenen Entscheidung ebenfalls die Verfassungswidrigkeit der Feuerwehrabgabe
aussprach.656
Auch bezogen auf das Recht der freien Meinungsäußerung gab es schon Divergenzen. So blieb die Verfassungsbeschwerde einer Lehrerin gegen ihre Entlassung
aus dem Schuldienst wegen einer Kandidatur für die DKP erfolglos.657 Der EGMR
sah hierin jedoch einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 10 EMRK.658
653 Benda, Privatsphäre und „Persönlichkeitsprofil“, in: FS Geiger, S. 23, 33.
654 EGMR, Schmidt gegen Deutschland, NVwZ 1995, S.365 ff.
655 BVerfGE 13, S. 167 ff.
656 BVerfGE 92, S. 91, 109 ff.
657 BVerfG, Beschluss vom 07.08.1990, 2 BvR 2034/89.
658 EGMR, Vogt gegen Deutschland, EuGRZ 1995, S. 590 ff.
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Auf ein breites öffentliches Echo stießen auch die „Neubauern-Entscheidungen“
des EGMR.659
Entgegen dem Bundesverfassungsgericht660 sah der EGMR in der entschädigungslosen Enteignung der Erben von „Bodenreform-Land“ zunächst eine Verletzung der Eigentumsgarantie aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK. 661
Nach der Anrufung der Großen Kammer durch die Bundesregierung entschied der
EGMR jedoch, dass weder Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK, noch Art. 14
EMRK662 i.V.m Art. 1 Zusatzprotokoll verletzt sei.663 Auch in diesem Fall blieb der
Konflikt daher nicht bestehen.
Teilweise handelt es sich bei den divergierenden Entscheidungen um Einzelfallentscheidungen, wobei die widersprechenden Ergebnisse durch feine abweichende
Akzentuierungen in der Bewertung der betroffenen Rechte entstanden. Daneben sind
die widersprechenden Entscheidungen aber auch Ausdruck eines divergierenden
Grundrechtsverständnisses, wobei die Gefahr besteht, dass sich die Rechtsprechung
beider Gerichte bezüglich der Lösung bestimmter Grundrechtskonflikte auseinanderentwickelt. Nach den vorstehenden Ausführungen ist die Caroline von Hannover
Entscheidung hier einzuordnen, was durch die Reaktionen der Gerichte bzw. ihrer
Präsidenten auf diese Entscheidung des EGMR und Folgeentscheidungen des
BVerfG dokumentiert wird.664
Das dargestellte Problem entgegengesetzter Ergebnisse der Entscheidungen von
Bundesverfassungsgericht und EGMR wäre indes nur ein Scheinproblem, wenn sich
aus der Entscheidung des EGMR entweder keine Konsequenzen für die innerstaatlichen Rechtsanwender ergeben würden, insbesondere das Bundesverfassungsgericht
der Entscheidung des EGMR nicht in irgendeiner Art und Weise Rechnung tragen
müsste oder sich andererseits aus den gesetzlichen Grundlagen eine unmittelbare
Bindungswirkung - auch für das Bundesverfassungsgericht - zweifelsfrei ableiten
ließe.
Gebunden ist das Bundesverfassungsgericht nach dem in den zentralen Normen
des grundgesetzlichen Rechtsstaats der Art. 20 Abs. 3 2. HS GG und Art. 1 Abs. 3
GG zum Ausdruck kommenden Vorrang des Gesetzes aber nur an Recht und Gesetz. Damit ist zum einen die Frage nach dem innerstaatlichen Rang der EMRK aufgeworfen und zum anderen die Frage nach der Grundlage für die Umsetzung von
Entscheidungen des EGMR.
659 Vgl. DER SPIEGEL, Nr. 5/2004, S.20: „Bodenreform: Später Sieg des Ostens“; DIE WELT,
01.07.2005, S. 4: „Menschengerichtshof weist Klagen der DDR-Neubauern ab.“
660 BVerfG WM 2000, S. 2491 ff.
661 EGMR, Jahn u.a. gegen Deutschland, NJW 2004, S. 923 ff.
662 Art. 14 EMRK enthält das Diskriminierungsverbot.
663 EGMR (Große Kammer), Jahn u.a. gegen Deutschland, NJW 2005, S. 2907 ff. Die Entscheidung erging hinsichtlich Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK mit 11:6 Stimmen und hinsichtlich
Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK mit 15:2 Stimmen.
664 Vgl. unten, Dritter Teil, § 6 C III 2, S. 175.
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A. Die Stellung der EMRK im innerstaatlichen Rechtsgefüge
Der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK ist die zwingende vorherige Inanspruchnahme nationalen Rechtsschutzes vorgeschaltet, Art. 35 Abs. 1 EMRK.665
Dementsprechend verlangt Art. 13 EMRK,666 dass wirksame nationale Rechtsmittel
gegen Menschenrechtsverletzungen vorgesehen werden und daneben zugleich, dass
der Betroffene davon Gebrauch macht, bevor er die Individualbeschwerde vor dem
EGMR erhebt.667 Damit ist zugleich gesagt, dass es zunächst den innerstaatlichen
(Fach-) Gerichten obliegt, den Gewährleistungen der EMRK Rechnung zu tragen.
Die nationalen Gerichte erscheinen zusammen quasi als erste Instanz im Rechtsschutzsystem der EMRK.668
665 „Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsmittel (...) befassen.“
666 „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt
worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“
667 Wildhaber/Schweizer , Internationaler Kommentar, Art. 13 EMRK Rn. 2.
668 Vgl. Golsong, DVBl. 1958, S.809, 811.
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I. Geltungsanspruch
Der Rangfrage logisch vorgeschaltet ist die Frage nach der innerstaatlichen Geltung
überhaupt. Die damit einhergehende Problematik, ob auch die EMRK dem völkerrechtlichen Grundsatz folgt, dass es im Belieben der Vertragsparteien steht, wie sie
die vertraglichen Pflichten erfüllen wollen669 oder demgegenüber von den Mitgliedstaaten verlangt, sie zu innerstaatlich (unmittelbar) anwendbarem Recht zu machen,670 ist für die BRD mit dem Vertragsgesetz671 des Bundestages vom 7. August
1952672 gelöst. Damit wurden die materiellen Bestimmungen der EMRK in deutsches Recht überführt und sind unmittelbar anwendbar.
Der Einzelne kann sich gegenüber jeglicher nationalen staatlichen Gewalt und im
Rahmen der Reichweite der mittelbaren Drittwirkung auch gegenüber privaten Dritten vor deutschen Behörden und Gerichten unmittelbar auf die ihm gewährten konventionsmäßigen Rechte berufen. Dies ist soweit ersichtlich heute unbestritten und
wird gerade von Gerichten regelmäßig als selbstverständlich unterstellt.673 Damit
steht auch fest, dass die EMRK Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 S. 2 , Art. 1 Abs.
3 GG darstellt.
669 Frowein/Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, S.31;
Partsch, Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey, Die Grundrechte, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. 1, 1. Halbband, S.235, 271; Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. III, 1. Halbband, S.280.
670 Golsong, Das Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 6 ff; Ress,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen der Urteile des EGMR im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: Maier, Irene, Europäischer Menschenrechtsschutz. Schranken und Wirkungen, S. 227, 244 f.
671 Die Terminologie ist hier uneinheitlich. Die Gesetze, mit denen völkerrechtliche Verträge in
der Rechtsordnung der BRD in Vollzug gesetzt werden, werden auch als Zustimmungsgesetz
oder Transformationsgesetz bezeichnet. Das BVerfG spricht meist vom Vertrags- oder Zustimmungsgesetz, vgl. BVerfGE 73, S. 339, 375. Der Begriff des Zustimmungsgesetzes birgt
aber die Gefahr der Verwechslung mit den Gesetzen, für die nach dem Grundgesetz gemäß
Art. 77 Abs. 2, 3 die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist.
672 Gesetz über die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl. 1952 II, S. 685.
673 Vgl. BVerfGE 74, S. 358, 370 f.
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II. Rangverhältnis
Wenn die Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts untersucht werden, ist das Rangverhältnis der
EMRK in der innerstaatlichen Rechtsordnung ein wesentlicher Aspekt. Denn auch
wenn die EMRK nach unbestrittener Ansicht Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 S.
2, Art. 1 Abs. 3 GG ist, kann sie sich doch nicht gegen höherrangiges nationales
Recht durchsetzen.
Die EMRK trifft selbst aber keine Aussage darüber, wie ihre Regelungen in den
nationalen Rechtsordnungen wirken, welchen Rang ihre Normen im Verhältnis zu
den nationalen Rechtssätzen einnehmen. Verlangt wird nur, dass mit der gewählten
Art der Geltung die Rechte der Konvention gewährleistet werden. Zwangsläufig
sind die Lösungsansätze der einzelnen Mitgliedstaaten vielfältig.
III. Überblick über die Rangverhältnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten
Am stärksten ist der Rang der Konvention in Österreich und in den Niederlanden.
Während der EMRK in Österreich Verfassungsrang zukommt,674 genießt sie in den
Niederlanden Vorrang vor jeglichem nationalen Recht, geht also auch dem Verfassungsrecht vor.675
In den vier skandinavischen Staaten, in Italien und San Marino steht die EMRK
im Rang eines einfachen Gesetzes.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat sich für einen Mittelweg entschieden und
räumt der EMRK einen Rang unter dem Verfassungsrecht aber über den einfachen
Gesetzen ein.676
674 Nach der Ratifikation am 3. September 1958 wurde der Konvention durch die Bundesverfassungsnovelle vom 4. März 1964 rückwirkend Verfassungsrang verliehen. Diese starke Stellung erklärt sich auch daraus, dass in der österreichischen Rechtsordnung eigene grundrechtliche Garantien weitgehend fehlen.
675 van Dijk, Domestic Status of Human Rights Treaties and the Attitude of the Judiciary – The
Dutch Case, in: FS für Felix Ermacora, S. 631, 638 ff.
676 Als Beispiele genannt seien Belgien, vgl. Velu/Ergec, La Convention européenne des droits
de l`homme, S. 1043 ff., Frankreich, vgl. Cohen-Jonathan, La Convention européenne des
Droits de l`Homme, S. 248 ff., 257 ff. und die Schweiz, vgl. Haefliger, Die Hierarchie von
Verfassungsnormen und ihre Funktion beim Schutz der Menschenrechte, EuGRZ 1990, S.
474, 481.
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IV. Die Rechtslage in Deutschland
Mit dem Gesetz über die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952,677 hat der Bundestag entsprechend Art. 59 Abs. 2
GG die EMRK in nationales Recht transformiert. Aus diesem Umsetzungsmodus
folgert die ganz herrschende Meinung, dass der EMRK in der nationalen Rechtsordnung (nur) der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt.678 Dies deshalb,
weil das Vertragsgesetz als einfaches Bundesgesetz dem Vertrag innerhalb des nationalen Normgefüges keinen höheren Rang einräumen könne, als es selbst einnehme.679 Daran ändert auch Art. 25 GG nichts, wonach allgemeine Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind, Art. 25 S. 1 GG und den Gesetzen vorgehen, Art. 25 S. 2 GG. Völkerrechtliche Verträge gehören zum einen nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts680 und zum anderen statuiert das Grundgesetz für
solche Verträge die spezielle Regelung des Art. 59 Abs. 2 GG.681 Aus diesen Normen wird zudem deutlich, dass das Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen
Recht als Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise aus der Sicht des nationalen Rechts auch nur vom nationalen Recht bestimmt werden kann und bestimmt
wird.
So haben sich auch sämtliche Versuche, die EMRK in Verfassungsrang zu heben,682 nicht durchsetzen können.683
677 BGBl. 1952 II, S. 685.
678 BVerfGE 74, S. 358, 370; Vgl. BVerfGE 1, S. 396, 411; BVerfGE 6, S. 291, 294; BVerfGE
30, S. 272, 284; BVerwGE 52, S. 313, 334; BVerwGE 66, S. 241, 246; BVerwGE 110, S.
363, 366; BGH NJW 1960, S. 726; Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht
der Bundesrepublik Deutschland, in: Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 95; Ress,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen der Urteile des EGMR im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, S. 227, 273;
Frowein/Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, S.35,
36; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 59 GG Rn. 19; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts
der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 278.
679 Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 59 GG Rn 19; Kempen, in: v. Mangoldt/Klein Starck,
Grundgesetz, Art. 59 GG Rn. 92.
680 BVerfGE 41, S. 88, 120; BVerfGE 100, S. 266, 269; Koenig, in: v. Mangoldt/Klein Starck,
Grundgesetz, Art. 25 Rn. 18.
681 Koenig, in: v. Mangoldt/Klein Starck, Grundgesetz, Art. 25 Rn. 18; Rojahn, in:
v.Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 25 GG Rn. 10.
682 Bleckmann, EuGRZ 1994, S. 149, 152; Kleeberger, Die Stellung der Rechte der Europäischen
Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland, Versuch einer Neubestimmung; Vgl. Menzel, DÖV 1970, S. 509, 514; Frowein, Das Bundesverfassungsgericht und die
Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1763, 1770. Überblick bei
Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349, 364ff.; für überverfassungsrechtlichen Rang sogar
Klug, Das Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem
Grundgesetz, GS Peters, S. 434, 441 f.
683 Vgl. die Nachweise in Fn. 682. Deswegen lehnt es das BVerfG auch in ständiger Rechtsprechung ab, behauptete Verstöße gegen die Konvention mit der Verfassungsbeschwerde geltend
machen zu können, vgl. BVerfGE 10, S. 271, 274; BVerfGE 64, S. 135, 157; Ruppert, in:
Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 BVerfGG Rn. 64.
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Dies auch deshalb, weil sich eine nach diesen Ansichten entscheidende Schwäche
des Ranges der Konvention nur als einfaches Bundesgesetz, nämlich dass sie damit
im Verhältnis zu anderen einfachen Bundesgesetzen der Regel „lex posterior derogat
legi priori“ unterliegt, wonach der Gesetzgeber jederzeit der EMRK widersprechendes und damit auch vorgehendes Recht setzen kann, auf dem Boden der herrschenden Meinung auch unter dogmatischen Aspekten befriedigend lösen lässt. So lässt
sie an der grundsätzlichen Anwendbarkeit der „lex posterior – Regel“ auch keinen
Zweifel.684 Stattdessen gewährt sie Schutz vor Derogation im Wege der völkerrechtskonformen Auslegung des jüngeren Rechts, wonach diese innerstaatlichen Gesetze so zu interpretieren sind, dass sie mit den aus der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen in Einklang stehen. Ein Vorrang des jüngeren Rechts
ist danach nur dann anzunehmen, wenn ein solcher Wille des Normgebers im Gesetz
selbst eindeutig zum Ausdruck kommt.685 Mit Beschluss vom 26.03.1987 hat auch
das Bundesverfassungsgericht diese Sichtweise bestätigt.686 Es führte aus, dass nationales jüngeres Recht nicht in einer Weise ausgelegt werden darf, die nicht mit den
völkerrechtlichen Verpflichtungen korrespondiert. Da der Erlass eines der EMRK
widersprechenden Bundesgesetzes einen völkerrechtswidrigen Akt darstellt, kommt
ein solches Gesetzesverständnis nur bei einem klar und eindeutig bekundeten gesetzgeberischen Willen in Betracht.
Übersehen werden darf allerdings nicht, dass schon die faktische Möglichkeit der
Derogation, die mit der Stellung der Konvention als nur einfaches Bundesgesetz
einhergeht, die Effizienz der EMRK vermindert. So haben Gerichte immer wieder und auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.1987 gestützt auf die „lex posterior – Regel“ konventionsunfreundlich entschieden.687
684 Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, S.
83; Streinz, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 59 GG Rn. 64; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 59
Rn. 19; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 59 GG Rn. 37; Für eine isolierte Unanwendbarkeit der „lex posterior – Regel“ hingegen Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz,
Art. 1 GG Rn. 59 (1958).
685 Ehlers, JURA 2000, S. 372, 373; Seibert, Europäische Menschenrechtskonvention und Bundesverfassungsgericht, in: FS M. Hirsch, S. 519, 525; Hilf, Der Rang der EMRK im deutschen
Recht, in: Hilf/Mahrenholz/Klein, Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Staaten des
Europarates, S. 19, 40.
686 BVerfGE 74, S. 358, 370. Vgl. auch BVerwGE 110, S. 203, 214.
687 So führte das KG Berlin in seinem Beschluss vom 14.01.1988 betreffend die Frage der Freiheit von Dolmetscherkosten auch im Bußgeldverfahren aus: „ Im Bußgeldverfahren hat der
verurteilte Betroffene die durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers entstandenen Kosten zu
tragen. (...) Ein Anspruch des Betroffenen auf Freistellung von den Dolmetscherkosten lässt
sich im vorliegenden Fall auch nicht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. e der Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) vom 04.11.1950 herleiten, der in der deutschen Übersetzung unter anderem bestimmt, dass jeder Angeklagte das Recht hat, die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, wenn er die Verhandlungssprache des
Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken kann. (...) Die MRK ist (...) nach Art.
59 Abs. 2 GG mit Gesetzeskraft veröffentlicht worden, gilt als innerstaatliches Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes und ist vor deutschen Gerichten und Verwaltungsbehörden
unmittelbar anwendbar. (...) Die Regeln der Menschenrechtskonvention sind daher nicht ge-
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Diese Möglichkeit darf aber nicht dazu führen, der Konvention einen Rang einzuräumen, der ihr nach der Verfassungsstruktur im Bereich der Umsetzung völkerrechtlicher Verträge nicht zukommt. Eine Ausnahme nur für die EMRK würde zum
Verlust einer klaren Linie und Dogmatik im Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen führen.
Dass deshalb aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen an der Stellung der
EMRK als (nur) einfaches Bundesgesetz festzuhalten ist, erlangt im Rahmen der
Umsetzung der Straßburger Rechtsprechung durch die deutschen Gerichte, insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht, Bedeutung.
V. Der Einfluss der EMRK auf die Verfassung
Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht bereits früh anerkannt, dass unbestimmte Rechtsbegriffe des Grundgesetzes mit Hilfe der Normen der EMRK inhaltlich auszufüllen und zu konkretisieren sind.688 In dieser Entscheidung hat das Gericht die Zentralnorm des Grundgesetzes, Art. 1 Abs. 1 GG, im Lichte der EMRK
interpretiert. Später hat es allgemein anerkannt, dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklung der EMRK zu berücksichtigen sind.689
Wenn auch das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde direkt auf behauptete Verstöße gegen die EMRK zu stützen, in ständiger
Rechtsprechung ablehnt,690 so hat es später doch einen Weg aufgezeigt, Verstöße
gegen die EMRK zumindest mittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angreifen zu
können. So geht das Gericht davon aus, dass eine Nichtbeachtung von Normen der
EMRK willkürlich sein und damit einen Gleichheitsverstoß nach sich ziehen
kann.691
setzesfest, sondern können, soweit sie nicht mit Grundrechten des Grundgesetzes übereinstimmen, durch einfaches Bundesgesetz abgeändert werden. (...) Die in Befolgung des (die
unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers in Strafverfahren betreffenden) Urteils des
EGMR durch das Gesetz vom 18.08.1980, BGBl. I 1503/GVBl. 1897, eingefügte Vorschrift
der Nr. 1904 Abs. 2 KostVerz. stellt im Regelungszusammenhang mit Abs. 1, von dem sie eine Ausnahme bildet, gegenüber Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK das sowohl jüngere als auch
speziellere Gesetz dar, das nach den Grundsätzen „lex posterior derogat legi priori“ und „lex
specialis derogat legi generali“ die ältere und allgemeinere Regelung verdrängt,“ Rpfleger
1988, S. 330 ff.
688 BVerfGE 15, S. 245, 255.
689 BVerfGE 74, S. 358, 370.
690 Vgl. oben Fn. 683.
691 BVerfG, Beschluss vom 21.01.1987, 2 BvR 1156/86. In dieser Entscheidung führt das Gericht
aus: „Auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch willkürliche Nichtbeachtung der Art. 6
Abs. 1 und Abs. 3a und c EMRK ist nicht gegeben.“ Vgl. auch BVerfGE 64, S. 135, 157, wo
es heißt: „Anhaltspunkte dafür, dass der Bundesgerichtshof bei der Auslegung der Vorschriften der EMRK das Willkürverbot des Grundgesetzes verletzt hätte, sind nicht ersichtlich.“
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Ist man auf den ersten Blick auch geneigt, hierin den Versuch zu erkennen den
Einfluss der EMRK auf die Verfassung trotz der Stellung als nur einfaches Bundesgesetz zu erhöhen, so erweist sich diese Methodik bei genauerer Betrachtung als
konsequente Fortsetzung geltender Dogmatik und Rechtsprechung. Auch wenn regelmäßig einfache Gesetze im Lichte der Verfassung auszulegen sind, so ist das
umgekehrte Verlangen, Gesetze – und die Verfassung - im Lichte der Konvention
auszulegen, Ausdruck der anerkannten Regel der völkerrechtsfreundlichen Interpretation nationaler Rechtsnormen.692 Die Möglichkeit, dem Betroffenen mittelbar eine
Verfassungsbeschwerde über die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zu eröffnen, ist vordergründig nicht einer gewünschten Verstärkung der EMRK geschuldet.
Das Bundesverfassungsgericht setzt damit seine frühe Rechtsprechung fort, wonach
ein solcher Verstoß durch eine offenkundige (willkürliche) Rechtsverletzung der Instanzgerichte begründet sein kann.693
B. Die Verpflichtung der Bundesrepublik aus den Entscheidungen des EGMR
Für die vorliegende Untersuchung ist es weder notwendig, noch ist der Raum dafür
vorhanden, die Problematik umfassend zu erörtern.694 Gleichwohl ist es für die Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen des Caroline von Hannover-Urteils
des EGMR auf die nationale Rechtsprechung entscheidend, ob und inwieweit die
nationalen Gerichte an den Tenor oder bei der Interpretation der Normen der EMRK
an das in den Urteilen des EGMR zum Ausdruck gebrachte Verständnis gebunden
sind. Die geltende Rechtslage soll deshalb in einem zusammenfassenden Überblick
dargestellt werden.
Wie bereits festgestellt, herrscht Konsens in der Frage, unbestimmte Rechtsbegriffe des Grundgesetzes mit Hilfe der Normen der EMRK inhaltlich auszufüllen.695
Dabei kommt den Entscheidungen des EGMR eine tragende Rolle zu, spiegeln sich
doch darin die aktuellen Entwicklungen der Menschenrechte – aus der Sicht des Gerichtshofs – wider.
Unmittelbare Auswirkung auf die innerstaatliche Rechtsordnung können nur solche Entscheidungen des EGMR haben, in denen er mittels eines (positiven) Feststellungsurteils696 eine Konventionsverletzung feststellt.
692 Statt vieler Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 10.
693 BVerfGE 4, S. 1, 7.
694 Hierzu sei auf die umfangreiche Literatur verwiesen.Vgl. Polakiewicz, Die Verpflichtungen
der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; Uerpmann,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung.
695 Vgl. oben Fn. 688.
696 Bei Leistungsurteilen nach Art. 41 EMRK erschöpft sich die Aussage notwendigerweise in
der Verpflichtung des Staates zur Zahlung einer Entschädigung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof ist diesem Verfahrensstadium bereits vorausgegangen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Autor wendet sich der viel diskutierten Frage zu, wie Persönlichkeitsschutz einerseits, Meinungs- und Pressefreiheit andererseits in einer freiheitlichen Rechtsordnung zueinander stehen. Neu dimensionierte Verletzungsmodalitäten in der Medien- und Informationsgesellschaft verlangen eine Überprüfung der bisher nach deutschem Recht vor allem von der Rechtsprechung zum Verhältnis Persönlichkeitsrecht – Meinungs-/Pressefreiheit entwickelten Rechtsgrundsätze.
Ausgehend vom Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem fundamentalen und mit der Menschenwürde in Verbindung stehenden Recht auf Selbstbestimmung, misst der Verfasser die Grundsätze der Konfliktlösung nach deutschem Recht an europäischen Standards und rekonstruiert davon ausgehend den Problemzugang zum nationalen Recht.
Das Werk weist einen Weg, wie der Achtungsanspruch des Einzelnen in verfassungsrechtlich gebotener Weise aufgewertet werden kann, ohne die konstitutive Funktion der Meinungs- und Pressefreiheit für das europäische Modell der pluralistischen Demokratie zu vernachlässigen.