110
E. Der „Caroline-Fall“ vor dem EGMR
I. Grundlagen der Konfliktlösung durch den EGMR
In dem Maße, wie es der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes mit sich bringt,
dass wegen der Weite des Schutzbereiches der einzelnen Grundrechte diese miteinander kollidieren, gilt dies auch für die Menschenrechte der EMRK. Dabei ist die
Dogmatik des EGMR zur Konkurrenz- und Kollisionsproblematik zwar bei weitem
nicht so ausgeprägt, wie die des BVerfG zu den Grundrechten, doch spricht nichts
dagegen, diese Probleme unter Verwendung der entsprechenden Lehren des deutschen Verfassungsrechts zu lösen.469 Den – einzig gangbaren - Weg der Abwägung
geht in den Kollisionsfällen dann auch der EGMR.470 Persönlichkeitsschutz und
Pressefreiheit sind in einen gerechten Ausgleich dergestallt zu bringen, dass beide
Rechte maximale Geltung erlangen.471 Der Ausgangspunkt beider Gerichte ist mithin identisch, zumal die einschlägigen Vorschriften zwar keine Textidentität aber
eine (zumindest weitgehende) Sinnidentität aufweisen.472 Wurde ausgeführt, dass
zivilgerichtliche Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht wegen Überbewertung der Kommunikationsfreiheiten gegenüber dem kollidierenden Persönlichkeitsrecht nur vereinzelt beanstandet wurden,473 so galt dies auch für den EGMR. Bis in
die 90er Jahre hinein findet sich eine solche Entscheidung überhaupt nicht. Nun hingegen kommt der EGMR, im Gegensatz zu den Ergebnissen, die das Bundesverfassungsgerichts bei der Abwägung der konfligierenden Rechtsgüter dabei erzielt, eher
zu einer Bevorzugung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach
Art. 8 EMRK.
469 Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 193; vgl. für die Kollision von Gemeinschaftsgrundrechten
Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 231.
470 EGMR NJW 2004, S.2647 ff.-Caroline von Hannover, Leitsätze 3 und 5.
471 EGMR, Tammer gegen Estonia, 04.04.2001, Ziffer 69, www.echr.coe.int.
472 So die Formulierung von Grimm, FAZ vom 13.01.2004, S. 9.
473 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 C IV, S. 76.
111
II. Die Argumentation des EGMR im Urteil Caroline von Hannover
Fast ein halbes Jahrzehnt nach dem Bundesverfassungsgericht befasste sich der
EGMR mit der Frage der Rechtmäßigkeit der veröffentlichten Bilder nach Maßgabe
der EMRK. Zusätzlich zu den Fotos, hinsichtlich derer das Bundesverfassungsgericht keine fehlerhafte Würdigung der Grundrechte der Beschwerdeführerin erkannte, wurden noch weitere Bilder in das Verfahren eingeführt.474 Diese erschienen in
den Zeitschriften „Bunte“ und „Neue Post“ des Jahres 1997 und zeigten die Beschwerdeführerin während eines Skiurlaubs in Österreich, beim Verlassen ihrer
Wohnung, teilweise in Begleitung von Prinz Ernst August von Hannover, beim
Tennisspiel mit diesem und beim Abstellen der Fahrräder, sowie beim Stolpern über
einen Gegenstand im „Beach-Club“ von Monte-Carlo.
Nachdem das Gericht bezüglich der verfahrensgegenständlichen Fotos sowohl
den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach
Art. 8 EMRK als eröffnet ansieht, als auch die mittelbare Drittwirkung für den
Schutz des Rechts am eigenen Bild gegen Missbrauch durch Dritte bejaht, verortet
es das Problem genau wie das Bundesverfassungsgericht auf die Ebene der Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung.
1. Die Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 10
EMRK
Die Linie des Bundesverfassungsgericht fortführend, betont der EGMR die Bedeutung der Freiheit der Meinungsäußerung als eine wesentliche Grundlage für eine
demokratische Gesellschaft, in der Pluralismus, Toleranz und eine offene Geisteshaltung vorherrschen (müssen) und beachtet auch die dabei zu Tage tretende tragende Rolle der Presse, in der sich die journalistische Freiheit mit der Möglichkeit zur
Übertreibung und Provokation verwirklicht. Konsequent zieht er den Schutzbereich
der Meinungsäußerungsfreiheit zunächst auch weit, ohne eine Beschränkung auf
(politische) Information oder eine qualitative Vorabbewertung nach wichtiger oder
unwichtiger Information vorzunehmen475
474 Dies ist möglich, weil das Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR nicht die Rechtswegerschöpfung nach den nationalen Rechtsordnungen voraussetzt. Im übrigen haben das LG
und das OLG Hamburg die Unterlassungsklage gegen das Foto aus dem „Beach-Club“ abgewiesen. Die Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG mit der Begründung nicht zur Entscheidung an, dass die die Bildnisveröffentlichung betreffenden Fragen mit dem Urteil vom
15.12.1999 beantwortet seien und die Instanzgerichte gemäß dieser Grundsätze in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise entschieden hätten.
475 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 58.
112
Der EGMR gesteht dem Bundesverfassungsgericht durchaus zu, in seiner Entscheidung die widerstreitenden Interessen der Pressefreiheit auf der einen und der
Privatsphäre auf der anderen Seite gegeneinander abgewogen und einen Ausgleich
hergestellt zu haben. Er hält diesen Ausgleich aber nicht für konventionskonform,
weil er die Pressefreiheit bevorzuge.
Die tragende Rolle der Presse in der demokratischen Gesellschaft sieht er dann
auch nicht allein in der Pflicht zur Informations- und Ideenvermittlung an sich, sondern verlangt zusätzlich, dass diese von öffentlichem Interesse sind.476 Bei der Abwägung des Schutzes des Privatlebens gegen die Freiheit der Meinungsäußerung sei
darauf abzustellen, „ob die Fotoaufnahmen oder Presseartikel zu einer öffentlichen
Diskussion über eine Frage allgemeinen Interesses beitragen“.477 Da das Gericht im
Folgenden eine Unterscheidung zwischen Berichten, die einen solchen Beitrag leisten und Berichten über rein private Tätigkeiten verlangt, impliziert es, dass Berichte
über Tätigkeiten rein privater Art einen solchen Beitrag generell nicht leisten können. Stattdessen stellt es ausdrücklich klar, dass die Presse in diesem Genre ihre für
die demokratische Gesellschaft tragende Rolle als „Wachhund“ (der Staatsgewalten)
gerade nicht wahrnimmt.478
Das Gericht geht sogar noch einen Schritt weiter und statuiert in Anlehnung an
seine bisherige Rechtsprechungspraxis, dass derartige Berichte nur die Neugier einer
bestimmten Rezipientengruppe befriedige und das Recht auf Freiheit der Meinungs-
äußerung weniger weit ausgelegt werden müsse.479
2. Der Wert des Privatlebens
Betont wird darüber hinaus die Bedeutung des Schutzes des Privatlebens, der, wie
das Gericht ausdrücklich feststellt, „über den intimen Kreis der Familie hinausgeht
und auch eine soziale Dimension hat“, für die Entfaltung der Persönlichkeit jedes,
auch des in der Öffentlichkeit bekannten Menschen.480
476 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 58, unter Bezugnahme auf
EGMR, The Observer and Guardian gegen Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1995, S. 16 und
EGMR, Bladet Tromso und Stensaas gegen Norwegen, NJW 2000, S. 1015.
477 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 60, unter Bezugnahme auf
EGMR, Tammer gegen Estonia, 04.04.2001, Ziffer 59 ff., www.echr.coe.int und EGMR,
News Verlag GmbH & Co KG gegen Österreich, 11.01.2000, Ziffer 52 ff., www.echr.coe.int.
478 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 63.
479 EGMR NJW 2004, S. 2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 66 unter Hinweis auf die
unveröffentlichte Entscheidung EGMR, Prisma Presse gegen Frankreich, 1.7.2003, Beschw.
Nrn. 66910/01 und 71612/01. Bei dieser Begründung der Einschränkung der Pressefreiheit
nimmt der EGMR auch Bezug auf die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des
Europarats über den Schutz des Privatlebens und berücksichtigt deren rechtspolitische Intention bei der Auslegung von Art. 8 und Art. 10 EMRK. Wenn es ihr auch an rechtlicher Verbindlichkeit mangelt, so möchte sie doch eine Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes gerade gegenüber den Massenmedien erreichen, Heldrich, NJW 2004, S. 2634, 2635.
480 EGMR NJW 2004, S.2647, 2650-Caroline von Hannover, Ziffer 69.
113
In diesem Zusammenhang greift es die Rechtsprechung der deutschen Gerichte zu
§§ 22, 23 KUG auf und kritisiert die Rechtsfigur der „absoluten Person der Zeitgeschichte“ zunächst generell, weil die so klassifizierten Personen nur einen sehr eingeschränkten Schutz ihres Privatlebens und des Rechts am eigenen Bild erfahren.
Einen solch beschränkten Schutz hält der EGMR nur für Personen des politischen
Lebens bei Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktionen für vertretbar und erkennt an,
dass diesbezüglich auch Aspekte des Privatlebens von öffentlichem Interesse sein
können. Keinesfalls aber sei eine solche Klassifizierung konventionskonform für
Personen, die zwar einen gewissen Bekanntheitsgrad haben, in der Öffentlichkeit
aber als Privatperson und nicht bei Ausübung ihrer speziellen Funktion auftreten. In
diese Gruppe ordnet das Gericht auch Caroline von Hannover ein, weil sie zwar
formal zum monegassischen Fürstenhaus gehört, aber keine amtlichen Funktionen
wahrnimmt.481
Die weitere Kritik richtet sich gegen das vom Bundesgerichtshof erschaffene und
vom Bundesverfassungsgericht übernommene Kriterium der „örtlichen Abgeschiedenheit“. Dieses sei nicht geeignet, die Person der Zeitgeschichte in ausreichendem
Maß zu schützen, weil auch an Orten, die nicht als abgeschieden zu bezeichnen sind,
ein Interesse der Öffentlichkeit zum einen nicht festzustellen sei und zum anderen
ein solches Interesse gegenüber dem Schutz des Privatlebens der Beschwerdeführerin ohnehin zurücktreten müsste.482
III. Positionen der nationalen Rechtsordnungen
Der Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit und einzelner Persönlichkeitsrechte, wie der Schutz des Rechts am eigenen Bild, werden in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich intensiv gewährleistet.
Um den Standpunkt des EGMR im europäischen Kontext nachvollziehen zu können, sollen hier die wohl gegensätzlichsten Positionen exemplarisch dargestellt werden.
1. Die Situation in England483
Die Besonderheit des Verfassungsrechts im Vereinigten Königreich besteht darin,
dass es keine formalisierte Verfassungsurkunde gibt.
481 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffern 72, 64.
482 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 74 ff.
483 Die korrekte Bezeichnung des Staates lautet „United Kingdom of Great Britain and Northern
Ireland“. Um Missverständnisse zu vermeiden ist hier tatsächlich nur der Landesteil England
gemeint, weil die anderen Landesteile, vor allem Schottland, teilweise anderes Recht zu
Grunde legen.
114
Auch der Human Rights Act wird vereinzelt als Verfassungsrecht begriffen, Clayton/Tomlinson, The Law of Human Rights, Bd. 1, S. 67. Doch selbst wenn man dem folgt,
ändert dies nichts an der Tatsache, dass er vom Parlament jederzeit mit einfacher Mehrheit
abgeändert und sogar außer Kraft gesetzt werden kann.
Zwar gibt es kodifizierte Teile der Verfassung,484 doch kennt das System weder
einen Grundrechtekatalog und damit auch keinen verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz oder Schutz des Privatlebens, noch überhaupt höherrangige Rechtsnormen, die der gesetzesändernden einfachen Mehrheit des Parlaments entzogen wären.485
a) Die Situation vor Inkrafttreten des „Human Rights Act (HRA)“
Auch im Bereich des Zivilrechts wurde ein Persönlichkeitsrecht nicht anerkannt,486
es gibt kein right to privacy und auch kein eigenständiges Recht am eigenen Bild.
Schutz hinsichtlich der Achtung der Privatsphäre und gegen einzelne Persönlichkeitsverletzungen gewährt vorwiegend das Deliktsrecht.
In Verbindung mit der besonders herausragenden Stellung der Pressefreiheit im
anglo-amerikanischen Recht führte dies zu deren grundsätzlichem Vorrang vor Persönlichkeitsrechten des Betroffenen. Solange Wahrheiten - in Text oder Bild - verbreitet wurden, konnte sich der Betroffene kaum gegen Veröffentlichungen zur
Wehr setzen.487 Das Erfordernis einer Einwilligung spielte keine Rolle.
484 Derartige Verfassungsteile sind u.a. die Magna Charta des Jahres 1215, die Petition of Right
von 1627, die Habeas Corpus Akte von 1679 und die Bill of Rights des Jahres 1689.
485 Dies ist Ausdruck des das englische Recht beherrschenden obersten Verfassungsprinzips der
Parlamentssouveränität.
486 Henry, in: Henry, International Privacy, Publicity and Personality Laws, S. 5, wenn auch der
Begriff personality rights im Gewerblichen Rechtsschutz vorkommt, Durie, in: Henry, International Privacy, Publicity and Personality Laws, S. 449 ff.
487 Anders sieht es bei diffamierenden Berichten und der Veröffentlichung vertraulicher Informationen aus. Hier bieten die Ansprüche tort of defamation (Ehrenschutz) und breach of confidence (Geheimnisschutz/Vertrauensbruch) einen ausgeprägten Schutz. Ehrverletzungen im
Sinn der defamation werden nicht nur in Äußerungen herabsetzenden Charakters gesehen,
sondern auch in der Verbreitung von Unwahrheiten, Herth, Persönlichkeitsschutz im englischen Zivilrecht, S. 11. Die Schwäche der defamation im Hinblick auf den Schutz der Persönlichkeit zeigt sich aber gerade darin, dass es dort regelmäßig um die Verbreitung von Wahrheiten geht.
In jüngerer Zeit ist aber eine Ausdehnung des breach of confidence-Anspruchs festzustellen.
Während früher die Stärke der Vertrauensbeziehung im Vordergrund stand, wird nun mehr
auf den (vertraulichen) privaten Inhalt abgestellt, vgl. Shelley Films Ltd. gegen Rex Features
Ltd., 1994, EMLR (Entertainment and Media Law Reports) 134.
115
b) Die Situation nach Inkrafttreten des „HRA“
Mit dem Inkrafttreten des „HRA“ am 2.10.2000488 wurde die EMRK in das innerstaatliche englische Recht überführt, ohne ihr den Status eines innerstaatlichen Gesetzes zu verleihen. Der HRA verlangt nach Sec.489 6 (nur), dass alle „public authorities“ in einer Weise handeln, die mit der EMRK vereinbar ist. Da damit auch die
Gerichte Adressat sind und konventionskonform entscheiden müssen, ist zumindest
die mittelbare Drittwirkung der Konventionsgrundrechte impliziert und damit auch
der Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK zwischen Privaten eröffnet.490
Der „HRA“ beschränkt sich aber nicht darauf, einen Weg zur Anwendung der
EMRK zu eröffnen, sondern er gibt auch konkrete Anwendungsregeln vor. Für die
vorliegende Untersuchung spielt dabei Sec. 12 HRA eine wesentliche Rolle, wonach
ein Gericht bei seinen Entscheidungen die besondere Rolle der Meinungsfreiheit beachten muss. Diese Regelung war Ausdruck einer befürchteten Beschränkung der
Pressefreiheit durch Art. 8 EMRK.
Wird dieser Regelung vereinzelt auch die Aussage entnommen, die Meinungsund Pressefreiheit habe generell einen höheren Stellenwert als das Recht auf Achtung der Privatsphäre, so ist dennoch die Meinung vorherrschend, die beide Rechte
als grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehend ansieht.491
aa) Auswirkungen auf den Privatsphärenschutz
Die Umsetzung der EMRK in dieser Form hat den Persönlichkeitsschutz, namentlich den Schutz vor Veröffentlichungen von Fotografien aus dem Bereich der Privatsphäre, spürbar verbessert.492 Die englischen Gerichte erkennen die Notwendigkeit
einer Abwägung der widerstreitenden Menschenrechte an. Ein eigenständiges right
to privacy hingegen wurde auch nach Inkrafttreten des HRA mehrheitlich nicht anerkannt. Rechtsdogmatisch wurden die dagegen vorgebrachten Bedenken darauf gestützt, der HRA erlaube die Schaffung von Rechtsinstrumenten, die nur in der
EMRK wurzeln, nicht. Er erlaube nur die Weiterentwicklung bestehender Rechtsinstitute.
488 An der sehr späten Umsetzung zeigt sich das gespaltene Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu (Kontinental-) Europa und zur EMRK. Es gehörte einerseits zu den ursprünglichen
Mitgliedstaaten des Europarats und war maßgeblich an der Formulierung des Menschenrechtskatalogs beteiligt. Andererseits wurde die Konvention über Jahrzehnte nicht ins innerstaatliche Recht umgesetzt.
489 Section (Paragraf).
490 Vgl. Ohly, RabelsZ 65 (2001), S. 39, 73 f.
491 Wadham/Mountfield, Blackstone´s Guide to the Human Rights Act 1998, S. 60.
492 Vgl. Ohly, GRUR Int. 2004, S. 902, 907.
116
Das Recht auf Achtung des Privatlebens sollte folglich weiterhin nur von breach
of confidence geschützt werden, dessen Tatbestand mit Blick auf Art. 8 EMRK gegebenenfalls ausgedehnt werden müsse.493
Die so vorgezeichnete Entwicklung wurde jüngst in einer Grundsatzentscheidung
konsequent fortgeführt.494 Das House of Lords dehnte den breach of confidence-
Tatbestand auf den Schutz der Privatsphäre unabhängig von einer bestehenden Vertrauensbeziehung des Betroffenen zum Veröffentlichenden aus. Es verlangt nur,
dass der Betroffene die Achtung seiner Privatsphäre vernünftigerweise erwarten
darf.495
bb) Die Gewichtung der widerstreitenden Menschenrechte im Abwägungsprozess
Bei all den Fortschritten den der Persönlichkeits-/Privatsphärenschutz dadurch erfährt, ist nicht zu übersehen, dass das House of Lords in der nun stattfindenden Abwägung der widerstreitenden Interessen, der Meinungs- und Pressefreiheit einen
sehr hohen Rang zuerkennt, wenn es auch unmissverständlich ausspricht, dass keinem der beiden Rechte eine grundsätzliche Vorrangstellung zukommt.496 So hat es
darauf hingewiesen, dass Berichterstattung auch über Aspekte des Privatlebens zulässig bleibt, wenn dadurch falsche Aussagen Prominenter korrigiert werden497 und
die Berichterstattung nicht durch unangemessene Details ausgeschmückt wird.498
Auch der Bildberichterstattung ist es grundsätzlich gestattet, frei sichtbare Szenen
fotografisch festzuhalten.499 Der englischen Tradition folgend werden im Ergebnis
des nunmehr stattfindenden Abwägungsprozesses nach wie vor die Kommunikationsfreiheiten tendenziell bevorzugt.
493 Vgl. Court of Appeal, Douglas vs. Hello! Ltd. 2001, 2 WLR (Weekly Law Reports) S. 992.
Die Entscheidung ist auszugsweise und mit einer Anmerkung von Hoppe abgedruckt in
GRUR Int. 2002, S. 627 ff. In diesem Urteil vertrat LJ Sedley ein aus dem common law und
Art. 8 EMRK abgeleitetes selbständiges right to privacy, womit er sich aber (noch) nicht
durchsetzen konnte, LJ Sedley in Douglas vs. Hello! Ltd. 2001, 2 WLR (Weekly Law Reports) S. 992, 1025, vgl. Douglas vs. Hello! Ltd. 2003, 3 All ER (All England Law Reports)
996, 1061. Vgl. umfassend zur Kontroverse um das right to privacy, Schweßinger, Der Einfluss der EMRK auf den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz in Deutschland, Frankreich
und England, S. 296, 298.
494 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22; Die Entscheidung ist auszugsweise
und mit einer Anmerkung von Balthasar abgedruckt in GRUR Int. 2004, S. 865 ff.
495 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22, Ziffer 21 (Lord Nicholls), Ziffer
85 (Lord Hope), Ziffer 134 (Baroness Hale).
496 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22, Ziffer 103 (Lord Hope).
497 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22, Ziffer 24 (Lord Nicholls), Ziffer
58 (Lord Hoffmann), Ziffer 82 (Lord Hope).
498 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22, Ziffer 28 (Lord Nicholls), Ziffer
65 (Lord Hoffmann), Ziffern 113-116 (Lord Hope), Ziffern 153-156 (Baroness Hale).
499 House of Lords, Campbell vs. MGN Ltd. 2004, UKHL 22, Ziffer 72 (Lord Nicholls), Ziffer
154 (Baroness Hale); Vgl. Ohly, GRUR Int. 2004. S. 902, 908.
117
Wie sich das Caroline-Urteil des EGMR auf die englische Praxis der Abwägung
zwischen Meinungsfreiheit und Achtung des Privatlebens auswirken wird, bleibt abzuwarten.
2. Die Situation in Frankreich
Einen Gegenpol zum – inzwischen zwar gestärkten, aber weiterhin insgesamt recht
eingeschränkten – Persönlichkeitsschutz in England, bildet das französische Recht.
Dies, obwohl die verfassungsrechtlichen Grundlagen der französischen Republik ein
Persönlichkeitsrecht nicht explizit ansprechen.500 Ernsthafte Zweifel an der verfassungsrechtlichen Verankerung zumindest einzelner Persönlichkeitsrechte bestehen
gleichwohl nicht, werden diese doch einzelnen Gewährleistungen oder insgesamt
dem Recht auf persönliche Freiheit zugeordnet.
a) Schutz des Privatlebens
So konstituiert der Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel)501 in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung, dass die Achtung des Privatlebens als Persönlichkeitsrecht in
Art. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – Recht auf persönliche Freiheit – enthalten ist.502 Die verfassungsrechtliche Verankerung von einzelnen Persönlichkeitsrechten ist für den Persönlichkeitsschutz in Frankreich von nur untergeordneter Bedeutung, wurde doch der zivilrechtliche Schutz schon sehr früh und umfassend gewährt, obwohl es an einer ausdrücklichen Kodifikation lange Zeit fehlte. Die
Rechtsprechung stützte den Schutz der Privatsphäre (vie privée) – ohne Rückgriff
auf das Verfassungsrecht - zunächst auf die deliktischen Generalklauseln der Art.
1382 und 1383 CC503, bis 1970 ein neuer Art. 9 CC eingeführt wurde, der sich
sprachlich weitestgehend an Art. 8 EMRK orientiert und das Recht auf Achtung des
Privatlebens normiert.
500 Vgl. die Verfassung der V. Republik vom 4.10.1958 und die mit Verfassungsrang ausgestattete Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.08.1789.
501 Zur Struktur des Conseil Constitutionnel und dessen Rolle bei der Entwicklung des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes vgl. die umfassende Darstellung von Bauer, Verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz in Frankreich, S. 46 ff., 67 ff.,
502 Conseil Constitutionnel, 23.07.1999, RTDC (Revue trimestrielle de droit civil) 1999, S. 725.
Zur Diskussion um die verfassungsrechtliche Gewährleistung anderer Persönlichkeitsrechte
vgl. Frangi, Constitution et Droit Privé, S. 115 ff.
503 Code Civil.
118
b) Insbesondere: Das Recht am eigenen Bild
Die Einordnung des Rechts am eigenen Bild ist nicht ganz unumstritten. Zwar wurde es bereits 1858 von der Rechtsprechung anerkannt. Ähnlich der 40 Jahre später in
Deutschland beginnenden Diskussion war hier die zeichnerische Darstellung der
Schauspielerin Rachel auf ihrem Totenbett der Ausgangspunkt.504
Während das Recht am eigenen Bild im deutschen Recht unbestritten ein Persönlichkeitsrecht darstellt (vgl. oben, Erster Teil, § 1 C I 4, S. 38), wurde es in Frankreich zunächst als Eigentumsrecht begriffen.505 Heute ist die Klassifizierung als Persönlichkeitsrecht ganz herrschend. Streitig ist nur, ob es ein eigenes Persönlichkeitsrecht oder ein Aspekt des Persönlichkeitsrechts auf Achtung des Privatlebens ist.
Die Einordnung bestimmt die Anwendung der zivilrechtlichen Normen, da Art. 9
CC auf den Schutz des Privatlebens beschränkt ist. Wohl herrschend ist die Zuordnung zum Schutz des Privatlebens.506
Da beide Rechte zwar regelmäßig zusammentreffen, dies aber nicht zwingend ist,
ist es wohl vorzugswürdig, beide Rechte nebeneinander zu stellen.507 Der umfassende Schutz spiegelt sich im Prinzip der Einwilligung wider, ohne die schon das Festhalten des Bildnisses einer Person rechtswidrig ist.
c) Konfliktlösung
aa) Interessenabwägung
Für die hier zu untersuchenden Fälle der Verletzung des Privatlebens durch die Aufnahme und/oder Verbreitung eines Fotos hilft Art. 9 CC nicht weiter, weil der Begriff des Privatlebens dort nicht näher konkretisiert wird. Die Rechtsanwender in
Frankreich stehen im Ansatz deshalb vor demselben Problem wie ihre deutschen
Kollegen, nämlich das Privatleben vom öffentlichen Leben (vie publique) abzugrenzen. Wie in den anderen Rechtsordnungen kommt dieser Abgrenzung namentlich in
den Konfliktfällen mit den Kommunikationsfreiheiten eine besondere Bedeutung zu.
Je weiter der Bereich des Privatlebens gefasst wird, desto größer ist wegen des weitreichenden grundsätzlichen Einwilligungsvorbehalts die Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, die natürlich auch in Frankreich nach Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verfassungsrechtlich geschützt ist.
504 Tribunal civil de la Seine, 16.06.1858, D. P.(Recueil périodique Dalloz) 1858. 3.62. Vgl. für
Deutschland den Fall Bismarck, oben, Erster Teil, § 1 A I 1, S. 21, wo ein Recht am eigenen
Bild allerdings nicht anerkannt wurde.
505 Vgl. Tribunal civil de la Seine, 10.02.1905, D. P. 1905. 2.389.
506 Vgl. Malaurie/Aynès, Cours de Droit civil, Les personnes, les incapacités, numéro 333; Hauser, GRUR Int. 1988, S. 839 und 841.
507 Vgl. Neumann-Klang, Das Recht am eigenen Bild aus rechtsvergleichender Sicht, S. 115.
119
Die Methodik zur Herstellung eines Ausgleichs ist auch in Frankreich von einer
Interessenabwägung im Einzelfall geprägt, wonach die widerstreitenden Interessen
zueinander ins Verhältnis gesetzt und in Ausgleich zu bringen sind.508 Zwar werden
die Interessen der Betroffenen bei den Personen des öffentlichen Lebens (personnes
publiques) anders gewichtet als bei Privatpersonen (personnes privées). Doch wird
auch den Personen des öffentlichen Lebens grundsätzlich das Recht zugestanden, in
Ruhe gelassen zu werden.509
bb) Methodik und Gewichtung der Rechte
Die Einordnung als Person des öffentlichen Lebens oder als Privatperson ist weit
weniger wichtig, als die Unterscheidung zwischen öffentlichem Leben und Privatleben.510
Als Grundsatzentscheidung der französischen Rechtsprechung hierzu ist die Brigitte Bardot I-Entscheidung511 zu bezeichnen, die schon relativ früh die Weichen
deutlich in Richtung eines umfangreichen Persönlichkeitsschutzes stellte. Das Tribunal de grande instance de la Seine betont den grundsätzlichen Vorrang der Einwilligung gerade auch für Personen des öffentlichen Lebens und lenkt den Blick von
der bis dato im Vordergrund stehenden Differenzierung nach der Örtlichkeit - privat
oder öffentlich – auf eine deutlich subtilere Unterscheidung. Das Gericht erteilt auch
der Ansicht, dass das bloße Fotografieren an öffentlichen Orten stets zulässig sei
und nur hinsichtlich einer etwaigen Veröffentlichung weiter differenziert werden
müsse512, eine Absage. Mit der Brigitte Bardot I-Entscheidung wurde die öffentliche
Aktivität (activité public) zum maßgeblichen Abgrenzungskriterium für das erlaubte
Fotografieren von Personen – nicht nur solchen des öffentlichen Lebens - und dem
späteren Veröffentlichen. Das Gericht erachtete das Fotografieren und Verbreiten
nur noch bei der Ausübung öffentlicher Aktivität als zulässig. 513
Die Schwierigkeit für das Gericht und die nachfolgende Rechtsprechung bestand
in einer Umschreibung des Bereichs der öffentlichen Tätigkeit.
508 Ravanas, La protection des personnes contre la réalisation et la publication de leur image, Ziffer 111 ff.; numéro 164.
509 Vgl. Ravanas, La protection des personnes contre la réalisation et la publication de leur image,
Ziffer 189.
510 Neumann-Klang, Das Recht am eigenen Bild aus rechtsvergleichender Sicht, S.93.
511 Tribunal de grande instance de la Seine, Urteil vom 24.11.1965, J.C.P. (Semaine Juridique)
1966.II.14521. Die zur damaligen Zeit gerade in der Hochphase ihrer schauspielerischen Karriere stehende Brigitte Bardot wurde mit ihrem Sohn in den Armen auf ihrem Grundstück aufgenommen.
512 So ein beachtlicher Teil der Literatur, Tallon, Droits de la Personnalité, in: Encyclopédie Juridique Dalloz, Répertoire de Droit civil, numéro 117.
513 Tribunal de Grande Instance de la Seine, Urteil vom 24.11.1965, JCP (Jurisclasseur périodique) 1966 II 1452.
120
Als Maßstab verwenden die Gerichte dabei das legitime öffentliche Informationsinteresse. 514 An dieser Stelle findet auch im französischen Recht, ähnlich der Methodik in England und Deutschland eine Abwägung statt. Das öffentliche Informationsinteresse legt die französische Rechtsprechung dabei tendenziell eng aus.
Wenn auch in jüngeren Entscheidungen ein besonderer Nachrichtenwert bejaht
wurde, wenn bekannte Personen außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit – die jedenfalls der öffentlichen Aktivität zuzuordnen ist - gezeigt werden,515 so wird weiterhin
konstatiert, dass private Aktivität grundsätzlich auch an öffentlichen Orten stattfinden kann.516 Dies führt im Vergleich mit der jetzt vom Bundesverfassungsgericht
geprägten deutschen Rechtsprechung zu einer deutlichen Stärkung des Persönlichkeitsschutzes gerade im Bereich der Presseberichterstattung517, werden doch bei privater Aktivität keine weiteren einschränkenden Kriterien, wie die örtliche Abgeschiedenheit, verlangt.
3. Einordnung der EGMR-Rechtsprechung
Vergleicht man die konträren Positionen innerhalb Europas mit der Rechtsprechung
des EGMR speziell im Fall Caroline von Hannover, erkennt man deutlich, dass sich
dort die argumentative Linie der französischen Rechtsprechung wiederfindet. Der
EGMR folgt der traditionellen Linie der französischen Rechtsprechung, die dem
Einzelnen eine besonders starke Autonomie einräumt und ihn sowohl vor dem Staat
als auch vor anderen umfassend schützt. Die Funktion der Privatsphäre als Schranke
für die Kommunikationsfreiheiten wird vom EGMR besonders stark betont.
514 Tribunal de Grande Instance de la Seine, Urteil vom 24.11.1965, JCP 1966 II 1452 ; Cour
d´Appel de Paris, 26.02.1991, D. (Recueil Dalloz Sirey) 1991, IR (informations rapides) 136.
515 Vgl. Cour d´Appel de Versailles, 22.11.01, Légipresse No. 189-III, 37, Gérard Depardieu;
Tribunal de Grande Instance de Nanterre, 03.06.2002, Légipresse No. 194-I, 101, Jean-Paul
Belmondo, Bildbericht über dessen gesundheitlichen Zusammenbruch zulässig; Cour d´Appel
de Paris, 13.3.1986, Yannick Noah, D. 1986, 445, Bildbericht über die Beerdigung seines Vaters zulässig.
516 vgl. Ravanas, numéro 191 ff. Vgl. aber das Urteil des Tribunal de Grande Instance de Paris
vom 26.6.1974, Gaz.Pal. (Gazette du Palais) 1974 2.901, in dem Bilder von Bégum Aga Khan
mit seiner Familie auf einem Boot für zulässig gehalten wurden.
517 Exkurs: Als Beispiel dafür, dass die Rechtsprechung in Frankreich im allgemeinen nicht besonders rücksichtsvoll mit den Interessen der Presse umgeht, mag folgender Fall gelten: Einige renommierte Zeitungen („Le Figaro“, „Le Monde“) wurden wegen Verstoßes gegen das in
Frankreich strikt geltende Tabakwerbeverbot zu Schadensersatzzahlungen verurteilt, weil sie
im Rahmen der Sportberichterstattung Sportler bei Wettkämpfen darstellten, ohne die auf deren Kleidung und deren Sportgeräten befindliche Tabakwerbung unkenntlich zu machen. Damit sind insbesondere Bildberichterstattungen aus dem gesamten Motorsportbereich kaum
mehr möglich. In deutschen Magazinen wird in diesem Zusammenhang von einer „Frontalattacke gegen die Pressefreiheit“ gesprochen, Focus, Heft 4/2005, S. 154.
121
Auch in diesem Punkt findet sich die Linie der französischen Rechtsprechung
wieder, die den Individualismus und die Rechte des Einzelnen hier tendenziell über
gesellschaftliche Belange stellt.
IV. Kritikpunkte an der Entscheidung des EGMR
Die Entscheidung des EGMR gilt es kritisch zu hinterfragen. Im Mittelpunkt steht
dabei weniger das Ergebnis des konkret entschiedenen Falles, als vielmehr der Weg,
wie das Gericht das gefundene Ergebnis begründet. Grundlage und Herleitung des
Urteils nötigen zu umfassender Kritik.
1. Allgemeines
Der EGMR löst den Konflikt widerstreitender Menschenrechte methodisch wie das
Bundesverfassungsgericht, nämlich im Wege der Abwägung der gegenüberstehenden Rechtspositionen.518 Wie diese der EGMR im vorliegenden Fall aber vorgenommen hat, ist nicht überzeugend gelungen. Im Ergebnis ist von einem gerechten
Ausgleich zwischen zwei konkurrierenden Grundrechten, einer praktischen Konkordanz, nicht mehr viel übrig.
2. Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Der jeweilige Schutzumfang der Kommunikationsgrundrechte hängt von zahlreichen Faktoren ab. Die Basis bilden dabei historische Erfahrungen, die einher gehen
mit der Bewertung philosophischer Grundauffassungen über die grundsätzliche
Notwendigkeit eines Schutzes der Kommunikationsfreiheiten. Im ersten Teil der
Arbeit wurde die Stellung der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK, worunter auch
die Pressefreiheit fällt, im Gesamtgefüge der EMRK herausgearbeitet.519
Genau wie das Bundesverfassungsgericht hat auch der EGMR die herausragende
Stellung von Meinungs- und Pressefreiheit sowohl für die Demokratie als auch für
die Entwicklung eines jeden Menschen betont. Doch hat er auch gerade die Freiheit
der politischen Diskussion als Herzstück einer demokratischen Gesellschaft bezeichnet.520
518 Auf die grundsätzlichen Probleme dieser Lösung wurde schon hingewiesen, oben, Zweiter
Teil, § 5 C III, S. 74.
519 vgl. oben, Zweiter Teil, § 4 C, S. 58.
520 EGMR, Rekvényi gegen Ungarn, NVwZ 2000, S. 421; EGMR, Fressoz u. Roire gegen Frankreich, NJW 1999, S. 1315, 1316; Vgl. EGMR, The Observer and Guardian gegenVereinigtes
Königreich, EuGRZ 1995, S. 16, 20; EGMR, Lingens gegen Österreich, EuGRZ 1986, S. 424,
428.
122
Die in dieser Feststellung angelegte abgemilderte Schutzintensität für unpolitische Meinungen und Presseberichte wird im Caroline von Hannover-Urteil des
EGMR ausgebaut.
a) Differenzierung zwischen seriöser - politischer - Presse und unseriöser - unterhaltender - „Regenbogenpresse“
Das Gericht geht davon aus, dass die Freiheit der Meinungsäußerung weniger weit
auszulegen sei, wenn nur die Neugier eines bestimmten Publikums über das Privatleben anderer befriedigt werden soll.521 Der Weg zur Abwägung des Rechts auf
Freiheit der Meinungsäußerung mit entgegenstehenden Interessen wird vom EGMR
zwar prinzipiell eröffnet, findet - so das Verständnis des EGMR - mangels für diese
Art der Presse sprechender Argumente tatsächlich aber nicht statt. Wenn derartigen
Beiträgen aber schon generell jeglicher Wert in der Abwägung mit dem Recht auf
Privatleben der Betroffenen Personen verwehrt wird, dann heißt das in der Konsequenz, dass die Eröffnung des Schutzbereichs für unterhaltende Beiträge nur noch
eine reine Formalität ohne Substanz ist. Wenn der „Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse“ nicht nur ein wichtiges, sondern faktisch das einzige Abwägungskriterium darstellt, dies dem Unterhaltungssektor aber generell abgesprochen
wird, bedeutet dies, dass ein Schutz von Art. 10 EMRK für diesen medialen Bereich
von vornherein ausscheidet. Konsequenterweise dürfte man den Schutzbereich von
Art. 10 EMRK für derartige Beiträge unter diesen Voraussetzungen schon nicht
mehr für eröffnet halten, womit sich das Gericht von den eigenen zu Art. 10 EMRK
aufgestellten Grundsätzen entfernen würde, auch wenn sich in früheren Urteilen die
Neigung zu einer solchen Differenzierung andeutungsweise erkennen ließ. Explizit
entschieden wurde dies bisher aber noch nie.
Deutsche Obergerichte halten es daher auch nicht für ausgeschlossen, dass der
EGMR genau diese Schutzbereichsbeschränkung mit jener Passage auch ausdrücken
wollte.522 So nimmt das KG Berlin zur Schutzbereichsinterpretation des EGMR wie
folgt Stellung: „Soweit die Ausführungen des EGMR dahin zu verstehen sein sollten, dass rein unterhaltende Presseveröffentlichungen wie im vorliegenden Fall von
vornherein nicht von der Freiheit der Meinungsäußerung bzw. der Pressefreiheit
(Art. 10 EMRK) umfasst seien, folgt der Senat dem nicht.“ Es ist deshalb aufzuzeigen, dass diese Sichtweise im Anwendungsbereich der EMRK keinesfalls haltbar ist.
521 EGMR, Caroline von Hannover gegen Deutschland, NJW 2004, S. 2647, 2649, Ziffern 64/65.
522 KG Berlin NJW 2005, S. 2320, 2321.
123
b) Methodik
Die in der EMRK gewährleisteten Rechte sind, wie alle Grund- oder Menschenrechtsverbürgungen, bewusst keine Detailregelungen. Als offene Normen muss ihr
konkreter Sinngehalt durch Interpretation gewonnen werden. Zur Ermittlung des Inhalts einer jeglichen Rechtsnorm werden herkömmlicherweise die folgenden Auslegungskriterien herangezogen: Wortbedeutung, grammatische Konstruktion, Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers
und objektiv-teleologische Gesichtspunkte.523
Die verfassungsrechtliche Methodendiskussion erscheint häufig im Lichte einer
speziellen Methodik des Verfassungsrechts.524 Doch kann dabei auf die klassischen
Auslegungskriterien nicht verzichtet werden, zu denen regelmäßig weitere verfassungsspezifische Kriterien hinzutreten.525 Sind dies für die Auslegung des Grundgesetzes namentlich die Prinzipien der Einheit der Verfassung526, der funktionsrechtlichen Richtigkeit527 und der optimalen Wirksamkeit528, so sind es für die Auslegung
der EMRK vordergründig die Prinzipien der Rechtsvergleichung, der effektivitätssichernden und der dynamisch-teleologischen Auslegung.529
aa) konventionsspezifische Auslegungskriterien
Der Wortlaut von Art. 10 EMRK, seine Entstehungsgeschichte und Systematik, liefern keinerlei Anhaltpunkte für eine solche vom EGMR vorgenommene Beschränkung des Schutzbereichs.
523 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 133 ff.
524 Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII,
§ 164 Rn. 18.
525 Ein Eingehen auf die Probleme der Verfassungsinterpretation würde den Rahmen der Arbeit
sprengen. Hierzu sei exemplarisch auf die folgende Literatur verwiesen: F. Müller, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, Teil 1, S. 123; Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 ff.; Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963) S. 1 ff., Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL
20 (1963), S. 53 ff; Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des
Staatsrechts, Bd. VII, § 164.
526 BVerfGE 1, S. 14, 32; BVerfGE 19, S. 206, 220: „vornehmstes Interpretationsprinzip ist die
Einheit der Verfassung“; BVerfGE 34, S. 165, 183; BVerfGE 55, S. 274, 300.
527 Gefordert wird eine Interpretation mit Rücksicht auf die von der Verfassung vorgegebene
Funktionenteilung, Vgl. BVerfGE 1, S. 97, 100; BVerfGE 2, S. 219, 224; BVerfGE 10, S. 20,
40; BVerfGE 57, S. 295, 321; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Rn. 378 f.
528 Danach ist derjenigen Auslegung einer Grundrechtsnorm der Vorzug zu geben, die ihre Wirkungskraft am stärksten entfaltet, BVerfGE 43, S. 154, 167; BVerfGE 51, S. 97, 110;
BVerfGE 103, S. 142, 153.
529 Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 19.
124
Das Gericht musste folglich mit Hilfe konventionsspezifischer Auslegungsmethoden den Umfang des Schutzbereichs des Menschenrechts aus Art. 10 EMRK im
Sinne einer Beschränkung auf im Wesentlichen politische Inhalte bestimmen.
(1) Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Rechtsauffassungen
Die EMRK wurde von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage eines gemeinsamen
Verständnisses und der gemeinsamen Achtung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden ist, unterzeichnet.530
Dieses gemeinsame Verständnis lässt sich methodologisch nur auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückführen. Die Judikatur
nationaler (Verfassungs-) Gerichte spielt dabei neben den positiven Vorschriften anderer Rechtsordnungen die entscheidende Rolle. Auf dieser Grundlage werden die
gemeineuropäischen Rechtsauffassungen vom EGMR bei seiner Entscheidungsfindung auch berücksichtigt.531
(a) Verfassungstradition europäischer Staaten
Ein solches vom Gericht - jedenfalls faktisch – zu Grunde gelegtes enges Verständnis des Schutzbereichs, der danach im Wesentlichen nur die politische Berichterstattung umfasst, wird der Verfassungstradition nahezu aller europäischer Staaten nicht
gerecht. Traditionell wird der Pressebegriff nach europäischem Verständnis nicht
nach inhaltlichen, sondern einzig nach formalen Gesichtspunkten bestimmt.532 Exemplarisch sei dies mit folgenden Beispielen belegt:
Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zum Verständnis von Art. 5 GG, wonach eine inhaltliche Bewertung im Rahmen des Schutzbereichs nicht stattzufinden
hat, wurde bereits dargestellt.533
530 Vgl. die Präambel der EMRK.
531 Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 19.
532 Anders war dies nach dem in der DDR geltenden Verfassungsverständnis. Art. 27 Abs. 1 der
Verfassung der DDR gewährte das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß den Grundzügen der Verfassung. Nach Art. 27 Abs. 2 der Verfassung der DDR war die Freiheit der Presse
gewährleistet. Meinung nach Art. 27 war aber nur eine Äußerung über das persönliche Verhältnis eines Menschen zu einer bestimmten gesellschaftlichen Erscheinung, so Akademie für
Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Staatsrechtslehrbuch, S. 194. Skurilerweise sollten
gerade Äußerungen zu unpolitischen Fragen nicht in den Schutzbereich von Art. 27 der DDR-
Verfassung fallen, Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S.
765. Die inhaltliche Begrenzung der politischen Äußerung wurde mittels des Merkmals der
„Grundzüge der Verfassung“ vorgenommen.
533 Siehe oben, Zweiter Teil, § 4 C, S. 58.
125
Das schwedische Pressegesetz von 1949 in der Fassung von 1976, dem Grundgesetzqualität zukommt, garantiert die Pressefreiheit in einem umfassenden Sinn.534
Eine inhaltliche Einschränkung des Schutzbereichs lässt sich der dort geltenden
Rechtsprechung und Lehre nicht entnehmen.
Auch im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, wo es
mangels geschriebener Verfassung keinen klar umrissenen Grundrechtskatalog –
wohl aber Grundrechte - gibt,535 fallen in den Schutzbereich der Presse- wie auch
der Meinungsfreiheit Äußerungen jeglichen Inhalts.536
Genauso ist das Verständnis auch in Österreich. Ein Ausschluss von Berichten
und Stellungnahmen, die der Unterhaltung oder gar nur der Sensationslust dienen,
aus dem Schutzbereich der Meinungs- und Pressefreiheit findet nicht statt.537 Diesbezüglich besonders beachtenswert ist die österreichische Rechtsprechung und Lehre deshalb, weil verschiedene Grundrechtskataloge aus dem internationalen Bereich
Bestandteil des österreichischen Verfassungsrechts sind und so eine große Bedeutung für die österreichische Rechtsordnung haben. Die EMRK genießt mit ihren Zusatzprotokollen 1 und 4 Verfassungsrang.538
Die Reihe der europäischen Staaten mit demselben oder zumindest ähnlich weitreichendem Schutzbereichsverständnis ließe sich beliebig erweitern. Warum das Gericht schon bei der Schutzbereichsbestimmung des einheitlichen Kommunikationsgrundrechts des Art. 10 EMRK eine so restriktive Position einnimmt, bleibt im
Dunkeln, begnügt es sich doch an dieser Stelle des Urteils mit bloßen Feststellungen. Es drängt sich geradezu der Verdacht auf, der EGMR habe jede noch so kleine
Chance gesucht, ein aus seiner Sicht zu missbilligendes Ergebnis zu vermeiden.
(b) Die Verfassungstradition in der Behandlung durch den EGMR
Die Orientierung an gemeineuropäischen Rechtsauffassungen geht aber nicht so
weit, dass sich der EGMR gerade wegen der gemeinsamen Verfassungstraditionen
bei der Auslegung von Vorschriften der Konvention an bestimmte nationale Standards gebunden fühlt. Insofern handelt es sich bei den gemeinsamen Verfassungs-
überlieferungen lediglich um Erkenntnisquellen und nicht um unmittelbar anwendbare Rechtsquellen. Einer solchen Annahme würde die Eigenständigkeit der EMRK
entgegenstehen.
534 Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S. 474.
535 Zweiter Teil, § 5 E 1 a, S. 116.
536 Vgl. Schiedermair, Das Grundrecht der Pressefreiheit und die publizistische Kompetenzabgrenzung im Recht Großbritanniens, in: Bettermann/Hirsch/Lerche, Pressefreiheit und innere
Struktur von Presseunternehmen in westlichen Demokratien, S. 181.
537 Vgl. Berka, EuGRZ 1982, S. 413, 416.
538 Nach Art. II des Bundesverfassungsgesetzes vom 04. März 1964, BGBl. Nr. 59/1964. Neben
den Niederlanden ist Österreich damit der einzige Staat, welcher der EMRK innerstaatlich
Verfassungsrang einräumt.
126
Dennoch nimmt der EGMR für gewöhnlich auf nationale Grundrechtssensibilitäten Rücksicht, soweit sich diese nationalen Lösungen in die Ziele der EMRK einfügen.539 Ausgehend von der leitenden Intention der EMRK, einen wirksamen Menschenrechtsschutz zu gewährleisten, wäre dann aber eine Orientierung an nationalen
Maximalstandards naheliegend, jedenfalls zur Bestimmung des Umfangs der gewährleisteten Rechte. Vordergründig soll die EMRK die Menschenrechte gegenüber
Eingriffen der Staaten gewährleisten. Gerade für die Wirksamkeit in der Staatsrichtung ist aber ein weit gezogener Schutzbereich unentbehrlich. Dieses Verlangen sagt
nichts darüber aus, wie sich das Recht in Konfliktfällen mit anderen Grund- und
Menschenrechten verhält. Insbesondere wird dadurch keine Vorrangstellung der
Meinungsfreiheit (gegenüber dem Recht auf Privatleben/Privatsphäre) indiziert.
Auf die hier vertretene Orientierung an nationalen Maximalstandards sollte nur
dann verzichtet werden, wenn sich diese geradezu als Fremdkörper in der gemeinschaftlichen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten darstellen. Wie der Ländervergleich540 zeigt, steht ein solches bei einem weiten Verständnis des Schutzbereichs
von Art. 10 EMRK nicht zu befürchten.
(c) Die EMRK als Rahmenrecht
Bei der (fehlenden) Auseinandersetzung mit den mitgliedstaatlichen Rechtsauffassungen hätte das Gericht bei seiner Entscheidung einen weiteren Aspekt berücksichtigen müssen. So hätte es beachten müssen, dass die in der Konvention garantierten
Menschenrechte nur einen Rahmen vorgeben. Erst der den Mitgliedstaaten verbleibende Gestaltungsspielraum füllt diesen Rahmen aus.541 Dieser Gestaltungsspielraum beschränkt sich nicht auf den abschließenden Abwägungsvorgang, sondern auf
die vorgelagerte Frage der Grenzziehung des Schutzbereichs. Denn wenn dieselben
Punkte in derselben Wertigkeit in den Abwägungsvorgang eingestellt werden, bleibt
hinsichtlich des Ergebnisses nicht wirklich ein Spielraum. Dass den Mitgliedstaaten
ein Beurteilungsspielraum zukommt, erkennt das Gericht im Caroline von Hannover-Urteil selbst an, setzt sich damit aber nicht auseinander.542 Stattdessen setzt es
sich in offenem Widerspruch zu dem bis dahin geltenden Grundsatz, dass der
EGMR den Mitgliedstaaten keine „uniforme Sichtweise aufdrängen“, sondern nur
gemeinsame europäische Mindestnormen im Bereich des Menschenrechtsschutzes
„herausschälen“ will.543
539 Vgl. EGMR EuGRZ 1978, S. 406, 415; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 48: Ermittlung des „gemeinsamen Nenners“.
540 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 E IV 2 b aa (1), S. 126.
541 EGMR, Stjerna gegen Finnland, 25.09.1994, Ziffer 42, www.echr.coe.int; Ohly, GRUR Int.
2004, S.902, 911.
542 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 57.
543 So der Präsident des EGMR Luzius Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569, 570.
127
Eine Beschränkung auf dieses Ziel ist auch deshalb naheliegend, weil dann, wenn
die Entscheidungen keinen Abwägungsausfall bzw. kein Abwägungsdefizit aufwiesen, diese regelmäßig nicht besser, sondern nur anders werden.544 Nationale Grundrechtssensibilitäten wurden in diesem Urteil des EGMR nicht in ausreichender Weise berücksichtigt, mitgliedstaatliche Rechtsauffassungen kommen bei dieser Frage
nicht zum Tragen. Deutlich wird dies auch daran, dass die entscheidende Passage
des Urteils an dieser Stelle keinerlei rechtsvergleichende Ausführungen enthält.545An dieser Stelle weist die Begründung daher einen logischen Bruch auf.
(2) Effektivitätssichernde Auslegung
In ständiger Rechtsprechung und gerade auch in jüngeren Urteilen geht der EGMR
davon aus, dass bei der Auslegung der Konvention das Gebot praktischer Wirksamkeit der Konventionsgarantien546 zu berücksichtigen ist, die Auslegung der Konvention effektivitätssichernd sein soll. Die EMRK garantiert nicht illusorische und theoretische, sondern konkrete und praktisch ausübbare, mithin effektive Rechte.547 Der
Weg zu solcher Effektivität setzt gerade nach dem Selbstverständnis des EGMR,
wonach er sich nicht auf richtungweisende Grundsatzentscheidungen beschränken,
sonder Einzelfallgerechtigkeit herstellen möchte, voraus, dass bei der Auslegung der
Konvention die größtmögliche Wirksamkeit der jeweiligen Vorschrift angestrebt
werden soll. Eine solche Effektivität - im Sinne eines auch möglichst weitreichenden
Anwendungsbereichs der gewährleisteten Menschenrechte – verlangt eine großzügige Bemessung des Schutzbereichs der betroffenen Rechte. Das im Urteil zu Grunde
gelegte enge Verständnis des EGMR trägt diesem Erfordernis gemessen an seinen
eigenen Prämissen nicht Rechnung.
544 Vgl. Papier, FAZ vom 09.12.2004, S. 5.
545 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 66.
546 EGMR, Mamatkulov und Abdurasulovic gegen die Türkei, Urteil vom 06.02.2003, Ziffer 94,
www.echr.coe.int; EGMR, Airey gegen Irland, EuGRZ 1979, S. 626, 628; EGMR, Marckx
gegen Belgien, EuGRZ 1979, S. 454, 455.
Vgl. das vom BVerfG angewandte Prinzip optimaler Wirksamkeit, wonach derjenigen Auslegung einer Grundrechtsnorm der Vorzug zu geben ist, die ihre Wirkungskraft am stärksten
entfaltet, BVerfGE 103, S. 142, 153; BVerfGE 51, S. 97, 110; BVerfGE 43, S. 154, 167.
547 Vgl. EGMR, Airey gegen Irland, EuGRZ 1979, S. 626, 628; Vgl. zur Auslegungsmaxime des
„Effet utile“ in der Rechtsprechung des EuGH: Oppermann, Europarecht, S. 160.
128
(3) Dynamisch-teleologische Auslegung
Die dynamisch-teleologische Auslegung basiert auf dem Verständnis der Konvention als „living instrument“.548 Kernstück ist die Berücksichtigung des aktuellen Sinn
und Zwecks der Vorschriften, deren Anpassung an veränderte Umstände, namentlich im ethisch-moralischen und im gesellschaftlichen Bereich.
Die vorgenommene Ausklammerung wesentlicher Teile der unpolitischen Berichterstattung aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK wird der (aktuellen) Bedeutung dieses Grund- und Menschenrechts nicht gerecht.
(a) Öffentlichkeitsauftrag
Nicht nur nach dem dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Verfassungsverständnis,
sondern auch nach der EMRK hat die Presse einen Öffentlichkeitsauftrag. Danach
ist es (auch) die Aufgabe von Presse und Rundfunk (bzw. der gesamten Medienlandschaft) die drei Staatsgewalten zu kontrollieren und die Öffentlichkeit mit entsprechenden Informationen als Grundlage der (politischen) Meinungsbildung zu
versorgen. Dies ermöglicht dem Einzelnen dann die offene kommunikative Auseinandersetzung. Die Kommunikationsgrundrechte würden ihre herausragende Stellung für das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen durch ein derart enges
Schutzbereichsverständnis zwar nicht verlieren. Die auf das politische System bezogene Kritik- und Kontrollfunktion549 wird dadurch kaum spürbar berührt. Gleiches
gilt für die Meinungs- und Willensbildungsfunktion, jedenfalls bezüglich dem für
den freiheitlichen Staat unabdingbaren Beitrag zur Bildung einer öffentlichen politischen Meinung. Die Wesensmerkmale der Kommunikationsgrundrechte erschöpfen
sich darin indes nicht.
548 EGMR, Handyside gegen Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1977, S. 38: „Der Gerichtshof
muss auch darauf hinweisen, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, das im Lichte
der heutigen Verhältnisse zu interpretieren ist. Im vorliegenden Fall kann sich der Gerichtshof
nicht den Entwicklungen und allgemein akzeptierten Maßstäben (...) der Mitgliedstaaten des
Europarats (...) entziehen.“
549 BVerfGE 20, S. 162, 174.
129
(b) Der Wert der Unterhaltung
Zu wenig beachtet wird einmal die Unterhaltungsfunktion der Presse.550 Dabei kann
dahinstehen, ob diese zu den öffentlichen Aufgaben der Presse, also zu solchen Aufgaben, an deren Erledigung die Allgemeinheit ein besonderes Interesse hat, gehört.551 Faktisch nimmt die Presse diese Funktion äußerst intensiv wahr.
Schließlich ist es auch im Interesse der politischen Willensbildung notwendig, die
Unterhaltungsfunktion zu berücksichtigen und unterhaltende Beiträge dem Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte zu unterstellen, weil die politische Information vielfach und immer stärker mit Unterhaltungselementen vermischt wird und
erst dadurch alle gesellschaftlichen Schichten erreicht.
Aktuelle publizistikwissenschaftliche Ergebnisse werden völlig unbeachtet gelassen. Stattdessen wird die Unterhaltungskomponente gelegentlich darauf reduziert,
überflüssige Zeit zu vernichten. Dem scheint der EGMR vorbehaltlos zuzustimmen.
Doch ermöglicht gerade die Aufnahme des Unterhaltungsprogramms eine
„Selbstverortung in der dargestellten Welt“552, womit die Unterhaltung die gesellschaftliche Funktion als Orientierungshilfe für den Lebensentwurf des Rezipienten
übernimmt. In dem sich an die Kenntnisnahme anschließenden Diskussions- und Integrationsprozess, der sich auf Lebenseinstellung, Werthaltung und Verhaltensmuster beziehen kann,553 findet er hilfreiche Hinweise für die Arbeit an seiner Persönlichkeit, die ihm sogenannte „wertvolle“ Beiträge nicht bieten können.554 Der potentielle Rezipient wird sich von den unterhaltenden Beiträgen nur dann angesprochen
fühlen, wenn er deren Inhalt in die oder seine Lebenswelt einordnen kann. Dazu ist
es notwendig, dass Unterhaltung an deren Wissen anknüpft. Diese Anknüpfung führt
im Ergebnis sogar zu einer Verstärkung bereits vorhandenen Wissens.555
550 Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S. 122
551 Nach § 3 der Landespressegesetze – mit Ausnahme Hessens, wo eine entsprechende Bestimmung fehlt – nimmt die Presse ihre öffentliche Aufgabe dadurch wahr, dass sie 1) Nachrichten
beschafft und verbreitet, 2) Stellung nimmt und Kritik übt, 3) an der Bildung der öffentlichen
Meinung mitwirkt und 4) der Bildung dient.
Für die Unterhaltung bejahend: Scheuner, VVDStRL 22 (1965), S. 1, 68; „öffentlich“ wird
dabei nicht staatsbezogen interpretiert, sondern im Sinne von „Allgemeinzugänglichkeit“ verstanden, womit sämtliche publizistische Tätigkeit von dieser in den Bereich der öffentlichen
Aufgabe fällt.
552 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 115.
553 BVerfGE 101, S. 361, 390.
554 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 116.
555 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 108.
130
Nachgewiesen ist zudem, dass Unterhaltungselemente den Informationswert eines
Pressemediums durchaus steigern können556 und unterhaltende Beiträge das politische und gesellschaftliche Bewusstsein teilweise stärker beeinflussen und prägen als
Beiträge von politischem Charakter.557
Eine weitere Differenzierung der unterhaltenden Beiträge in solche, die – bspw.
wegen ihres sensationellen Anstrichs - dennoch generell als ungeeignet erscheinen,
dieses Bewusstsein zu prägen und solchen, denen dieser Funktionswert zugeschrieben werden kann, ist weder praktikabel, noch zutreffend. An Praktikabilität fehlte es
einem solchen Ansatz schon deshalb, weil wegen nicht mehr feststellbarer Grenzen
gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich dann noch weniger vorhersehbar
werden, als sie es ohnehin schon sind. Von seinem Ausgangspunkt her unzutreffend
wäre der Ansatz, weil gerade Beiträge sensationellen Charakters geeignet sind, die
Bereitschaft bildungsferner Schichten bezüglich der Kenntnisnahme einer Information zu wecken.558
bb) Zusammenfassung
Dass dieses engere Schutzbereichsverständnis nicht die größtmögliche Wirksamkeit
der Vorschrift ermöglicht, bedarf keiner weiteren Begründung. Zwar ist richtigerweise darauf abzustellen, dass die gesamten Vorschriften der EMRK zu berücksichtigen sind, weil letztlich die maximale Wirksamkeit aller Menschenrechte gewährenden Vorschriften erreicht werden soll.
Dies darf aber nicht dazu führen, den Schutzbereich der einzelnen Gewährleistungen jeweils danach zu bestimmen, mit welchen Rechten sie im Einzelfall kollidieren oder aus welcher Richtung – Staats- oder Drittrichtung - die Eingriffe erfolgen. Jegliche Grundrechtsdogmatik würde auf den Kopf gestellt. Der Ausgleich kollidierender Menschenrechte ist im Wege der Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles vorzunehmen.559
556 Noelle-Neumann, Wirkung der Massenmedien, in: Noelle-Neumann/Schulz/Wilke, Fischer
Lexikon Publizistik/Massenkommunikation, S. 360, 394.
557 Dovifat/Wilke, Zeitungslehre, S. 181; so auch Löffler/Ricker, Handbuch des Presserechts, 3.
Kap. Rn. 16.
558 Soweit Löffler/Ricker, Handbuch des Presserechts, 3. Kap. Rn. 16 hier auf sozial schwache
Schichten abstellen, ist dem nicht zu folgen.
559 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 C, S. 72.
131
3. Der fehlende Bezug zur Entfaltung der Persönlichkeit
Nicht hinreichend gewürdigt hat das Gericht die Bedeutung der Meinungsfreiheit für
die Entwicklung jedes Menschen. Einseitig sieht es die Gewährleistungen von Art.
10 EMRK nur als Bedrohung für die Persönlichkeit des Einzelnen. Neben der vorrangigen Intention der Väter der Konvention, dem Einzelnen, wenn er von der gewährleisteten Meinungsfreiheit Gebrauch macht, die Teilhabe und Mitwirkung am
Gemeinwesen zu ermöglichen, stellt sie sich aber als Mittel zur Entfaltung der Persönlichkeit dar.560 Die „Mitteilung von Geiste zu Geiste als eine der reichhaltigsten
Quellen unserer (scil. menschlicher) Belehrung und Bildung, können wir (scil. die
Menschen) nicht aufgeben, ohne unsere (scil. des Menschen) (...) Persönlichkeit
aufzugeben.561 Diese Quelle ist nicht beschränkt auf politische Themen. Die uneingeschränkte Entfaltung der Persönlichkeit verlangt die geistige Auseinandersetzung
mit Inhalten jeglicher Art und konsequenterweise die Möglichkeit umfassender Äu-
ßerung.
Erfordert also die Freiheit der Meinungsäußerung auch deshalb eine weite Fassung des Schutzbereichs, um dem Menschen die Entfaltung seiner Persönlichkeit zu
ermöglichen, so schlägt dies für Art. 10 EMRK schon deshalb auch auf den Bereich
der Pressefreiheit durch, weil es sich um ein einheitliches Kommunikationsgrundrecht handelt, eine Trennung der Schutzbereiche denknotwendig ausgeschlossen ist.
4. Das Abwägungskriterium des „allgemeinen Interesses“
Im Rahmen der Abwägung der Freiheit der Meinungsäußerung mit dem Schutz der
Privatsphäre hat das Gericht als maßgebliches Kriterium ins Feld geführt, ob die Fotoaufnahmen oder Presseartikel zu einer öffentlichen Diskussion über eine Frage
allgemeinen Interesses beitragen.562
560 Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S. 116; Dies ist eine
Folge der aufklärerischen Wurzeln der Meinungsfreiheit. Die zu dieser Zeit begehrte Freiheit
der Rede war untrennbar verbunden mit dem Glauben an die Selbstbestimmung und die Vernunft des einzelnen Menschen, vgl. Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, S. 67.
561 Fichte, Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten, S. 16, 17.
562 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 60 mit Hinweis auf seine
ständige Rechtsprechung, EGMR, Tammer gegen Estland, 04.04.01, Ziffer 59 ff.,
www.echr.coe.int; News Verlags GmbH & Co KG gegen Österreich, Slg. 2000-I, Nr. 52 ff.;
Krone Verlags GmbH & Co KG gegen Österreich, 26.02.2002, Ziffer 33 ff.,
www.echr.coe.int.
132
Die Problematik, die sich durch das alleinige Abstellen auf dieses Kriterium und
die staatsbezogene Auslegung faktisch für den Schutzbereich des Art. 10 EMRK ergibt, wurde bereits dargestellt.563 Doch auch die staatsbezogene Auslegung selbst,
gilt es hier zu hinterfragen.
a) „allgemeines Interesse“ als „öffentliches Interesse“, „Gemeinwohl“
Der Begriff des „allgemeinen Interesses“ wird in deutschen Gesetzen wie auch von
der verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung relativ selten verwandt.564 Gegenteiliges lässt sich über den Begriff des „öffentlichen Interesses“ sagen.565 Damit wird aber nicht ausgedrückt, dass den Termini ein unterschiedlicher
Sinngehalt beizumessen ist, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Versteht man als
„allgemein“ Vorgänge und Sachverhalte die über das Einzelne, Konkrete hinausgehen und deshalb die Öffentlichkeit als Ganzes betreffen und als „öffentlich“ jene
Vorgänge und Sachverhalte, die nicht mehr zum privaten Bereich gehören566, bleibt
die Wortwahl beliebig. Die Begriffe sind inhaltsgleich. Gerade der Terminus des Öffentlichen ist zwar vieldeutig, aber jedenfalls im Kontext mit dem des Interesses
sind beide Begriffe ein Synonym.567 Auch in anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gibt es keine spürbare Differenzierung.
563 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 E IV 2, S. 121 ff.
564 Die juris-Datenbank Bundesrecht auf CD-ROM, Stand 25.11.2004, weist nur 23 Vorschriften
nach, die diesen Begriff enthalten. Die juris-Datenbank Verwaltungsrecht weist 649 Entscheidungen der Gerichte nach.
565 Die juris-Datenbank Bundesrecht weist hier 534 Vorschriften nach, die diesen Terminus enthalten. Die juris-Datenbank Verwaltungsrecht weist 11006 Entscheidungen der Gerichte nach.
566 Külz, Das Wohl der Allgemeinheit im WHG, in: FS Gieseke, S. 187, 197. Dass das „öffentliche Interesse“ gerade nicht auch „private Interessen“ umfasst, wird an verschiedenen Vorschriften sehr deutlich. Exemplarisch sei hier § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeführt, der die
Behörde ermächtigt, die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts anzuordnen, wenn dies
„im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten“ liegt.
567 Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 28; früher schon Dürig, JZ 1953, S. 535, 536; Vgl.
Häberle, Öffentliches Interesse, S. 771 ff., 775; In einer jüngeren Entscheidung erklärt auch
der BGH den Terminus „öffentliches Interesse“ mit den „Interessen der Allgemeinheit“, also
„allgemeinen Interessen“, BGHZ 131, S. 247, 254. Für den vom EGMR entschiedenen Fall
ausdrücklich auch Lenski, NVwZ 2005, S. 50, 51.
Im Übrigen wird in der Rechtssprache auch das Substantiv durch die Begriffe „Wohl“ oder
„Belang“ ersetzt, ohne dass damit inhaltliche Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden
sollen, vgl. BVerwGE 56, S. 71, 75. Gleichwohl wurden auch Abgrenzungsversuche unternommen, Külz, Das Wohl der Allgemeinheit im WHG, in: FS Gieseke, S. 187, 197. Dürig
geht davon aus, dass zwischen den Begriffen kein Wesensunterschied besteht, nur die Grenzen in Einzelfällen unterschiedlich verlaufen können, Dürig, Die konstanten Voraussetzungen
des Begriffs „Öffentliches Interesse“, S. 7 ff.
133
So werden in Frankreich die Begriffe „Allgemeininteresse“ und „Gemeinwohl“
und damit auch das „allgemeine“ oder „öffentliche Interesse“ einheitlich als „interêt
général“ bezeichnet.568
Eine Besonderheit weist in dieser Beziehung die englische Sprache auf. „Allgemeines Interesse „ und „öffentliches Interesse“ werden einmal übereinstimmend mit
„public interest“ übersetzt.569 Daneben gibt es für den Begriff des „allgemeinen Interesses“ noch die Übersetzung „general interest“, den auch der EGMR im Caroline
von Hannover-Urteil verwendet.570 Inhaltlich sind Unterschiede nicht spürbar. So
wird auch im EG-Vertrag „Allgemeininteresse“ im Sinne von „öffentlichem Interesse“ nach deutschem Verständnis mit „general interest“ übersetzt.571
Bezeichnen also die Begriffe in den verschiedenen Rechtsordnungen dieselbe
Materie, ist klargestellt, dass sich auch die Ausfüllung des Begriffes weitestgehend
nach denselben Kriterien richten muss.
b) Die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen/öffentlichen Interesses
Eine inhaltliche Ausfüllung des Begriffs wird dem Rechtsanwender dort erleichtert,
wo der Gesetzgeber die „öffentlichen Interessen“ legaldefiniert bzw. Fallgruppen
vorgegeben hat.572 Dies hilft aber schon deshalb nicht weiter, weil derartige Konkretisierungen einen engen Bezug zur geregelten Materie aufweisen und deshalb nicht
auf andere Fallkonstellationen in anderen Rechtsgebieten übertragen werden können.
Der EGMR vermeidet in seiner Entscheidung eine Auseinandersetzung mit dieser
Frage. Wenn er ausführt, dass die streitgegenständlichen Fotos und Artikel nur die
Neugier eines bestimmten Publikums über das Privatleben der Beschwerdeführerin
wollten und daher nicht geeignet sind, zu einer öffentlichen Diskussion über eine
Frage allgemeinen Interesses beitragen zu können573, vermittelt er stattdessen den
Eindruck, welche Sachverhalte zu einer solchen Diskussion beitragen können, verstehe sich von selbst. Doch haben im Gegenteil schon zahlreiche Untersuchungen
gezeigt, dass der Begriff des öffentlichen oder allgemeinen Interesses nicht ohne
weiteres aus sich heraus verständlich ist.574
568 Ellenberger/Froschauer, Terminologie Juridique De Base, S. 247.
569 Pons, Fachwörterbuch Recht, Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch.
570 EGMR NJW 2004, S.2647, 2649-Caroline von Hannover, Ziffer 60; Ryffel, Öffentliche Interessen und Gemeinwohl, in: Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, S.14, hält eine ähnliche Unterscheidung auch im deutschen Recht für einschlägig. Das „allgemeine Interesse“ ist danach ein „qualifiziertes öffentliches Interesse“.
571 Vgl. die Bestimmung des Art. 257 EGV.
572 Vgl. § 16 Abs. 3 Nr.2 BauNVO. In § 35 Abs. 3 BauGB, hat der Gesetzgeber Fallgruppen für
eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange typisiert.
573 EGMR NJW 2004, S.2647, 2650-Caroline von Hannover, Ziffer 65.
574 Walter Klein, Zum Begriff des öffentlichen Interesses; Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff.
134
aa) Definitionsversuche
Eine umfängliche Darstellung des Problems der Bestimmung des öffentlichen Interesses würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.575 Dennoch ist es erforderlich, einerseits zumindest grundsätzlich zu bestimmen, welche Fragen überhaupt im
allgemeinen/öffentlichen Interesse liegen können und andererseits zu prüfen, ob
nicht die streitgegenständlichen Fotos und Artikel ein solches Interesse doch (mit-)
begründen.
(1) Die Öffentlichkeit
Das Bedeutungsspektrum des Begriffs der Öffentlichkeit ist enorm, so dass zuweilen
von einem „historischen Begriff von bemerkenswerter Schwammigkeit“ gesprochen
wird.576 Als gesichert kann zunächst gelten, dass der im Öffentlichen wurzelnde
Begriff der Öffentlichkeit eine wichtige Bezugsgröße gesellschaftlichen Handelns
bildet.
Rechtslehre und Politikwissenschaften unterscheiden im Wesentlichen vier Kategorien und zwar die Öffentlichkeit als politisch mündiges, jedenfalls partiell aktives
Volk, als aktuelle Manifestation des Gemeinwohls, im weitesten Sinne als Publizität
und als Gewährleistung des Prinzips sanktionierbarer Verantwortlichkeit.577
In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet Öffentlichkeit die Tatsache des
Offenseins, der Allgemeinzugänglichkeit, den Zustand formeller Publizität.578
Wird von einem Interesse der Öffentlichkeit gesprochen, dann bezieht sich das
Interesse zunächst einmal auf das Volk, sei es nun in seiner Gesamtheit oder auch
nur hinsichtlich eines Teils.
575 Vgl. dazu die grundlegenden und umfänglichen Ausführungen in den Habilitationsschriften
von Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem und von Uerpmann, Das öffentliche Interesse.
576 Negt/Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und
proletarischer Erfahrung, S. 17; Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 11:
„Der Sprachgebrauch von `öffentlich´ und `Öffentlichkeit´ verrät eine Mannigfaltigkeit konkurrierender Bedeutungen.“
577 Thaysen, Öffentlichkeit aus politologischer Sicht, in: Faulstich, Konzepte von Öffentlichkeit,
S. 13.
Vgl. auch die anschauliche Kategorisierung von Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S.
146, wonach der Begriff im staatstheoretischen Sinn öffentliche Angelegenheiten bezeichnen
kann, im Sinne einer freien Zugänglichkeit zu Räumen oder Informationen gemeint sein, oder
sich aber auch auf die Mehrheitsmeinung der Journalisten beziehen kann. Öffentlichkeit kann
die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung meinen, die in Abgrenzung zur allgemeinen Volksmeinung für maßgeblich gehaltene Meinung einer Elite oder den Zustand, in dem der Einzelne
von allen gesehen und beurteilt werden kann.
578 Staatslexikon, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Band 5.
135
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet das „Volk“
nicht nur die Summe aller Staatsangehörigen,579 eine politisch gegliederte Masse,580
Staatsorgan581 oder mit Blick auf Art. 38 Abs. 1 GG eine Legitimationsformel.582
Das „Volk“ steht vielmehr auch für Öffentlichkeit.583 Dass dabei nicht immer zwingend auf die Gesamtheit des Volkes abzustellen ist, zeigt ein Blick in verschiedene
gesetzliche Regelungen, wo auf das öffentliche Interesse rekuriert wird. Martens hat
dies gerade für die hier behandelte Problematik an folgendem Beispiel anschaulich
gemacht. So erlaubt § 24 KUG die Veröffentlichung von Bildnissen ohne Einwilligung des Berechtigten für Zwecke der Strafrechtspflege. Der Schutzzweck geht dahin, Personen welche die öffentliche Sicherheit gefährden, dem Strafanspruch des
Staates zuzuführen. Es geht um Strafverfolgung und Strafverhütung, woran nahezu
jede Person ein Interesse hat. Der hinter dem öffentlichen Interesse stehende Personenkreis ist daher groß. Demgegenüber bezieht sich das öffentliche Interesse im
Rahmen des öffentlichen Baurechts auf regelmäßig räumlich abgegrenzte Gruppen.584
Gewonnen ist mit dieser Einschätzung freilich noch nicht viel, ist doch auch der
Begriff des Interesses des Volkes nicht aus sich heraus verständlich.
(2) Das Mehrheitsprinzip
Ausgehend von dem konträren Begriff der „Privatinteressen“, also den Bestrebungen des Einzelnen, liegt es in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften, in denen
der Gemeinwille der Wille der Mehrheit ist, zunächst nahe, dem Interesse der Mehrheit das öffentliche, das allgemeine Interesse zu entnehmen.585 Bei der Bestimmung
der Mehrheit wäre dabei auch zuerst wieder an die Mehrheit des Volkes zu denken.
In der parlamentarischen Demokratie geht zwar alle Staatsgewalt vom Volke aus, 586
doch verwirklicht sich das Prinzip der Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie im Parlament.587 Konsequenterweise müsste auf die Interessen des Parlaments abgestellt werden.
579 BVerfGE 83, S. 37, 50.
580 BVerfGE 8, S. 54, 82.
581 BVerfGE 83, S. 60, 71.
582 Vgl. BVerfGE 49, S. 89, 125.
583 Vgl. BVerfGE 8, S.104, 115; Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 14 Rn. 24.
584 Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 171 f.
585 Dürig, Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs „Öffentliches Interesse“, S. 45, 91; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 194, der im Gegensatz zu Dürig, der die Interessen der
Mehrheit letztlich nur durch direkte Rückfrage beim Volk als ermittelbar ansieht, annimmt,
dass der Rechtsanwender die Interessen der Mehrheit prinzipiell zu erkennen vermag.
586 Vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG.
587 Meier, Die parlamentarische Demokratie, S. 1 ff. Vgl. hierzu Böckenförde, Demokratische
Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III,
§ 34.
136
Dass die Befriedigung der Neugier eines bestimmten Publikums bezüglich des
Privatlebens von Caroline von Hannover nicht dessen Interesse entspricht, bedarf
keiner näheren Begründung.
Dieser rein „quantitative“ Ansatz trägt aber aus mehreren Gründen nicht. Neben
dem ganz praktischen Hindernis, dass nicht bei jeder Frage nach dem öffentlichen
Interesse eine Parlamentsentscheidung herbeigeführt werden kann, sind dies verfassungsrechtliche Aspekte. Wenn sich das Gericht in jedem Einzelfall die Frage stellen muss, wie die Parlamentsmehrheit entscheiden würde, ist dies ein Verstoß gegen
den fundamentalen Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 2
S. 2 GG. Die Rechtsprechung ist allein an Recht und Gesetz gebunden, Art. 20 Abs.
3 GG, was erst durch den in Gesetzesform gegossenen Parlamentswillen verkörpert
wird. An diesem Punkt käme es daher zu einer von der Verfassung nicht gewollten
Gewaltenverschränkung.
Ein solches Verständnis würde daneben aber auch der verfassungsmäßig garantierten Rolle der Presse nicht gerecht. Es wurde bereits festgestellt, dass auch die
höchstrichterliche Rechtsprechung unter der Geltung des Grundgesetzes den Öffentlichkeitsauftrag der Presse anerkennt.588 Danach gehört zu den öffentlichen Aufgaben Meinungsbildung in allen Bereichen und Sachinformation zu allen Themen von
gesellschaftlicher Relevanz. Wenn die entsprechenden Berichte aber zudem im allgemeinen Interesse liegen müssen und das allgemeine, öffentliche Interesse dem
Parlamentswillen gleichzusetzen ist, wird die Presse zum Sprachrohr der Legislative
degradiert. Ihre in der demokratischen Gesellschaft wesentlichen Funktionen als
Wachhund bzw. vierte Säule im Staat könnte sie nicht mehr uneingeschränkt wahrnehmen.
Wenn der EGMR von einem „außerordentlichen Interesse“ für die Öffentlichkeit
spricht589, lässt sich der Eindruck gewinnen, er stelle auf das Interesse einer größeren Gruppe ab. Doch damit lässt sich das in der Caroline von Hannover-
Entscheidung gefundene Ergebnis nicht begründen. So ist Unterhaltung im allgemeinen und sind auch die streitgegenständlichen Fotos und Artikel im besonderen
von großem Interesse für eine breite Öffentlichkeit. Regelmäßig spiegeln sich dort
sogar die Interessen der Mehrheit wider.590 Das Gericht hätte dann aber den Beitrag
zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse bejahen müssen.
Unbestimmte Rechtsbegriffe sind mit den Methoden juristischer Auslegung inhaltlich auszufüllen. Welche Methode im konkreten Einzelfall auch immer den Ausschlag gibt, so erschöpft sich die so vorzunehmende Begriffsbestimmung weder darin, Mehrheitsauffassungen wiederzugeben, noch darin, Gruppeninteressen zu vertreten.
588 BGHZ 31, S. 308 unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, S. 198. Das Reichsgericht hingegen hat
nie wirklich anerkannt, dass die Presse als Sprachrohr der Öffentlichkeit öffentliche Aufgaben/Interessen wahrzunehmen hat.
589 Vgl. Krone Verlags GmbH & Co. KG gegen Österreich, 26.02.2002, Ziffer 33 ff.,
www.echr.coe.int.
590 Siehe nur die Verkaufs- und Auflagenzahlen der einschlägigen Zeitschriften und Magazine
unter www.ivw.de und www.pz-online.de.
137
(3) Bestimmung aus publizistischer Sicht
Der Begriff des „öffentlichen Interesses“ ist auch dem Bundesverfassungsgericht in
diesem Zusammenhang nicht fremd. In seiner Caroline von Monaco-Entscheidung
führte es aus, dass die Presse wegen ihrer überragenden Bedeutung für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung „nach publizistischen Kriterien entscheiden dürfen (muss), was sie des öffentlichen Interesses für wert hält und was
nicht“.591 Dahinter steht der Gedanke, dass es jegliche Beschränkung auf „seriöse“,
einem anerkennenswerten privaten oder öffentlichen Interesse dienende Medieninhalte nicht geben könne, weil dies auf eine Bewertung und Lenkung durch staatliche
Stellen hinausliefe.592 Auf dieser Grundlage ist das Gericht schließlich im Ergebnis
zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der veröffentlichten Fotos gekommen mit Ausnahme der Fotos, welche die Beschwerdeführerin beim familiären Umgang
mit ihren Kindern zeigen, wo das Persönlichkeitsrecht durch Art. 6 GG noch eine
Verstärkung erfährt.
Diese Sichtweise ist aus mehreren Gründen problematisch. Die Ausfüllung eines
unbestimmten Rechtsbegriffs kann schwerlich einer der am Rechtsstreit beteiligten
Personen überlassen werden. Daneben bleibt die Begriffsbestimmung in den Fällen
ungelöst, in denen die Presse nicht am Verfahren beteiligt ist, eine Entscheidung
aber gleichwohl im öffentlichen Interesse zu erfolgen hat.
Es wurde bereits dargelegt, dass die Inhalte der Pressemedien wegen des Zwangs
zur Wirtschaftlichkeit stark von den Interessen der Rezipienten abhängig sind.593
Dabei ist zwar der Kommerzgedanke nicht zwingend als Hemmnis für eine verantwortungsvolle Presse oder als Absage an publizistische Qualität zu begreifen, doch
kann der Presse nicht der Umfang des Schutzes der Persönlichkeitsrechte überlassen
werden.
Besonders problematisch ist zudem, dass es im Belieben der Medien steht, Öffentlichkeit durch gezielte Berichterstattung erst herzustellen.594
Eine Bestimmung des öffentlichen Interesses in diesem Sinne durch die Presse ist
nur dann möglich, wenn sich an dessen Bejahung der Abwägungsprozess erst anschließt. Sind Fotos dagegen nicht im öffentlichen Interesse, wäre für einen Abwägungsprozess mit Persönlichkeitsrechten kein Raum. Nach der Konzeption des
EGMR ist mit der Bejahung des allgemeinen Interesses der Abwägungsprozess
hingegen abgeschlossen.
591 BVerfGE 101, S. 361, 389.
592 BVerfGE 35, S. 202, 222.
593 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 4 D III, S. 65 ff.
594 Brömmekamp, ZUM 2000, S. 159, 160.
138
(4) Verfassungswerte
Schließlich stellt sich die Frage, ob dem Rechtsanwender im Sinne eines Beurteilungsspielraums die Freiheit zu individueller Begriffsbestimmung eingeräumt wird
oder ob er an einen objektiven Maßstab gebunden sein soll.
Wegen seines engen Bezugs zu Rechtssätzen ist auch der Ansatz, den Inhalt des
Begriffs dem Regelungszusammenhang des jeweiligen Tatbestandes zu entnehmen
und dabei darauf abzustellen, welche Rechtsgüter – quasi als Konkretisierungen des
öffentlichen Interesses - das Gesetz schützen soll,595 für die Beantwortung dieser
Frage nicht uneingeschränkt geeignet. Der richtige Grundgedanke kommt darin aber
zum Ausdruck. Denn bei der Entscheidung, was im öffentlichen Interesse liegt, geht
es letztlich darum, das „objektiv Richtige“ zu finden . Am Ende des Bewertungsprozesses soll das „richtige“ Ergebnis stehen. Für das subjektive Befinden des Rechtsanwenders ist bei der Entscheidungsfindung kein Raum.596 Da ein gerichtlicher Entscheidungsprozess niemals in vollem Umfang von gesetzlichen Vorgaben bestimmt
wird – was erst recht gilt, wenn dogmatische Sätze die Entscheidung beeinflussen –
muss zur inhaltlichen Ausfüllung des Begriffes auf normative Prinzipien zurückgegriffen werden, die die gesamte Rechtsordnung bestimmen.597
Dies sind sowohl bei rein nationalstaatlichen Entscheidungen als auch bei Entscheidungen des EGMR die Wertungen der Verfassungen und die Vorgaben der in
der EMRK niedergelegten Menschenrechte. Beide geben in den Grund- bzw. Menschenrechten, in dem Gebot der Achtung der Menschenwürde und weiteren grundlegenden Verfassungsprinzipien598 Gerechtigkeits- und Richtigkeitsstandards vor.
Die rechtsstaatliche Verfassung macht „Richtigkeit“ zum Legitimationskriterium
politischer Herrschaft. Die in Grundgesetz und EMRK zum Ausdruck kommende
freiheitlich-demokratische Konzeption ist der Begriffsbestimmung zu Grunde zu legen. Ein mit diesen Wertungen nicht korrespondierendes Interesse kann kein öffentliches Interesse begründen. Dass diesem Kompatibilitätserfordernis mit der freiheitlich-demokratischen Konzeption von Grundgesetz und EMRK nicht allein staatstragende Wertungen gerecht werden, versteht sich von selbst.
In der Caroline von Hannover-Entscheidung spricht das Gericht hinsichtlich zu
befriedigender Neugier doch abschätzig von den Interessen „eines bestimmten Publikums“.599
595 Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 197.
596 W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 33: „Aber auch, was öffentliches Interesse ist, lässt sich
nach gesellschaftlichen Anschauungen frei von subjektivem Ermessen feststellen.“
597 Uerpmann, Das öffentliche Interesse, S. 318.
598 So zum Beispiel die republikanische Staatsform und das Sozialstaatsprinzip.
599 EGMR NJW 2004, S.2647, 2650-Caroline von Hannover, Ziffer 65. Luhmann bezeichnet das
fehlende Interesse an und das mangelnde Verständnis für den Wert der Unterhaltung in den
Massenmedien als „arrogante Abstinenz,“ Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 116.
139
Dabei entsteht der Eindruck, es komme auf das Interesse einer Gruppe an, denen
ein qualitativ hochwertiges Interesse – welches nur staatspolitischer Natur sein kann
- unterstellt werden kann, auf ein in Abgrenzung zur Mehrheitsmeinung des Volkes
für maßgeblich gehaltenes Interesse einer Elite.600 Ist schon eine rein quantitative
Anknüpfung an den Volkswillen ein untaugliches Instrument zur Bestimmung des
öffentlichen Interesses601, käme hier eine Unvereinbarkeit mit demokratischen Prinzipien hinzu. Deshalb kann diese Aussage nur so zu verstehen sein, dass hier das
„richtige“ Interesse im Sinne der Wertungen und Vorgaben der EMRK und der Verfassungen gemeint ist.
Ohne diese Inhalte im Einzelnen näher bestimmen zu müssen, kann nicht zweifelhaft sein, dass die Befriedigung der Neugier eines bestimmten Publikums bezüglich des Privatlebens von Caroline von Hannover diesen Wertungen nicht gerecht
wird, damit nicht im öffentlichen Interesse liegen und damit auch nicht zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beitragen kann. Eine solche lediglich auf Skandale, Enthüllungen und Intimitäten ausgerichtete Publizität würde das
Bild vom öffentlichen Interesse verzerren und das liberale Verständnis von Meinungsfreiheit verfälschen.
(a) Unterhaltung als Basis für die Bereitschaft zur Informationsaufnahme
Für den vorliegend zu entscheidenden Sachverhalt ließe sich dessen Beitrag zu einer
öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse daher verneinen, wenn sich der
streitgegenständliche Beitrag in dieser Neugierbefriedigung und Sensationslust erschöpfen würde. Dies ist aber – mit Ausnahme der in der „Neue Post“ Nr. 35/97 erschienen Fotos, die die Beschwerdeführerin zeigen, als sie im „Beach-Club“ von
Monte-Carlo über einen Gegenstand stolpert - nicht der Fall.
Prinzipiell ist jedes private Thema erörterungsfähig und kann deshalb zu einem
politischen und somit im öffentlichen Interesse stehenden Thema werden.602 Im
Rahmen dieser Untersuchung wurde der Wert unterhaltender oder auch sensationeller Berichte für die öffentliche Meinungsbildung, ja sogar für die (aktuelle) politische Diskussion belegt.603
600 Zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung vgl. Dreitzel, Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine
soziologische Begriffsanalyse, S. 13: „nuancenreicher Begriff von schillernder Unbestimmtheit“.
601 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 E IV 4 b aa, S. 134.
602 Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S. 165.
603 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 E IV, S. 121 ff.
140
Dies mag mit Blick auf die streitgegenständlichen Fotos zunächst überraschend
anmuten. Bei genauerer Betrachtung sind die Fotos – mit Ausnahme des Fotos in
„Neue Post Nr. 35/97, wo ein über Neugier und Sensationslust hinausgehender,
kaum spürbarer Informationswert jedenfalls von der herabwürdigenden Tendenz
überlagert wird – aber durchaus geeignet, die Bereitschaft gerade bildungsferner
Schichten bezüglich der Kenntnisnahme einer Information zu wecken.604
Gerade dies liegt aber regelmäßig im allgemeinen Interesse, weil dadurch für die
demokratische Gesellschaft unentbehrliche Kommunikationsprozesse in Gang gesetzt werden.605 Politische und gesellschaftliche Handlungskompetenz der Staatsbürger setzen Grundkenntnisse in allen Bereichen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz voraus.606 Unterhaltende Beiträge beeinflussen und prägen das politische und gesellschaftliche Bewusstsein teilweise stärker als Beiträge von politischem Charakter.607 Schließlich werden damit für ein „bestimmtes Publikum“ auch
die Grundlagen und Voraussetzungen geschaffen, für die Aufnahme werthaltigerer
und insbesondere politischer Informationen bereit zu sein. Dabei ist gerade die Personalisierung ein wichtiges publizistisches Mittel zur Erregung von Aufmerksamkeit, als Mittel der Komplexitätsreduktion und der gesellschaftlichen Orientierungshilfe ein zugleich zeitloses Menschheitsbedürfnis.608 Die medialen Persönlichkeiten
prägen Lebensstile und dienen dem Einzelnen im Positiven wie im Negativen als
real vorhandenes, greifbares Anschauungsmaterial.609 Oftmals bewirkt erst der Bezug zu einer konkreten Person das Interesse an gesellschaftlichen und politischen
Problemen und weckt den Wunsch nach Sachinformation.610 So ist ein vordergründig unterhaltender medialer Bericht nicht auf eine reine Unterhaltungsfunktion zu
beschränken, sondern dient auch der „Sicherung der universellen Zugänglichkeit der
Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten einer Gesellschaft.“611 Auch in diesem
Bereich ermöglichen die Medien als Ort der Selbsterfahrung und Selbstfindung612
die Kontaktaufnahme zu bestimmten Aspekten des Selbst.613
604 Vgl. Löffler/Ricker, Handbuch des Presserechts, 3. Kap. Rn. 16.
605 Vgl. Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des
Staatsrechts, Bd. III, § 42 Rn. 38.
606 Vgl. Pöttker, Politische Sozialisation durch Massenmedien: Aufklärung, Manipulation und
ungewollte Einflüsse, in: Claußen/Geißler: Die Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation, S. 149, 150.
607 Dovifat/Wilke, Zeitungslehre, S. 181; so auch Löffler/Ricker, Handbuch des Presserechts,
Kap. 3 Rn. 16.
608 Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S. 143; Thiele-Dohrmann, Ruhm und Unsterblichkeit. Ein Menschheitstraum von der Antike bis heute, S. 1.
609 Vgl. Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S. 143.
610 BVerfGE 101, S.361, 390; Vgl. Kunczik/Zipfel, Publizistik, S. 247; Pürer/Raabe, Medien in
Deutschland, Bd. 1, S. 309 f.
611 Wenzel, Leviathan, Nr. 28/2000, S. 452, 474.
612 Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S. 143.
613 Turkle, Leben im Netz. Identität im Zeichen des Internet, S. 285 ff.
141
Im übrigen ist ein Beitrag, der keinerlei Information bietet, sondern sich in der
Wirkung des Klatschaspekts völlig erschöpft kaum, vorstellbar.614 Mit dieser vom
EGMR in diesem Sinne vorgenommenen pauschalen Abqualifizierung unterhaltender Bildberichterstattung lässt sich ein Vorrang von Art. 8 EMRK nicht überzeugend
begründen. Noch auffälliger wird dies, wenn man versucht, die Kriterien auf Bildberichterstattungen von Personen anzuwenden, die tatsächlich politische Verantwortung tragen.
Natürlich ist nicht zu übersehen, dass das Urteil des EGMR einen Einzelfall entschieden hat, mit all seinen fallspezifischen Besonderheiten. Man mag „Auswüchsen“ der Berichterstattung mit diesem staatstragend interpretierten Kriterium des
„allgemeinen Interesses“ auch wirksam begegnen können. Gleichwohl muss sich die
Argumentation an ihrer generellen Untauglichkeit messen lassen, weil das Gericht
seine Kriterien für die Konfliktlösung der Kollision von Art. 8 und Art. 10 EMRK
insgesamt bemüht.
(b) Der Zusammenhang zwischen Unterhaltung und politischer Bildung
Wenn in diesem Zusammenhang immer wieder die „seichte“ Berichterstattung der
hochwertigen politischen Berichterstattung gegenübergestellt und deren Wert für die
politische Bildung und den Erhalt einer freiheitlich demokratischen Ordnung betont
wird, ist es nämlich unerlässlich, folgende Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die politisch Verantwortlichen werden für die Öffentlichkeit zunehmend als Privatleute
interessant.615 Dazu geführt hat zum einen die Suche der Journalisten nach der
„Kombination von Vertrautheit und Abweichung“ in deren Leben und zum anderen
deren eigenes Streben nach privater Präsentation.616 Die Zustimmung zur Politik
vollzieht sich zunehmend über die Identifikation mit der Person, Sachfragen treten
in den Hintergrund.
614 Vgl. Ladeur, ZUM 2000, S. 879, 882; Schneider, Der Januskopf der Prominenz, S. 345.
615 „Der Fischer“ ]Bundesaußenminister (1998-2005) Joschka Fischer_ ist für das breite Publikum
beim Marathon, bei seiner Diät o.ä. viel interessanter, als bei einer Parteitagsrede.
616 Ross, Die Regression des Politischen. Die Massenmedien privatisieren die Öffentlichkeit, in:
Imhof/Schulz, Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen, S.
150. So bedient sich eine ganze Reihe Prominenter zur Steigerung ihrer Medienpräsenz sogenannter Medienmanager oder PR-Agenturen. Bspw. ließ sich Dieter Bohlen deshalb vom
ehemaligen BILD-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje beraten, vgl. DER SPIEGEL Nr.
23/1998, S. 27. Doch auch der „Normalbürger“ setzt zunehmend auf den „Famous. For fifteen minutes“-Effekt, wie die Vielzahl der täglichen Talkshows zeigt, in denen Nicht-
Prominente ihr Seelenleben feil bieten.
142
Es findet eine „Privatisierung des Öffentlichen“617 statt, eine Personalisierung des
Politischen, eine Verdrängung von Sachthemen zu Gunsten der Darstellung von Personen. An die Stelle von Einverständnis oder Ablehnung bei der Bewertung einer
politischen Programmatik tritt wegen der Verschiebung der Wertungskriterien von
der politischen Qualifikation auf die Ebene menschlicher Sympathie ein „diffuses
Gemisch von Zu- und Abneigung“.618 Besonders deutlich wird dieser Effekt dort,
wo sich politische Programmatik - auch als Folge von durch Sachzwänge hervorgerufenen mangelnden Handlungsalternativen - nur noch in Nuancen unterscheidet.
Sich diesem äußerst realen Phänomen zu stellen bedeutet, den Kampf um Meinungen und die Vermittlung politischer Sachthemen verstärkt auf persönlicher Ebene zu
führen und die Privatsphäre preiszugeben.
Der so gewonnene Einblick des Publikums in die Privatsphäre fördert letztlich die
politische Meinungs- und Entscheidungsbildung.
Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht bestreiten, dass auch die erzwungene
oder heimlich hergestellte Öffentlichkeit privater Bilder eines politisch Verantwortlichen einen Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse
leisten kann. Daran darf sich das „Ja“ oder „Nein“ bezüglich der Frage einer rechtmäßigen Veröffentlichung nicht entscheiden.
bb) Konsequenzen
Da sich den Ausführungen des EGMR entnehmen lässt, dass sich die Meinungs-
/Pressefreiheit gegen den Schutz des Privatlebens schon immer dann durchsetzt,
wenn die Artikel und/oder Fotos zu einer Diskussion von öffentlichem Interesse beitragen619, hätte der EGMR bei konsequenter und richtiger Anwendung seiner eigenen Kriterien, der Meinungs-/Pressefreiheit auch vorliegend den Vorrang gegenüber
dem Privatsphärenschutz einräumen müssen. Weil nach der hier vertretenen und
publizistikwissenschaftlich bestätigten Auffassung unterhaltende und auch sensationelle Berichte gesellschaftspolitisch wertvolle Zwecke erfüllen (können) und damit
regelmäßig im öffentlichen Interesse liegen, zeigt sich hier die Problematik des Ansatzes über das allgemeine Interesse besonders deutlich.
617 Imhof/Schulz, Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen, in:
Imhof/Schulz, Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen, S. 9
ff.
618 Ross, Die Regression des Politischen. Die Massenmedien privatisieren die Öffentlichkeit, S.
151.
619 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 60, mit Hinweis auf seine ständige
Rechtsprechung, EGMR, Tammer gegen Estland, 04.04.01, Ziffer 59 ff., www.echr.coe.int;
News Verlags GmbH & Co KG gegen Österreich, Slg. 2000-I, Nr. 52 ff.; Krone Verlags
GmbH & Co KG gegen Österreich, 26.02.2002, Ziffer 33 ff., www.echr.coe.int.
143
Wenigstens hätte der EGMR auf ein überwiegendes allgemeines/öffentliches Interesse abstellen müssen, um dann in diesem Abwägungsprozess das aus seiner Sicht
nicht im überwiegenden öffentlichen Interesse liegende Veröffentlichen der Bilder
argumentativ begründen zu können. Das pauschale Bestreiten jeglichen öffentlichen
Interesses trägt jedenfalls nicht.
5. Politiker bei Ausübung ihrer jeweiligen Funktion
Der EGMR trifft eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer Berichterstattung über Personen des politischen Lebens, betreffend beispielsweise die Wahrnehmung ihrer Amtsgeschäfte und einer Berichterstattung über eine Person, die keine
solchen Aufgaben hat. Nur im ersten Fall trage sie dazu bei „Ideen und Informationen zu Fragen allgemeinen Interesses zu vermitteln“.620 Nur dort nehme die Presse
ihre wesentliche Rolle als Wachhund in der demokratischen Gesellschaft wahr.621
Damit beschränkt der EGMR nach dem strengen Wortlaut der Entscheidung die
Berichterstattung auf Politiker bei Führung ihrer Amtsgeschäfte oder ähnliche offizielle Funktionen.622 Der Anwendungsbereich der bisher vom EGMR in diesem Zusammenhang verwendeten Rechtsfigur der „public figure“, die Personen erfasste,
die auf Grund ihres Amtes, ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion oder ihres
eigenen Verhaltens in der Öffentlichkeit stehen, wurde beträchtlich eingeschränkt.
a) Logischer Widerspruch I
Das Gericht gerät hier in einen logischen Widerspruch zu seiner eigenen in früheren
und auch in diesem Urteil geführten Argumentation. So hat es die Bedeutung der
Texte des Europarates für die Interpretation der EMRK immer wieder betont und im
vorliegenden Fall ausgeführt, dass es bei der Entscheidungsfindung auch die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über den Schutz des
Privatlebens bezüglich der Auslegung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung im Verhältnis zum Privatsphärenschutz berücksichtigt habe.623 Diese Bezugnahme auf eine Entschließung der Parlamentarischen Versammlung ist aus methodologischer Sicht durchaus bemerkenswert.
620 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 63.
621 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 63.
622 Grabenwarter, AfP 2004, S. 309, 310; vgl. Mann, NJW 2004, S. 3220, 3221. Bölke, FAZ vom
22.09.2004, S. 38. So verstanden würden Bildberichterstattungen über Personen des gesellschaftlichen Lebens außerhalb der Politik auch dann nicht der Konvention genügen, wenn sie
diese bei Ausübung ihrer spezifischen Tätigkeit oder Funktion zeigen würden.
623 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 67.
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Dies deshalb, weil sich die Auslegung der EMRK in erster Linie nach den völkerrechtlichen Regeln der Wiener Vertragrechtskonvention624 richtet.625 Entschließungen der Parlamentarischen Versammlung lassen sich dort vor allem deshalb nicht
zuordnen, weil sie für die Mitgliedstaaten des Europarates nicht bindend sind.626 Das
Gericht geht nicht explizit darauf ein, woraus sich der Wert der Entschließung für
die Auslegung der Konvention ergeben soll. Wenn das Gericht diesen Weg aber
wählt, sollte ein gewisses Maß an Konsequenz nicht unterschritten werden. In der
Resolution 1165 (1998) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates wird
nämlich auch der Begriff „public figure“ erklärt. Personen die ein öffentliches Amt
begleiten stellen nur eine besondere Ausprägung der Kategorie „public figure“ dar.
Daneben gehören Personen die öffentliche Ressourcen nutzen und all jene Personen
hinzu, „die im öffentlichen Leben eine Rolle spielen, sei es in Politik, in der Wirtschaft, in der Kunst, im gesellschaftlichen Bereich, im Sport oder in jedem anderen
Bereich“.627 Eine Erklärung, warum das Gericht in diesem Punkt einen anderen
Maßstab anlegt, bleibt es schuldig.
b) Logischer Widerspruch II
Daneben ist dieses reduktionistische Verständnis auch mit dem vom EGMR selbst
aufgestellten Kriterium des allgemeinen Interesses nicht in Einklang zu bringen.
Denn es kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden, dass auch an Personen, die
nicht wegen ihrer Eigenschaft als Politiker, sondern aus anderen Gründen in der Öffentlichkeit stehen, ein legitimes Informationsinteresse bestehen kann und dass entsprechende Berichte dem entscheidenden Kriterium des EGMR, nämlich zu einer
öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beizutragen, durchaus genügen
können. Dass dies im jeweiligen Einzelfall anders sein kann und sich dann der Persönlichkeits-/Privatsphärenschutz im Abwägungsprozess gegen die Meinungs-
/Pressefreiheit durchsetzt, ist eine andere Frage. Der EGMR scheint demgegenüber
von vornherein schon die abstrakte Möglichkeit eines legitimen öffentlichen Interesses auszuschließen. Teil der öffentlichen Diskussion sind aber nicht nur staatstragende Parlamentsdebatten, sondern auch profane Alltagsgeschichten.
624 Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23.5.1969. Die Konvention trat am
27.01.1980 in Kraft.
625 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 43 ff.; Wildhaber, in: Internationaler Kommentar, Art. 8 EMRK Rn. 15; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S.17.
626 Halfmeier, AfP 2004, S. 417, 418.
627 Resolution 1165 (1998) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates; vgl. Grabenwarter, AfP 2004, S.309.
145
aa) Sondervoten
Dieses Problem wurde indes auch innerhalb der Kammer offen diskutiert, woraus
zwei Sondervoten628 resultierten. Richter Cabral Barreto führt unter Verweis auf die
eben angesprochene Entschließung 1165 (1998) der parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Recht auf Achtung des Privatlebens aus, dass Caroline von
Hannover sehr wohl eine Person des öffentlichen Lebens darstellt und Berichterstattungen über sie daher auch zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beitragen können. Zur Begründung der Eigenschaft der Beschwerdeführerin
als „public figure“ muss nicht einmal auf die gesellschaftliche Stellung abgestellt
werden, erfüllt sie doch vielfältige öffentliche Funktionen. So ist sie neben weiteren
Funktionen im humanitären Bereich UNESCO-Botschafterin für Frauenbildung.
Ohne den Begriff der Politik zu überdehnen, lässt sich dieses Verhalten der Beschwerdeführerin darunter fassen. Das alleinige Abstellen darauf, dass sie im Fürstentum keine offiziellen Aufgaben wahrnimmt, wirkt dabei sehr gekünstelt.
bb) Bewertung
Die vom Ergebnis unerwünschter Fotos her geführte Agumentation lässt jegliche
Strukturen verschwinden. Zuzugeben ist dieser Lösung des EGMR allerdings, dass
sie trotz der offenen Begrifflichkeit des allgemeinen Interesses, der kaum mit handhabbaren Kriterien auszufüllen ist, wegen des reduktionistischen Verständnis der
„public figure“ leicht zu handhaben ist und damit in gewisser Weise auch Rechtssicherheit schafft. Handelt es sich um einen Politiker bei Ausübung seines Amtes und
damit um eine „public figure“, dann tragen die Bildberichte regelmäßig – eine Ausnahme ist kaum vorstellbar - zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse bei. Handelt es sich dagegen nicht um einen Politiker und somit nicht um eine
„public figure“ nach dem Verständnis des EGMR, dann gibt es an den Berichten
über diese Person auch kein allgemeines Interesse.
Der EGMR erkennt aber auch in diesem Zusammenhang nur scheinbar an, dass es
im öffentlichen Interesse stehende unterhaltende Beiträge gibt, wenn er in den Entscheidungsgründen auf notwendige besondere Umstände in Bezug auf Personen des
öffentlichen Lebens, insbesondere Politiker verweist.629
628 Wie bei Entscheidungen des BVerfG, wo nach § 30 Abs. 2 BVerfGG ein Richter seine in der
Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in
einem Sondervotum niederlegen kann, ist dies auch bei Entscheidungen des EGMR nach Art.
45 Abs. 2 EMRK möglich. Es kann sich dabei um „abweichende“ als auch im Ergebnis „zustimmende“ Sondervoten handeln, vgl. Art.74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des EGMR vom
01.11.2003. Die Richter Cabral Barreto und Zupancic folgten der Mehrheitsmeinung hinsichtlich der angenommenen Verletzung von Art.8 EMRK, aber nicht der Begründung.
629 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 64.
146
Denn schon mit dem übernächsten Satz schließt er das öffentliche Interesse wieder mit der Begründung aus, dass die Bilder „außerhalb jeder politischen oder öffentlichen Diskussion“ lägen.630 Wieder folgt er also der rein staatstragenden Interpretation.
Dieses Verständnis ist realitätsfremd631 und wird der Bedeutung des Menschenrechts aus Art. 10 EMRK in keiner Weise gerecht.
Auf der Grundlage des Verständnisses des EGMR ist es zwar auch konsequent,
wenn er daneben der Auslegung des im deutschen Recht maßgeblichen § 23 KUG
mit seiner Rechtsfigur der (absoluten) Person der Zeitgeschichte eine Absage erteilt,
bzw. deren Anwendungsbereich ebenfalls auf Politiker bei Ausübung ihrer offiziellen Funktionen begrenzen will.632 Überzeugend ist dies aber aus den dargelegten
Gründen nicht.
6. Prominente bei Ausübung ihres „Amtes“
Im Wege der teleologischen Extension der Entscheidung wird versucht, die vom
EGMR eröffnete Ausnahme für Politiker in offizieller Funktion auf sonstige Prominente bei Ausübung ihres Berufs oder der sie charakterisierenden Tätigkeit auszudehnen.633 Ob dies der Wortlaut der Entscheidung zulässt, ist zweifelhaft.
Denn das Gericht spricht nicht beispielhaft davon, dass eine Berichterstattung über Politiker bei Ausübung ihrer offiziellen Funktionen jedenfalls zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beiträgt.634 Vielmehr ist der Gerichtshof
der Auffassung, dass eine Berichterstattung über Politiker zu einer solchen Diskussion beiträgt und fügt als Beispiel dann die Wahrnehmung ihrer Amtsgeschäfte
an.635 Entscheidendes Kriterium bleibt also der Politiker.
Die weite Auslegung wird deshalb noch auf eine andere Passage des Urteils gestützt. Dort führt der Gerichtshof aus, dass es ein Recht der Öffentlichkeit auf Informationen gibt, das unter besonderen Umständen auch Aspekte des Privatlebens
von Personen des öffentlichen Lebens einbeziehen kann, insbesondere wenn es sich
um Politiker handelt.636 Dies kann so verstanden werden, dass es Personen des öffentlichen Lebens auch außerhalb der Politik gibt.
Doch darf bezweifelt werden, dass der EGMR das damit tatsächlich sagen wollte.
Denn auf dieser Grundlage wäre kaum verständlich, wieso der Gerichtshof Caroline
von Hannover nicht als „public figure“ angesehen hat.
630 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 64.
631 Grabenwarter, AfP 2004, S. 309, 310.
632 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 72.
633 Vgl. Mann, NJW 2004, S. 3220, 3221; Grimm, FAZ vom 14. Juli 2004, S. 34.
634 So aber Mann, NJW 2004, S. 3220, 3221.
635 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 72.
636 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 64.
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7. Glaubwürdigkeit
Die Beschränkung der zulässigen Veröffentlichung auf das Amt bzw. die offizielle
Funktion - egal ob nun Prominente im weitesten Wortsinn oder nur Politiker erfasst
werden - übersieht einen für den Meinungsbildungsprozess wesentlichen Aspekt,
nämlich die dann kaum noch mögliche Überprüfung der Glaubwürdigkeit der betreffenden Personen. Durch abgestimmte PR-Berichte lässt sich eine solche Überprüfung in keiner Weise realisieren.637
Das Gericht lässt in diesem Punkt völlig außer Acht, dass sich Politiker – und
auch Prominente – nicht nur über ihre Funktion, ihr offizielles Amt definieren, dass
sie stattdessen vielmehr durch jegliches Verhalten und Auftreten Meinungen beeinflussen, Verhaltensmuster prägen und Lebensstile vermitteln.638 Da dies nicht ernsthaft zu bestreiten ist, besteht grundsätzlich auch ein allgemeines Interesse an Berichten über private Verhaltensweisen und Tätigkeiten. Nur so besteht für den Einzelnen
die Möglichkeit abzugleichen, ob das Verhalten in der Öffentlichkeit mit dem Verhalten im privaten Bereich korrespondiert. Die Glaubwürdigkeit spielt eine nicht zu
unterschätzende Rolle bei der Bewertung von Persönlichkeiten und der von diesen
oder durch diese repräsentierten Inhalte.
Besonders relevant ist dies zwar bei Politikern. So spielt es für den Wähler eine
große Rolle, ob die Aussagen in Parlamentsdebatten oder auf Pressekonferenzen mit
dem privaten Verhalten übereinstimmen.639 Insofern sind entsprechende Berichte
wichtig für die Meinungsbildung und damit auch für die freiheitliche Demokratie,
womit sich der Kreis schließt. Doch reicht die Bedeutung über den politischen Bereich hinaus und erfasst sämtliche gesellschaftlichen Bereiche. So besteht meines
Erachtens kein Zweifel daran, dass nach dem Kriterium des EGMR sehr wohl ein
allgemeines Interesse daran besteht zu erfahren, wenn ein Sportler einerseits in TV-
Spots für „Keine Macht den Drogen“ wirbt, andererseits aber regelmäßig betrunken
in diversen Lokalitäten anzutreffen ist. Diesen Aspekt hat bspw. die britische Rechtsprechung erkannt, indem sie darauf hingewiesen hat, dass Berichterstattung auch
über Aspekte des Privatlebens zulässig bleibt, wenn dadurch falsche Aussagen Prominenter korrigiert werden und die Berichterstattung nicht durch unangemessene
Details ausgeschmückt wird.640
637 Kummer, DER SPIEGEL vom 21.05.2000, S. 110, charakterisiert dies überspitzt aber im
Kern zutreffend: „Was ein Star unter PR-Kontrolle sagt, beleidigt den klugen Menschen (...)
Ich glaube, es ist unmöglich, in einem Interview, das von einem Presseagenten organisiert und
kontrolliert wird, Wirklichkeit wiederzugeben.“ Sein Versuch, damit erfundene Interviews zu
rechtfertigen und diese als tatsächlich stattgefundene Ereignisse zu verkaufen, ist indes nicht
diskutabel.
638 Grimm, FAZ vom 14. Juli 2004, S. 34.
639 Der Wahlkampf der heutigen Zeit wird weniger als inhaltliche Debatte geführt, sondern als
Gegenüberstellung von Personen. Deren Glaubwürdigkeit als sympathiesteigerndes Element
ist für den Wähler ein wesentliches Kriterium für die Wahl.
640 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 E III 1, S. 113 ff.
148
Der EGMR hingegen stellt einfach nur fest, dass dem nicht so ist, bleibt aber jeglichen Nachweis und jegliches Argument dafür schuldig. Ob die Berichte hingegen
im Einzelnen den Anforderungen des Privatsphärenschutzes nach Art. 8 EMRK genügen, muss trotzdem im Wege einer Einzelfallbetrachtung bewertet werden.
8. Unzutreffende Wiedergabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Entscheidung des EGMR ist im Vergleich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht nur insgesamt ärmer an abwägungsrelevanten Fakten, sondern
gibt dessen Rechtsprechung einseitig und zum Teil fehlerhaft wieder.
a) Die absolute Person der Zeitgeschichte
Der EGMR kritisiert die Auslegung des § 23 KUG641 durch die deutschen Gerichte.
Nach seiner Auffassung ist der Begriff der „absoluten Person der Zeitgeschichte“
allenfalls geeignet, das Privatleben und das Recht am eigenen Bild von Personen des
politischen Lebens zu schützen, nicht aber von Personen, die aus anderen Gründen
in der Öffentlichkeit stehen.642 Am Ende der Urteilsgründe führt der Gerichtshof
aus: „Im vorliegenden Fall genügt es nicht, die Beschwerdeführerin als `absolute´
Person der Zeitgeschichte einzustufen, um ein solches Eindringen in ihr Privatleben
zu rechtfertigen.“643 Doch hat dies das Bundesverfassungsgericht auch nicht getan.
So begründet die Kritik an der Auslegung von § 23 KUG mit seinem Begriff der
„absoluten Person der Zeitgeschichte“ auch sein mag,644 an dieser Stelle geht sie
fehl. Denn das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff nicht unreflektiert übernommen, sondern ihm stattdessen verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit nur so
lange bescheinigt, wie „die einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den berechtigten Interessen des Abgebildeten
nicht unterbleibt“.645 Wie der EGMR erkannte das Bundesverfassungsgericht die mit
dieser Kategorisierung einhergehenden Schwierigkeiten für den Privatsphärenschutz
und das Recht am eigenen Bild, nutzt die Begrifflichkeit aber als Hilfskonstruktion
im Rahmen einer einzelfallbezogenen umfassenden Abwägung und verschafft dem
Rechtsanwender in diesem wenig griffigen Bereich zumindest ein brauchbares Kriterium. Diesen Aspekt blendet der Gerichtshof bei seiner Kritik völlig aus.
641 Siehe oben, Zweiter Teil, § 5 C V, S. 79 ff.
642 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 72.
643 EGMR NJW 2004, S.2647-Caroline von Hannover, Ziffer 75.
644 Vgl. oben, Zweiter Teil, § 5 C V, S. 79 ff.
645 BVerfGE 101, S. 361, 392.
149
b) Stellenwert der Pressefreiheit
Aus der Gesamtschau der Argumentation des EGMR wird deutlich, dass er die Position, die das Bundesverfassungsgericht der Presse- und Meinungsfreiheit im Gesamtgefüge des Grundgesetzes einräumt, nicht richtig deutet. Der Gerichtshof ist
wohl der Ansicht, Art. 5 GG werde in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte
eine so hohe Stellung eingeräumt, dass in Kollisionsfällen andere Rechte regelmäßig
zurücktreten müssen,646 weil eine Rangfolge der Grundrechte existiere, an deren
Spitze die Rechte aus Art. 5 GG stünden.647 Dies überrascht zunächst vor dem Hintergrund, dass der EGMR die herausgehobene Stellung der Kommunikationsgrundrechte im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht selbst immer wieder betont
hat.648 Schließlich haben die Verfahren der Caroline von Monaco vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht gezeigt, dass sich die Kommunikationsfreiheiten nicht ausnahmslos gegen kollidierende Rechte – auch nicht gegen die
Rechte aus Art. 2 Abs.1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG - durchsetzen.
V. Zusammenfassung
Als einhellige Auffassung galt bisher, dass der EGMR überzeugende Argumente
finden muss, um von den Feststellungen der nationalen Gerichte abzuweichen.649
Diese überzeugenden Argumente lässt das Urteil des EGMR im Vergleich mit der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vermissen. Dabei kann dahinstehen,
ob man dessen Entscheidung sowohl im Ergebnis als auch in den Gründen für richtig und überzeugend hält, was durchaus bezweifelt werden darf. Es setzt sich aber in
viel dezidierterer Form mit den kollidierenden Rechten auseinander und stellt ein
Mehr an abwägungsrelevanten Fakten in den Entscheidungsfindungsprozess ein.
Dass die Bewertung sämtlichen abwägungsrelevanten Materials im Einzelfall zu divergierenden und einem der Sicht des EGMR nicht genehmen Ergebnis führt, rechtfertigt die Feststellung einer Verletzung der Konvention dagegen nicht. Denn dies ist
geradezu der klassische Fall des den Staaten verbliebenen Ermessensspielraums,
der, wenn er auf demokratische Staaten angewandt wird, ein notwendiger Faktor der
internationalen Zuständigkeit ist.650
646 Im Kollisionsfall mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG ist diese Sicht indes nahe liegend, vgl.
oben, Zweiter Teil, § 5 C IV, S. 76.
647 Richter Zupancic im Sondervotum gab dies folgendermaßen wieder: „Außerdem scheint mir,
dass die Gerichte in bestimmtem Maße und unter amerikanischen Einfluss aus der Pressefreiheit einen Fetisch gemacht haben. (...) Es ist an der Zeit, dass das Pendel zurückschlägt...“,
EGMR NJW 2004, S.2647, 2652 -Caroline von Hannover.
648 Siehe oben, Zweiter Teil, § 4 D, S. 62.
649 vgl. nur EGMR, Tanli gegen Türkei, Urteil vom 10.04.2001, Ziffer 110, www.echr.coe.int.
650 Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569, 570.
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Darin verwirklicht sich die Erkenntnis, dass es nicht zum Aufgabenbereich des
Gerichtshofs gehört, den innerstaatlichen Gerichten seine Vorstellungen aufzuzwingen und geradezu an die Stelle des nationalen Gesetzgebers zu treten.651 Schließlich
anerkennt der Gerichtshof, dass dessen Entscheidungen grundsätzlich zu respektieren sind, solange es Verfahrensgarantien gibt, die das materielle Recht schützen.
Denn mit der Gewährleistung solcher Verfahrensgarantien hat der Vertragsstaat seine Verpflichtungen weitestgehend erfüllt. Eine Feststellung der Verletzung der
EMRK bleibt natürlich weiterhin möglich, gerade wenn sich materielle Fragen von
grundsätzlicher Bedeutung stellen, doch verlangt der Ermessensspielraum hier eine
vorsichtige Vorgehensweise.652 Diese lässt der Gerichtshof im Caroline von Hannover Urteil vermissen.
651 Vgl. Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569, 570.
652 Wildhaber, EuGRZ 2002, S. 569, 570.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Autor wendet sich der viel diskutierten Frage zu, wie Persönlichkeitsschutz einerseits, Meinungs- und Pressefreiheit andererseits in einer freiheitlichen Rechtsordnung zueinander stehen. Neu dimensionierte Verletzungsmodalitäten in der Medien- und Informationsgesellschaft verlangen eine Überprüfung der bisher nach deutschem Recht vor allem von der Rechtsprechung zum Verhältnis Persönlichkeitsrecht – Meinungs-/Pressefreiheit entwickelten Rechtsgrundsätze.
Ausgehend vom Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dem fundamentalen und mit der Menschenwürde in Verbindung stehenden Recht auf Selbstbestimmung, misst der Verfasser die Grundsätze der Konfliktlösung nach deutschem Recht an europäischen Standards und rekonstruiert davon ausgehend den Problemzugang zum nationalen Recht.
Das Werk weist einen Weg, wie der Achtungsanspruch des Einzelnen in verfassungsrechtlich gebotener Weise aufgewertet werden kann, ohne die konstitutive Funktion der Meinungs- und Pressefreiheit für das europäische Modell der pluralistischen Demokratie zu vernachlässigen.