Zweiter Teil
102
auf die methodische Erneuerung der Rechtswissenschaft als wertbeziehende
Kulturwissenschaft521.
II. Die strafrechtliche Methodendiskussion unter dem Einfluss des
Südwestdeutschen Neukantianismus (Neukantianisches Strafrechtsdenken)
Nachdem im vorigen Abschnitt die methodischen Ausgangsbedingungen der
geistigen Erneuerung der Strafrechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert
dargestellt worden sind, geht es im Folgenden um deren Durchführung im Neukantianischen Strafrechtsdenken.
Die weiteren Ausführungen nehmen folgenden Verlauf: Nach einigen kurzen
Bemerkungen zum Forschungsstand und zur Untersuchungsmethode (1.) sollen
zunächst ausgewählte Hauptvertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
vorgestellt werden (2.). Daran anschließend geht es um die Rezeptionsgeschichte
des Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht (3.).
1. Forschungsstand und Methode der Darstellung
Zur Einführung zunächst einige Worte zum Forschungsstand des Neukantianischen Strafrechtsdenkens und zu den daraus sich ergebenen Folgen für die Darstellung.
Die Phase des Neukantianischen Strafrechtsdenkens führt bislang nur ein
Schattendasein in der Strafrechtsgeschichtsschreibung522, obwohl sie – wie bereits in der Einführung bemerkt und belegt – für di e Entwicklung des modernen
Strafrechtsdenkens von großer Bedeutung war und noch immer ist523. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich hinsichtlich der Entwicklung des Neukantianischen Strafrechtsdenkens allein Einigkeit über das „Ob“ einer Rezeption
herstellen lässt. Die Belege hierfür sind zahlreich und ziehen sich durch alle
politischen und wissenschaftlichen Lager524. Unklarheit herrscht dagegen über
521 Lask, Rechtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl. 1907,
S. 298; Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1./2. Aufl. 1914/22, in: GRGA,
Bd. 2, S. 175; Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, in: GRGA, Bd. 2, S. 354.
Einzelheiten s. schon oben § 3 II 2.b. >S. 62 ff.<; zur Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft s. unten § 5 II. >S. 102 ff.< und § 6. >S. 134 ff.<.
522 Keine Hinweise bei Rüping/Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl.
2002; kurze Erwähnung immerhin bei Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, § 324 (S. 390/391). Ausführlicher dagegen bei Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 24 ff.
523 Für Nachw. s. Einführung, FN 2.
524 Aus zeitgenössischer Sicht s. etwa: Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 38/39; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen, 1975, S. 70; Mit-
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
103
das „Wie“ einer Rezeption des Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht.
Diese Unklarheit lässt sich auf zwei Schwierigkeiten zurückführen: Eine erste
Schwierigkeit ist personeller Natur und betrifft die Zuordnung von Autoren als
Vertreter des neukantianischen Strafrechtsdenkens südwestdeutscher Prägung.
Die Zuordnung von Autoren erweist sich insbesondere deshalb als schwierig, da
die Rezeption des Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht weder das
Werk einer geschlossenen Bewegung war noch seine Anhänger ein geschlossenes
Strafrechtssystem vorgelegt haben525. Der Blick in die Sekundärliteratur ergibt
allenfalls im Zentrum ein klares Bild, das dann allerdings an den Rändern stark
verschwimmt. Als Hauptvertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
können gelten: Max Ernst Mayer526, Erik Wolf527, Max Grünhut528, Erich Schwintasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens, 1939, S. 18 ff. – Aus späterer Sicht siehe z. B.: Gallas, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen
(1955), in: ders., Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 20; Würtenberger, Die
geistige Situation, 1957, S. 19; Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, § 324 (S. 390/391); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl.
1967, S. 587; Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 50 ff.; Fikentscher, Methoden des
Rechts, Bd. III, 1976, S. 289; Jescheck, Entwicklung und Stand der Lehre von der
strafrechtlichen Fahrlässigkeit (1980), in: Vogler (Hrsg.), Jescheck. Beiträge zum
Strafrecht, 1989, S. 117/118; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 4. Aufl. 1984,
S. 7 f.; Roxin, Strafrecht, AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 21; Mir Puig, Grenzen des
Normativismus im Strafrecht, in: Symposium für Bernd Schünemann, 2005, S. 81.
525 Z. B. Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 722: »dogmatisch wie kriminalpolitisch getrennt arbeitend« (wenn auch – so Wolf – »einig in dem methodologischen
Grundansatz«, aaO., S. 723, Hervorh. im Orig.).
526 1875–1923. Für Belege zur Einordnung Mayers als südwestdeutscher Neukantianer
siehe z. B. Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 38/39; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen, 1975, S. 70; Wolf, Große Rechtsdenker,
4. Aufl. 1963, S. 722 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1967, S. 588;
Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 51; Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie,
1992, S. 132. – Einzelheiten zu Mayer s. unten § 5 II 2.a. >S. 106 ff.<.
527 1902–1977. Belege zur Einordnung des frühen Erik Wolf als südwestdeutscher
Neukantianer: z. B. Class, Grenzen des Tatbestandes, 1933, Anm. 226 (= S. 205);
Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 38/39; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie
(1935), in: ders., Abhandlungen, 1975, S. 70; Mittasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens, 1939, S. 22 Fußn. 61; Würtenberger, Die geistige Situation,
1957, S. 19; Schaffstein, Zur Problematik der teleologischen Begriffsbildun g (1936),
in: Ellscheid/Hassemer (Hrsg.), Interessenjurisprudenz, 1974, S. 386; Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 132; Amelung, Der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 365. – Einzelheiten zu Wolf s. unten § 5 II 2.b. >S. 112 ff.<
sowie § 5 II 3.c. >S. 130 ff.<.
528 1893–1964. Belege zur Einordnung Grünhuts als südwestdeutscher Neukantianer:
z. B. Class, Grenzen des Tatbestandes, 1933, Anm. 226 (= S. 205); Welzel, Natura-
Zweiter Teil
104
ge529, die daher auch im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen sollen
(s. unten § 5 II 2. >S. 106 ff.<).
Daneben gibt es eine Vielzahl von weiteren Strafrechtsautoren, die von den
Zeitgenossen und den Nachgeborenen mit dem Neukantianismus in Verbindung
gebracht werden, bei denen aber die Zuordnung zu ei ner bestimmten Strömung
(etwa nach Südwestdeutscher Schule oder Marburger Schule) nicht immer eindeutig ist. Zu diesen Autoren gehören: Alexander Graf zu Dohna530, Richard M.
Honig531, August Hegler532, Wilhelm Sauer533, James Goldschmidt534, Gustav Radlismus und Wertphilosophie (1935), ders., Abhandlungen, 1975, S. 70; Schaffstein,
Zur Problematik der teleologischen Begriffsbildung (1936), in: Ellscheid/Hassemer
(Hrsg.), Interessenjurisprudenz, 1974, S. 386; Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 132; Amelung, Der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 365.
– Einzelheiten zu Grünhut s. unten § 5 II 2.c. >S. 115 ff.<.
529 1903–1994. Belege zur Einordnung Schwinges als südwestdeutscher Neukantianer:
z. B. Class, Grenzen des Tatbestandes, 1933, Anm. 226 (= S. 205); Schaffstein, Zur
Problematik der teleologischen Begriffsbildung (1936), in: Ellscheid/Hassemer
(Hrsg.), Interessenjurisprudenz, 1974, S. 386; Mittasch, Die Auswirkungen des
wertbeziehenden Denkens, 1939, S. 22 Fußn. 61; Amelung, Der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und
Rechtsphilosophie, 2002, S. 365. – Einzelheiten zu Schwinge s. unten § 5 II 2.d.
>S. 117 ff.< sowie § 5 II 3.c. >S. 130 ff.<.
530 1876–1944. Belege zur Einordnung Dohnas als Neukantianer: z. B. Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 203 (Neukantianer); v. Weber, Alexander Graf zu Dohna (1948), in:
Küper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer, 1986, S. 276 f. (Neukantianer); Jescheck, Entwicklung und Stand der Lehre von der strafrechtlichen Fahrlässigkeit
(1980), in: Vogler (Hrsg.), Jescheck, Beiträge zum Strafrecht, 1989, S. 117/118
(Neukantianer); Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 51 (Marburger Schule); Escher,
Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992 (Neukantianer). – Zu Dohna s. auch § 5
FN 633, 654.
531 1890–1981. Belege zur Einordnung Honigs als Neukantianer: z. B. Amelung, Der
Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 363 (Südwestdt. Schule); Stratenwerth,
Strafrecht, 4. Aufl. 2000, S. 34 (Neukantianer). – Zu Honig s. unten § 5 FN 696.
532 1873–1937. Belege zur Einordnung Heglers als Neukantianer: z. B. Mittasch, Die
Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens, 1939, S. 22 Fußn. 61 (Südwestdt.
Schule); Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 132 (Südwestdt.
Schule).
533 1879–1962. Belege zur Einordnung Sauers als Neukantianer: z. B. Class, Grenzen
des Tatbestandes, 1933, Anm. 226 (= S. 205) (Südwestdt. Schule); Mittasch, Die
Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens, 1939, S. 22; Fußn. 61 (Südwestdt.
Schule, mit Einschränkung); Würtenberger, Die geistige Situation, 1957, S. 19
(Südwestdt. Schule); Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 132
(Südwestdt. Schule).
534 1874–1940. Belege zur Einordnung Goldschmidts als Neukantianer: z. B. Achen-
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
105
bruch535, Hermann Kantorowicz536, Edmund Mezger537, Thomas Würtenberger
senior538, Eberhard Schmidt539 sowie Helmut Mittasch540.
Eine zweite Schwierigkeit bei der Darstellung der Rezeptionsgeschichte des
Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht ist sachlicher Natur und betrifft die Zuordnung von Positionen zum neukantianischen Strafrechtsdenken
südwestdeutscher Provenienz. Problematisch ist an dieser Stelle insbesondere,
dass nicht alle Lehren des Neukantianismus im eigentlichen inhaltlichen Sinne
neukantianisch sind. So hat beispielsweise der häufig als Kennzeichen des Neukantianismus genannte sog. „Methodendualismus“ von Sein und Sollen seinen
Ursprung bei Hume und Kant und ist damit – strenggenommen – keine neukanbach, Schuldlehre, 1974, S. 200 (Neukantianer); Jescheck, Entwicklung und Stand
der Lehre von der strafrechtlichen Fahrlässigkeit (1980), in: Vogler (Hrsg.), Jescheck. Beiträge zum Strafrecht, 1989, S. 117/118 (Neukantianer).
535 1878–1949. Belege zur Einordnung des Radbruchs als neukantianischer Strafrechtler: z. B. Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), ders., Abhandlungen,
1975, S. 70 (Südwestdt. Schule); Schaffstein, Zur Problematik der teleologischen
Begriffsbildung (1936), in: Ellscheid/Hassemer (Hrsg.), Interessenjurisprudenz,
1974, S. 386; Würtenberger, Die geistige Situation, 1957, S. 19 (Südwestdt. Schule);
Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 200 (Neukantianer). – Zur neukantianischen
Rechtsphilosophie Radbruchs s. schon § 3 II 2.b.cc. >S. 65 ff.<.
536 1877–1940. Belege zur Einordnung Kantorowicz’ als neukantianischer Strafrechtler:
z. B. Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 200 (Neukantianer). – Zum neukantianischen Hintergrund des Rechtsphilosophen Kantorowicz s. jüngst Saliger, Radbruch
und Kantorowicz, in: ARSP 93 (2007), S. 236–251.
537 1883–1962. Belege zur Einordnung Mezgers als Neukantianer: z. B. Class, Grenzen
des Tatbestandes, 1933, Anm. 226 (= S. 205) (Südwestdt. Schule); Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen, 1975, S. 70 u. 96
(Südwestdt. Schule); Mittasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens,
1939, S. 21/22; Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 722 f. (Südwestdt. Schule); Gallas, Zum gegenwärtigen Stand (1955), in: ders., Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 20 (Südwestdt. Schule); Würtenberger, Die geistige Situation, 1957,
S. 19 (Südwestdt. Schule); Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 132
(Südwestdt. Schule); Amelung, Der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 363
u. 365 (Südwestdt. Schule). – Zu Mezger siehe auch unten § 5 FN 678 sowie § 5 II
3.c. >S. 130 ff.<.
538 1907–1989. Belege zur Einordnung Würtenbergers als Neukantianer: z. B.: Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 129 (Südwestdt. Schule). – Zu Würtenberger siehe
auch unten § 5 FN 709.
539 1891–1977. Belege zur Einordnung Eb. Schmidts als Neukantianer: z. B.: Wolf,
Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 722 f. (Südwestdt. Schule); Gallas, Zum gegenwärtigen Stand (1955), in: ders., Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 20 mit
Fußn. 2 (Südwestdt. Schule).
540 Belege zur Einordnung Mittaschs als Neukantianer: z. B.: Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 129 (Südwestdt. Schule). – Zu Mittasch s. auch unten § 5 FN 709.
Zweiter Teil
106
tianisches, sondern ein kantianisches Erbe. Anders sieht es hingegen beim Dualismus von Wirklichkeit und Wert aus, der als genuin neukantianisches Motiv
gelten kann541. Und selbst wenn es sich um genuin neukantianische Motive handelt, werden diese Motive nicht unmittelbar übernommen, sondern erfahren in
ihrer Anwendung auf das Recht und wegen ihrer Anwendung durch Juristen
einige Veränderungen (siehe hierzu § 6 >S. 134 ff.<).
2. Hauptvertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
Nach dieser kurzer Einführung folgt nun ein Überbli ck über einige ausgewählte
Hauptvertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens. Wie bereits angedeutet, beschränkt sich die Untersuchung auf die Autoren Max Ernst Mayer, Erik
Wolf, Max Grünhut und Erich Schwinge.542
a) Max Ernst Mayer
Einer der frühesten Anhänger des neukantianischen Strafrechtsdenkens ist der
Straßburger und zuletzt Frankfurter Strafrechtslehrer und Rechtsphilosoph Max
Ernst Mayer (1875 bis 1923, 1900 Habilitation bei Fritz van Calker in Straßburg,
ab 1910 außerordentlicher Professor in Straßburg, 1919 Ordinarius in Frankfurt
am Main)543.
aa) Der neukantianische Hintergrund Mayers
(1) Mayers philosophische Lehrjahre
Durch seine philosophischen Studienjahre bei Kuno Fischer in Heidelberg (dort
im Jahre 1896 auch philosophische Promotion544) und Wilhelm Windelband in
541 Zum Wertgedanken im Südwestdeutschen Neukantianismus siehe bereits § 3 III.
>S. 70 ff.<.
542 Wie bereits in der Einleitung angedeutet, verfolgt die Darstellung einen systematischen Zugang, der personen- und werkgeschichtlichen Zusammenhänge nur in
Ausnahmefällen nachgeht.
543 Zu ihm: Ziemann, Max Ernst Mayer, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte,
Bd. 4 (2002/03), 2003, S. 395–425; Hassemer, Max Ernst Mayer, in: Diestelkamp/
Stolleis (Hrsg.), Juristen an der Universität Frankfurt am Main, 1989, S. 84–93. Aus
zeitgenössischer Sicht zusätzlich den Nachruf von Kantorowicz, Max Ernst Mayer,
in: Frankfurter Zeitung v. 11. Jan. 1924.
544 Mayer, Das Verhältnis des Sigismund Beck zu Kant, Heidelberg 1896. – Kuno Fischer (1824–1907) ist von 1872 bis 1906 o. Prof. der Philosophie in Heidelberg. Zu
ihm nur Selow, in: NDB, Bd. 5 (1961), S. 199.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
107
Straßburg kommt Max Ernst Mayer sehr früh mit den Lehren des Südwestdeutschen Neukantianismus in Berührung. Insbesondere Windelband, eines der
Schulhäupter der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, wird ihm ein
guter Lehrer. Dieser sei sogar – wie Mayer betont, »für den, der die ersten Stufen
hinter sich hat, der beste Lehrer«, da er »nicht nur Professor der Philosophie,
sondern Philosoph [ist]« und »nicht nur Gedachtes nach[denkt], sondern […]
seine eigenen Gedanken [hat].«545.
(2) Mayers Wechsel zur Jurisprudenz
Aus Anlass der Beschäftigung mit Staatslehre und Rechtsphilosophie546 wechselt
Mayer kurz nach der philosophischen Promotion zum Studium der Rechts- und
Staatswissenschaften an die Universität Straßburg. In Straßburg wird er ein
Schüler von Fritz van Calker547, bei dem er sich 1898 promoviert548 und im Jahre
1900 auch habilitiert549. Trotz seines Wechsels zur Jurisprudenz bleibt jed och die
Philosophie ein durchgehendes Thema seiner späteren strafrechtlichen Arbeiten550.
545 Mayer, Brief v. 20.11.1896 an seine Cousine zweiten Grades, Martha Haushofer
(Abschriften im Besitz von Verfasser; die Originale befinden sich im privaten Familienarchiv der Familie Haushofer, Pähl).
546 Siehe Mayer, Brief v. 20.11.1896 an Martha Haushofer (s. Hinw. FN 545).
547 Fritz van Calker (1864–1957); 1891 Habilitation in Halle, danach von 1896 bis
1919 Prof. in Straßburg, nach der Schließung der Straßburger Universität Wechsel
nach München (Techn. Hochschule, später auch Universität), dort 1934 Emeritierung; 1912 bis 1918 Reichstagsabgeordneter der nati onalliberalen DVP. Fritz van
Calker ist ein v. Liszt-Schüler, geht aber vielfach eigene Wege und wird auch im
Schulenstreit einer vermittelnden „dritten“ Richtung zugeordnet (neben Adolf
Merkel und dem ersten v. Liszt-Schüler Robert von Hippel). Zu van Calker siehe die
kurze Würdigung von Engisch, in: JZ 1954, S. 713.
548 Max Ernst Mayer, Der Causalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg im
Strafrecht. Eine rechtsphilosophische Untersuchung, Straßburg 1898 (auch Freiburg i. Br. 1899).
549 Max Ernst Mayer, Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht. Drei
Begriffsbestimmungen, Freiburg i. Br. 1901; zugl. H abilitationsschrift Straßburg
1900. Zu dieser Arbeit sogleich § 5 II 2.a.bb.(2). >S. 108 ff.<.
550 Siehe vor allem Mayer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts. Lehrbuch,
1. Aufl. Heidelberg 1915; 2. , unveränderte Auflage 1923 (zu diesem Werk s. auch
§ 5 II 2.a.bb.(3). >S. 110 ff.<). Im Jahre 1922 ers cheint zudem Mayers »Rechtsphilosophie« (1922). In einem Brief berichtet er, dass ihn bei der Frage, ob er eher Jurist
oder Philosoph sein will, ein ewiger Zweifel befalle (Mayer, Brief v. 10.02.1897 an
Martha Haushofer, [zur Quelle s. die Hinw. § 5 FN 545]).
Zweiter Teil
108
bb) Mayer als neukantianischer Strafrechtler
(1) Mayers „Der Causalzusammenhang zwischen
Handlung und Erfolg im Strafrecht“ (1899)
Die ersten Hinweise darauf, dass die Philosophie überhaupt eine Bedeutung für
die Rechtswissenschaft und insbesondere die Strafrechtswissenschaft haben
könnte, finden sich in Max Ernst Mayers juristischer Doktorarbeit »Der Causalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg im Strafrecht« (1899)551. Darin
kritisiert Mayer – wenngleich noch ohne eindeutige Parteinahme zugunsten des
Südwestdeutschen Neukantianismus – die Geringschätzung der Philosophie
seitens der Einzelwissenschaften und erhebt die Forderung nach »philosophischer Begründung spezieller juristischer Lehren«552.
(2) Mayers „Die schuldhafte Handlung und
ihre Arten im Strafrecht“ (1901)
Konkrete Belege für den Einfluss des Südwestdeutschen Neukantianismus zeigen
sich erstmals in Mayers Habilitationsschrift »Die schuldhafte Handlung und ihre
Arten im Strafrecht« von 1901, in deren Einführungskapitel sich Mayer mit der
wissenschaftstheoretischen Einordnung der Rechtswissenschaft als idiographisch-individualisierende Wissenschaft im Sinne Windelbands und Rickerts
beschäftigt553 und auf dieser Grundlage ein formales Prinzip strafrechtlicher
Schuld entwickelt554.
Ausgangspunkt der wissenschaftstheoretischen Ausführungen Mayers ist die
bei der herrschenden Strafrechtslehre Franz v. Liszts beobachtete »Tendenz […],
aus den Geisteswissenschaften Naturwissenschaften zu machen oder, um es
genau zu sagen, für die Geisteswissenschaften die naturwissenschaftliche Methode zu verwerten.« (Mayer SH 1901)555. Ein solches Bestreben könne jedoch
nach Mayer »nur innerhalb der Schranken einer methodologischen Erinnerung
gutgeheissen werden«, wobei er sich vor allem auf die wissenschaftstheoretischen Lehren Windelbands und Rickerts beruft.556 Unter Rückgriff auf deren
551 Siehe die Nachw. oben § 5 FN 548.
552 Siehe Mayer, Der Causalzusammenhang (1898), 1899, S. 2. Dieser Ausspruch wird
später das Motto von Erik Wolfs Habilitationsschrift »Strafrechtliche Schuldlehre«
(1928). Zu Wolfs Arbeit s. unten § 5 II 2.b.bb.(1). >S. 113 f.<.
553 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 1 ff.
554 Zu Mayers Schuldbegriff s. unten § 5 II 3.a.aa. >S. 120 ff.<.
555 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 5. – Zu v. Liszt schon oben § 4 II 2.
>S. 94 ff.<.
556 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 5; in Fußn. 3 mit Hinw. auf Windelband
(aGeschichte und Naturwissenschaftb [1894], 2. Aufl. 1900) und Rickert (aDie
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildungb, 1896, 1. Hälfte [die
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
109
Unterscheidung zwischen idiographisch-individualisierender und nomothetisch-generalisierender Methode führt Mayer in der weiteren Untersuchung den
Nachweis, dass sich die strafrechtliche Methode nicht auf eine generalisierende
und damit naturwissenschaftliche Betrachtung beschränken lässt, sondern dass
sich vielmehr »sowohl idiographische als nomothetische Elemente« finden lassen
(Mayer SH 1901)557. Diese idiographischen Elemente zeigen sich nach Mayer vor
allem beim »Beurteilen von Menschen« 558. Denn hier interessiere sich die Strafrechtswissenschaft nicht nur für »den Verbrecher als einen Typus«559, sondern
für jeden »einzelne[n] Verbrecher«560 und ist infolgedessen bestrebt, »die Persönlichkeiten in ihrer ganzen Individualität zu erfassen« und »das strafrechtliche
Ereignis kennen zu lernen«561. Dieses »Interesse am Einzelnen und Einmaligen«562 bildet für Mayer den »Lebensnerv« der Strafrechtswissenschaft und
stemple sie zu einer vorrangig »idiographischen Disziplin« (Mayer SH 1901)563.
Hinsichtlich der Methode der Strafrechtswissenschaft schließt sich Mayer
den Ausführungen Rickerts aus der Schrift »Definition« von 1888 an564. Ebenso
wie Rickert beantwortet sich auch für Mayer die Frage nach den wesentlichen
Merkmalen einer Wissenschaft aus der »Aufgabe (dem Zwecke) der Einzelwissenschaft, welcher der zu bestimmende Begriff angehört.« (Mayer SH 1901)565.
Als »Ziel der Rechtspflege im allgemeinen«, und damit auch der Strafrechtspflege, bestimmt Mayer »die Durchführung der Gesetze«, das heißt das Eintreten der
»gesetzlichen Folge […], wenn ihre Voraussetzungen vorliegen« (Mayer SH
1901)566. Im Strafrecht ist der »Eintritt der Strafe […] stets abhängig von der
allgemeinen Voraussetzung, dass der zu Bestrafende schuldhaft gehandelt hat.«
Hierdurch werde der strafrechtliche Schuldbegriff nach Mayer zum entschei-
2. Hälfte erscheint erst 1902]; aKulturwissenschaft und Naturwissenschaftb, 1899).
– Zu Windelband und Rickert s. oben § 3 I 2.a.bb.(2). >S. 48 ff.< und § 3 II 2 .a.
>S. 62<.
557 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 6 f.
558 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 8; im Orig. gesperrt.
559 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 7.
560 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 7.
561 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 8.
562 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 9; im Orig. gesperrt.
563 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 9; im Orig. gesperrt. – Zu den Folgen
dieser Auffassung für die strafrechtliche Schuldlehre s. unten § 5 II 3.a.aa.
>S. 120 ff.<.
564 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 3 mit Fußn. 2. Zu Rickerts »Zur Lehre
von der Definition« von 1888 s. schon oben § 3 II 2.b.aa. >S. 63 f.<.
565 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 3.
566 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 3.
Zweiter Teil
110
denden »Kriterium […], ob und wie der konkrete Fall zu bestrafen ist«567 und
erhalte die »Funktion, die Strafe zu konstituieren.« (Mayer SH 1901)568.
(3) Mayers „Der allgemeine Teil des
deutschen Strafrechts. Lehrbuch“ (1915/23)
Das Strafrechtslehrbuch »Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts. Lehrbuch« (1. Auflage 1915, 2. , unveränderte Auflage 1923)569 ist das strafrechtliche
Hauptwerk Max Ernst Mayers und bildet zugleich die Summe seiner strafrechtsdogmatischen Einzeldarstellungen aus der Zeit der Jahrhundertwende570. Es ist
dabei eines der wenigen Lehrbücher aus der Zeit der Monarchie, die den politischen Systemwechsel zur Republik überstehen.
Anders als in seiner Habilitationsschrift finden sich in Mayers Strafrechtslehrbuch nur spärliche Referenzen zum Südwestdeutschen Neukantianismus.
Mayer begnügt sich mit dem kurzen Verweis auf ebenjene H abilitationsschrift
und erklärt, dass er weiterhin »[e]rkenntniskritisch« »von Rickerts Schriften«
ausgehe (Mayer LB 1915/23)571.
Die weiteren Hinweise auf den Einfluss des Südwestdeutschen Neukantianismus sind über das Werk verstreut und stehen in keinem argumentativen
Zusammenhang. In einer Anmerkung zum Kulturbegriff beispielsweise grenzt
sich Mayer gegen Radbruch ab und betont, dass es ihm – Mayer – darauf ankomme, »empirische Tatsachen ›wertbeziehend‹ zuordnen«, wohingegen Radbruch »Kulturziele« ergründe (Mayer LB 1915/23)572. An einer anderen Stelle, im
Rahmen der Teilnahmelehre, betont Mayer die Unterschiedlichkeit von kausalnaturwissenschaftlicher und teleologisch-kulturwissenschaftlicher Methode.
Mayer schreibt: »was für die kausale Betrachtung gleich ist, kann für die teleologische verschieden sein, was naturwissenschaftlich eindeutig ist, kann kulturwissenschaftlich mehrere Deutungen vertragen« (Mayer LB 1915/23)573.
567 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 3; im Orig. teilw. gesperrt.
568 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 3; im Orig. teilw. gesperrt.
569 Max Ernst Mayer, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts. Lehrbuch, 1. Aufl.
Heidelberg 1915; 2. , unveränderte Auflage 1923.
570 Die juristische Doktorarbeit zur Kausalitätslehre (»Der Causalzusammenhang«,
1898/99), die Habilitationsschrift zur Schuldlehre (»Die schuldhafte Handlung und
ihre Arten im Strafrecht«, 1901) sowie die kleine Monographie zur Rechtswidrigkeitslehre (»Rechtsnormen und Kulturnormen«, 1903).
571 Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 38/39 Fußn. 2, Hervorh. im Orig. gesperrt,
mit Verweis auf Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 2. Aufl. 1910.
572 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 38 Fußn. 2.
573 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 390. Mayer nennt an dieser Stelle zudem den Gegensatz
von „explikativ“ und „normativ“ (aaO.).
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
111
Die dem Lehrbuch zugrundeliegende „Kulturnormentheorie“574 bewegt sich
zwar begrifflich in der Nähe der Kultur- und Wertphilosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus575, wird aber nicht als solche hergeleitet576 und hat starke
soziologische577 Konnotationen.
Mayers Strafrechtslehrbuch nimmt großen Einfluss auf die Weiterentwicklung des klassischen Verbrechensbegriffs 578. Besondere Bedeutung erlangen
574 Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 37 ff. (auch S. 33 ff., S. 173 ff.). Die Kulturnormentheorie findet ihre Grundlegung in der Schrift »Rechtsnormen und Kulturnormen« von 1903 und wird von Mayer in seinem Strafrechtslehrbuch zur
»rechtsphilosophische[n] Basis« seines Strafrechtssystems ausgebaut (aaO.,
S. 37/38; s. auch die Ausführungen bei Mayer, Rechtsphilosophie, 1. Aufl. 1922,
S. 31 ff.). Die Grundthese der Kulturnormentheorie besteht in dem Nachweis, dass
das Recht seine Normen nicht selbst erzeugt, sondern dass die Rechtsnormen aus
der staatlichen Anerkennung von „Kulturnormen“ hervorgehen (aaO., S. 21). Im
Strafrecht hat diese Erkenntnis zum einen Bedeutung für das Verhältnis zwischen
Tatbestand und Rechtswidrigkeit (Stichwort: Indizfunktion des Tatbestands, s. dazu unten § 5 II 3.b.bb. >S. 126 ff.<), zum anderen für das Wesen der Rechtswidrigkeit bzw. des Unrechts (Stichwort: materielle Rechtswidrigkeit). Mayers Kulturnormentheorie hat viel Kritik hervorgerufen. So unter anderem von Karl Binding,
der sie als »eine unwürdige Erniedrigung des Rechts durch den Juristen« bezeichnet (Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2, 1. Hälfte , 2. Aufl. 1914,
S. 369). Für weit. Hinw. zur Kulturnormentheorie s. Schreiber, Der Begriff der
Rechtspflicht, 1966, S. 113 ff.; sowie Ziemann, Max Ernst Mayer, in: Jahrbuch der
Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 4 (2002/03), 2003, S. 401 ff.
575 Etwa wenn der Kulturbegriff als »Wertbegriff« bezeichnet wird (Mayer, Lehrbuch,
1./2. Aufl. 1915/23, S. 39) oder Kulturnormen mit »Kulturwerte[n]« gleichsetzt
werden (aaO., S. 42).
576 So beruft sich Mayer in der Arbeit »Rechtsnormen und Kulturnormen« (1903) auf
Rudolf Stammler (aaO., S. 2 Fußn. 1, dort mit Hinw. auf Stammler, Die Lehre vom
richtigen Rechte, 1902). – Zu Stammler s. oben § 5 I. >S. 99 ff.<.
577 So etwa, wenn Mayer den Begriff der „Kulturnorm“ als »Sammelnamen für die
Gesamtheit derjenigen Gebote und Verbote« bezeichne t, »die als religiöse, moralische, konventionelle, als Forderungen des Verkehrs und des Berufs an das Individuum herantreten.« (Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903, S. 17, im
Orig. gesperrt). Die soziologische Ausrichtung wird von Anhängern wie Gegnern
gewürdigt: Erik Wolf beispielsweise, der Mayer 1928 als den »größte[n] Systematiker« der damaligen Strafrechtswissenschaft bezeichnet (Wolf, Strafrechtliche
Schuldlehre, 1928, S. 60), charakterisiert die Kulturnormentheorie als »soziologisch
unterbaute Wertphilosophie« (Wolf, aaO., S. 63); Karl Binding dagegen, ein entschiedener Gegner Mayers, bezeichnet dessen Kulturnormen als »die hässlichste
Schöpfung einer soziologisch verdorbenen, dem wirklichen Recht vollständig abgewandten Rechtsdogmatik« (Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2,
1. Hälfte, 2. Aufl. 1914, S. 370; im Orig. gesperrt).
578 Siehe z. B. Kantorowicz, Max Ernst Mayer, in: Frankfurter Zeitung v. 11. Jan. 1924.
Zweiter Teil
112
Mayers Lehren von den subjektiven Unrechtselementen 579 und den normativen
Tatbestandsmerkmalen580.
b) Erik Wolf
Ein weiterer Vertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens ist Erik Wolf
(1902 bis 1977, 1927 Habilitation bei Gustav Radbruch in Heidelberg, danach
Professor in Rostock, ab 1930 in Freiburg i. Br.) 581.
aa) Der neukantianische Hintergrund Wolfs
Erik Wolf ist auf vielfältige Weise mit dem Neukantianismus verbunden. Wolf ist
Schüler des Grafen zu Dohna582 und von Gustav Radbruch583 (hier 1927 Habilitation mit der Arbeit »Strafrechtliche Schuldlehre«). Darüber hinaus ist er von
Max Ernst Mayer beeinflusst, bei dem der junge Erik Wolf Anfang der 1920er
Jahre drei Semester studiert.584
bb) Wolf als neukantianischer Strafrechtler
Der Einfluss des Neukantianismus zeigt sich vor allem in den Arbeiten Erik
Wolfs aus den späten 1920er Jahren: neben der Heidelberge r Habilitationsschrift
»Strafrechtliche Schuldlehre« von 1928585 (Näheres s. sogleich) sind hier insbesondere die Aufsätze »Die Wertung der Rechtsgüter im Strafgesetzbuch«
(1927/28586) und »Der Sachbegriff im Strafrecht« (1929587; s. unten) zu nennen.
579 Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 185 ff.; kurze Nachw. bei § 5 FN 676.
580 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 182 ff. (Einzelheiten s. unten § 5 II 3.b. >S. 123 ff.<).
581 Zu Leben und Werk Wolfs siehe Hollerbach, Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in:
ders. (Hrsg.), Erik Wolf. Studien zur Geschichte des Rechtsdenkens, 1982, S. 235–
271; sowie jüngst ders., Erik Wolf, in: ders. (Hrsg.), Jurisprudenz in Freiburg, 2007,
S. 331–344. Für eine Bibliographie s. Würtenberger sen. (Hrsg.), Festschrift für Erik
Wolf zum 60. Geburtstag, 1962, S. 489–504.
582 Zu Dohna s. die Nachw. in § 5 FN 633, 654.
583 Zu Radbruch s. oben § 3 II 2 b.cc. >S. 65 ff.<
584 Hollerbach, Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in: ders. (Hrsg.), Erik Wolf. Studien
zur Geschichte des Rechtsdenkens, 1982, S. 238.
585 Erik Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, Erster Teil (mehr nicht erschienen), Mannheim 1928; zugl. Habilitationsschrift Heidelberg 1927.
586 Erik Wolf, Die Wertung der Rechtsgüter im Strafgesetzbuch, in: Die Justiz, Bd. III,
1927/28, S. 110–119.
587 Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe Reich sgericht, 1929, Bd. 5, S. 44–
71.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
113
In der Freiburger Zeit (ab 1930) distanziert sich Wolf zusehends vom Neukantianismus und wendet sich den phänomenologischen Lehren Gerhart Husserls zu588.
(1) Wolfs „Strafrechtliche Schuldlehre“ (1928)
Wichtigste Schrift des frühen Erik Wolf und zugleich Hauptbeleg des neukantianischen Einflusses ist die bei Radbruch in Heidelberg angefertigte Habilitationsschrift »Strafrechtliche Schuldlehre« von 1928. Durch ihre ausführliche rechtsphilosophische und rechtsmethodologische Grundlegung ist Wolfs Habilitationsschrift ein klassisches Beispiel eines neukantianischen Strafrechtsdenkens.
Der Verfasser bekennt sich schon im Vorwort zu den Lehren des Südwestdeutschen Neukantianismus um Heinrich Rickert, Emil Lask und Max Ernst
Mayer. So heißt es dort programmatisch: »Ihre [der Schrift, S. Z.] erkenntnistheoretische Grundlage bildet das Werk Heinrich Rickerts. Die Vorarbeit für die
aus dieser Grundlage erwachsene Problemstellung dankt sie in philosophischer
Hinsicht den Studien Emils Lask’s, in juristischer den Max Ernst Mayers.« (Wolf
SchuldL 1928)589).
Schwerpunkt der vor allem an Rickert und Lask anschließenden neukantianischen Grundlegung ist die Einsicht in die »begriffl ich[e] Umformung, welche die
Kulturwirklichkeit durch die Beziehung auf rechtliche Beziehungen (Rechtswerte) erfährt.« (Wolf SchuldL 1928)590. Erik Wolf unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Umformungsprozesse bzw. Wertbeziehungen591. Eine »erste
Wertbeziehung« schaffe »die Kultursphäre des Strafrechts, indem gewisse empirische Tatsachen mit Strafrechtswerten (-Zwecken) verbunden werden.« (Wolf
SchuldL 1928)592 Hierdurch entstehe »das Material der Strafrechtswissenschaft:
die vorsystematischen Begriffe des Gesetzes und der Rechtsanwendung.«593 Eine
zweite Wertbeziehung werde durch die Wissenschaft b etrieben und bestehe
588 So heißt es im Vorwort von Wolfs Freiburger Antrittsrede »Vom Wesen des Täters« aus dem Jahre 1932, dass Gerhart Husserls Untersuchungen über das »Wesen
der Rechtsperson« die »rechtsphilosophischen Teile« der Schrift »wesentlich beeinflußt« hätten (s. Wolf, Vom Wesen des Täters, 1932, Vorwort, S. 5). Hierzu Hollerbach, Im Schatten des Jahres 1933. Erik Wolf und Martin Heidegger, in:
Schramm/Martin (Hrsg.), Martin Heidegger, 2. Aufl. 2001, S. 117–148; Mehring,
Rechtsidealismus zwischen Gemeinschaftspathos und kirchlicher Ordnung, in:
Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 140–156. – Zur Position Wolfs nach 1933 s. die Nachw. unten § 5 II 3.c. >S. 130 ff.<
589 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, Vorwort, S. VI, Hervorh. im Orig.
590 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 77/78, im Orig. teilw. kursiv.
591 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 93 f. – Zur Kritik Grünhuts und Schwinges an diesem doppelten Umformungsprozess s. unten § 5 FN 594.
592 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 93, Hervorh. im Orig. kursiv.
593 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 93, im Orig. teilw. kursiv.
Zweiter Teil
114
darin, »daß dieses Material in die Systemform der Strafrechtswissenschaft eingeht und zu wissenschaftlichen Begriffen wird.« (Wolf SchuldL 1928)594.
Die Einsicht in die »Synthesis von Wert- und Wirklichkeitsbestandteilen«
(Wolf SchuldL 1928)595 bildet für Erik Wolf die Grundlage, »um in methodologisch begründeter Weise die theoretische Grundlegung eines strafrechtlichen
Einzelbegriffs: der Schuld, unternehmen zu können.« 596. Den Schuldbegriff selbst
bestimmt Wolf als »Staatspflichtwidrigkeit oder Mangel an Staatspflichtbeachtung« (Wolf SchuldL 1928)597.
(2) Wolfs „Der Sachbegriff im Strafrecht“ (1929)
Eine zweite neukantianisch beinflusste Arbeit des f rühen Erik Wolf stammt aus
der Reichsgerichtsfestgabe von 1929 und trägt den Titel »Der Sachbegriff im
Strafrecht«598. Der Aufsatz knüpft an die in der Habilitationsschrift von 1928
gemachten rechtsphilosophischen und rechtsmethodologischen Ausführungen
zur Wertbezogenheit des Strafrechts an und unternimmt den Versuch, diese
zum Aufbau einer »Allgemeinen Lehre vom Besonderen Teil« fruchtbar zu machen (Wolf Sachb 1929)599. Für den Sachbegriff bedeutet dies, dass dieser in »seine[r] Wesenart« als »›normatives‹ Element des Tatbestandes«600 begriffen wird
594 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, S. 93, im Orig. kursiv. Mit der Zuordnung
der Rechtsanwendung zur „vorsystematischen“ und damit vorwissenschaftlichen
Begriffsbildung ist Wolf auf Widerstand von Grünhut und Schwinge gestoßen
(Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, 1926, S. 25 f.; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, 1930, S. 25 f.). Grünhut beispielsweise betont, dass »auch
die Begriffe der Rechtsanwendung […] den Anspruch [erheben], logisch vollkommen zu sein« und »genau so rechtswissenschaftliche Begriffe [sind] wie der von der
Wissenschaft erarbeiteten.« (Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung,
1926, S. 25).
595 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 122, im Orig. kursiv u. teilw. gesperrt
596 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 123, als Überleitung zum Schlussabschnitt über die »methodologische Struktur der Schuldlehre« (S. 124 ff.).
597 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, aaO., S. 179, im Orig. teilw. gesperrt; hierzu auch
unten § 6 II. >S. 138 ff.<
598 Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe Reich sgericht, 1929, Bd. 5, S. 44–
71. Eine Darstellung von Wolfs Lehre „in nuce“ bildet die Rostocker Dissertationsschrift von Karl Alfred Hall von 1930 (s. Hall, Der Sachbegriff im Strafrecht, 1930).
Nach der Promotion habilitiert sich Hall auch 1933 bei Erik Wolf und wirkt später
als Prof. in Gießen und Marburg.
599 Siehe den Untertitel der Schrift von 1929: »Der Sachbegriff im Strafrecht. Beiträge
zur Allgemeinen Lehre vom Besonderen Teil des Strafrechts«. – Für ähnliche Unternehmungen von Mezger und Schwinge siehe die Nachw. bei FN 691.
600 Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe Reichsgericht, 1929, Bd. 5, S. 45. –
Zur Entdeckung und Entwicklung der Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen bei Mayer, Mezger, Wolf und Grünhut s. unten § 5 II 3.b. >S. 123 ff.<
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
115
und als solches seinen Inhalt erst durch die »normative Tätigkeit des Richters«601
erfährt, das heißt durch dessen Werturteil.
c) Max Grünhut
Ein weiterer Anhänger des Neukantianischen Strafrechtsdenkens ist der Jenaer
und spätere Bonner Strafrechtslehrer Max Grünhut (1893 bis 1964, Habilitation
1922 bei Moritz Liepmann in Hamburg; danach Professor in Hamburg und Jena,
von 1928 bis 1933 Prof. in Bonn, dort 1933 Entlassung und Emigration)602.
aa) Der neukantianische Hintergrund Grünhuts
Anders als bei Mayer und Wolf finden sich für Max Grünhut keine Belege einer
persönlichen Nähe zum Neukantianismus. Sein akademischer Lehrer, Moritz
Liepmann603 ist zunächst von Adolf Merkel, später von Franz von Liszt beeinflusst und hat – soweit ersichtlich – keine näheren Beziehungen zum Neukantianismus. Erst mit der engen Zusammenarbeit mit dem Grafen zu Dohna in Bonn
zwischen 1928 und 1933 ergeben sich für Grünhut Bezüge zu neukantianischen
Autoren604.
Trotz fehlender persönlicher Nähe zum Neukantianismus sind Grünhuts Arbeiten thematisch vom Neukantianismus geprägt. Ein früher Beleg findet sich in
seiner Jenaer Antrittsrede »Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht« von 1926605, in der er sich zur Verdeutlichung der normativen Vorformung strafrechtlicher Begriffe auf Rickerts Lehre der wertbeziehenden Geschichtswissenschaft beruft606. Ein weiterer Beleg findet sich in Grünhuts Beitrag
für die Frank-Festgabe aus dem Jahre 1930 (»Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft«)607. Max Grünhut sieht hier die »juristische Arbeit
des Alltags und mehr noch jede[n] Versuch, über sie nachzudenken« als »von
601 Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, aaO., S. 55.
602 Zu Leben und Werk Grünhuts s. Fontaine, Max Grünhut, 1998 sowie ergänzend
Friesenhahn, Max Grünhut, Leben und Schicksal, in: ders. (Hrsg.), In memoriam
Max Grünhut, 1965, S. 5–22.
603 Moritz Liepmann (1869–1928). Zu ihm s. die Würdigung von Eb. Schmidt, In Memoriam Moritz Liepmann, in: ZStW 81 (1969), S. 831–833.
604 Zu dieser Zusammenarbeit s. die Hinweise bei Fontaine, Max Grünhut, 1998,
S. 36 f.
605 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht, Tübingen 1926.
606 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, aaO., S. 15 mit Anm. 6 (mit
Hinw. auf Rickert, Geschichtsphilosophie, in: Festschrift für Kuno Fischer, 1905,
Bd. 1).
607 Grünhut, Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930, Bd. 1, S. 1–32.
Zweiter Teil
116
den geistigen Strömungen der Gegenwart bestimmt«608, womit er »in erster Linie« die »Wert-Wirklichkeitsspannung der ›südwestdeutschen‹ Lehre Windelbands und Rickerts«609 meint.
bb) Grünhut als neukantianischer Strafrechtler
Die soeben genannten Arbeiten »Begriffsbildung und Rechtsanwendung im
Strafrecht« (1926) und »Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft« (1930) bilden Schlüsseltexte von Grünhuts neukantianischem Strafrechtsdenken.
(1) Grünhuts „Begriffsbildung und
Rechtsanwendung im Strafrecht“ (1926)
Die Arbeit »Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht« (1926) ist eine
Weiterführung von Max Ernst Mayers Lehre der normativen Tatbestandsmerkmale. Wie jedoch der Titel der Arbeit verrät, behandelt Grünhut das Problem
nicht nur als eine Frage der theoretischen Begriffsbildung, sondern auch und vor
allem als eine Frage praktischer Rechtsanwendung610. Normative Tatbestandsmerkmale zeichnen sich daher nach Grünhut dadurch aus, dass sie ein »richterliches Werturteil verlangen« (Einzelheiten s. unten § 5 II 3.b.bb. >S. 126 ff.<) 611.
(2) Grünhuts „Methodische Grundlagen der
heutigen Strafrechtswissenschaft“ (1930)
Max Grünhuts Beitrag zur Frank-Festgabe von 1930 enthält zunächst eine Weiterführung der in der Arbeit »Begriffsbildung und R echtsanwendung im Strafrecht« entwickelten Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen612.
Die nähere Beschäftigung mit dem Wertungscharakter von juristischer Begriffsbildung und Rechtsanwendung führt bei Grünhut dann in einem weiteren
608 Grünhut, Methodische Grundlagen, aaO., 1930, S. 1.
609 Grünhut, Methodische Grundlagen, aaO., S. 1 Fußn. 1, Hervorh. im Orig.; mit weit.
Hinw. u. a. auf Lasks Rechtsphilosophie (1905, 2. Aufl. 1907) und Radbruchs
Grundzüge der Rechtsphilosophie (1914, 2. Aufl. 1922).
610 Die Einbeziehung der Anwendungsdimension strafrechtlicher Begriffe ist ein
durchgehendes Motiv von Grünhuts Arbeiten (siehe z. B. Grünhuts Vortrag »Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis« von 1932).
611 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, 1926, S. 5. Zu Ursprung und
Entwicklung der Lehre der normativen Tatbestandsmerkmale siehe unten § 5 II
3.b.aa./bb. >S. 125, 126 ff.<
612 Einzelheiten siehe unten § 5 II 3.b.aa./bb. >S . 125, 126 ff.<
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
117
Schritt zur »Einsicht in die eigenartige Vorformung des der juristischen Beurteilung unterliegenden Materials«613 im Hinblick »auf die typischen Rechtswerte«
und »die Zweckbestimmung des anzuwendenden Gesetzes« (Grünhut MG
1930)614. Grünhut bezeichnet dieses an Rechtswerten und Gesetzeszweck orientierte Vorgehen als „teleologische“ Interpretation bzw. „teleologische“ Begriffsbildung615. Leitbegriffe teleologischer Interpretation im Strafrecht werden dabei
für Grünhut die Begriffe »Rechtsgut« und »krimineller Gehalt«616.
d) Erich Schwinge
Ein weiterer Anhänger des neukantianischen Strafrechtsdenkens ist der Marburger Strafrechtler Erich Schwinge (1903–1994, 1930 Habilitation bei Grünhut in
Bonn, ab 1932 Professor in Marburg, 1940 Wechsel na ch Wien, kurz darauf
Tätigkeit in der Militärgerichtsbarkeit)617.
aa) Der neukantianische Hintergrund Schwinges
Erich Schwinge erhält seine neukantianische Prägung vor allem durch seinen
Bonner Lehrer Max Grünhut (s. oben), dessen Lehren er übernimmt und vertieft618.
613 Grünhut, Methodische Grundlagen, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930,
Bd. 1, S. 22/23; auch als »Abhängigkeit des Stoffes von der Methode« bezeichnet
(aaO., S. 23; so bereits Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, 1926,
S. 15). – Zum neukantianischen Charakter s. § 6 I. >S. 134 ff.<
614 Grünhut, Methodische Grundlagen, aaO., 1930, S. 23; Grünhut spricht im Anschluss an Lask von einem „teleologischen Gespinst“ (Hinweis auf Lask, Rechtsphilosophie, in: Festschrift für Kuno Fischer, 1905).
615 Grünhut, Methodische Grundlagen, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930,
Bd. 1, S. 8; im Anschluss an Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht,
1930. – Zum neukantianischen Charakter der teleologischen Begriffsbildung s. unten § 6 II. >S. 138 ff.<
616 Grünhut, Methodische Grundlagen, aaO., 1930, S. 8. – Für die Bedeutung des
Rechtsgutsgedankens verweist Grünhut auf die Arbeit von Honig, Die Einwilligung
des Verletzten, 1911 (Einzelheiten s. unten § 5 II 3.b.cc. >S. 128 ff.<; zu Honig § 5
FN 696).
617 Zu Leben und Werk Schwinges s. Saar, Erich Schwinge, in: ders. u. a. (Hrsg.), Recht
als Erbe und Aufgabe [= Festschrift für Heinz Holzhauer], 2005, S. 332–349; Kurzbiographie bei Spendel, in: Kriminalistenporträts, 2001, S. 92–98. S. 99–102; für eine Bibliographie s. Evers (Hrsg.), Festschrift für Erich Schwinge, 1973, S. 261–265.
618 Siehe insb. Schwinges Arbeit über Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht (1930).
Zweiter Teil
118
bb) Schwinge als neukantianischer Strafrechtler
Wichtigste neukantianisch beeinflusste Arbeit Schwinges ist seine bei Grünhut
entstandene Bonner Habilitationsschrift »Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht« von 1930619.
Schwinges „Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht“ (1930)
Schwinges Arbeit ist eine Weiterführung und Vertiefung der von seinem Lehrer
Grünhut am Beispiel der normativen Tatbestandsmerkmale entwickelten Einsicht in den Wertungscharakter von juristischer Begriffsbildung und Rechtsanwendung (s. oben).
Schwinge wendet sich hierzu zunächst der »Begriffsbildung im Allgemeinen«
zu620 und überträgt Rickerts wertbeziehendes Verfahren der Kulturwissenschaften621 auf die rechtliche Begriffsbildung622. Unter Rückgriff auf Rickert623 und in
Übereinstimmung mit Lask624 und Radbruch625 bezeichnet Schwinge die kulturwissenschaftliche Methode der Jurisprudenz als „teleologische“ Begriffsbildung
(Schwinge TB 1930)626.
619 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, Bonn 1930; zugl. Habilitationsschrift Bonn.
620 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930, S. 4 ff.
621 Siehe Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 5 ff., vor allem unter Hinw.
auf Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl. 1929 und
Rickert, Zur Lehre der Definition, 3. Aufl. 1929. S. hierzu schon oben § 3 II 2.a./b.
>S. 62, 62 ff.<.
622 Schwinge setzt sich hierbei unter anderem mit der von Hans Kelsen (aDie Rechtswissenschaft als Norm- und als Kulturwissenschaftb, 1916) und Erich Kaufmann
(aKritik der neukantischen Rechtsphilosophiea, 1921) am Südwestdeutschen Neukantianismus geübten Kritik auseinander (s. Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, 1930, S. 15 ff.).
623 Schwinge verweist auf Rickerts »Lehre von der Definition« (3. Aufl. 1929) sowie
eine Stelle in den »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (5. Aufl.
1929).
624 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 9, mit Verw. auf Lask, Rechtsphilosophie, 1905. S. hierzu schon oben § 3 II 2.b.bb. >S. 63 ff.<.
625 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 11, mit Verweis auf Radbruch,
Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1./2. Aufl. 1914; s. hierzu schon oben § 3 II
2.b.cc. >S. 65 ff.<.
626 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 8 u. 60. Die Terminologie ist
uneinheitlich: Schwinge spricht an anderer Stelle von „teleologisch-idiographischer“ Methode (aaO., S. 8 u. 33) oder vom »Verfahren der Wertbeziehung«
(aaO., S. 21, im Orig. teilw. gesperrt). Schon Richard Honig, der eigentliche Begründer der „teleologischen Begriffsbildung“ im Strafrecht, spricht unter Bezugnahme auf Radbruch von „wertbeziehender“ Betrachtungsweise (Honig, Die Ein-
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
119
Im Anschluss an diese allgemeinen Ausführungen zur Begriffsbildung widmet sich Schwinge in einem nächsten Schritt dem »Wesen der strafrechtlichen
Begriffsbildung«627. Ausgehend von Rickerts wertbeziehenden Verfahren fragt
Schwinge nach dem für das Strafrecht maßgebenden „Wert“ – und findet ihn in
der »›gesetzgeberische[n] Idee‹« bzw. im »›Zweck‹ d es Rechtssatzes« (Schwinge
TB 1930)628. Den Zweck des Strafrechts wiederum findet Schwinge im »Schutz
von Gemeinschaftswerten« – und das heißt – im Schutz von »Rechtsgütern«629
(Einzelheiten s. unten § 5 II 3.b.cc. >S. 128 ff.<) .
3. Grundlinien der Rezeption des Südwestdeutschen Neukantianismus
im Strafrecht
In der Rezeptionsgeschichte des Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht können drei Hauptphasen unterschieden werden, die im Folgenden in
ihren Grundlinien dargestellt werden sollen630: 1. die Anfänge des Neukantianischen Strafrechtsdenkens um 1900, 2. die Popularisierung des Neukantianischen
Strafrechtsdenkens in den 1920er Jahren, 3. der Niedergang des Neukantianischen Strafrechtsdenkens im Methoden- und Richtungsstreit der 1930er Jahre.
a) Die Anfänge des Neukantianischen Strafrechtsdenkens um 1900
Die Anfänge des Neukantianischen Strafrechtsdenkens liegen in den Jahren um
1900631. Dieser Zeitraum ist, wie bereits angedeutet, Schauplatz vielfältiger Methodendiskussionen in Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft (s. oben § 5 I.
>S. 99 ff.<), die auch das Strafrecht erfassen. Wichtige Impulse erhält die strafrechtliche Methodendiskussion hier vor allem durch die kurz nach der Jahrhundertwende einsetzende Initiative zur Reform des Strafgesetzbuchs632.
willigung des Verletzten, 1919, S. 108, in Fußn. 66 Hinw. auf Radbruch, Grundzüge
der Rechtsphilosophie, 1914). – Zur Terminologie s. unten § 5 FN 702, § 6 FN 729).
627 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930, S. 19 ff.
628 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 22; im Orig. teilw. gesperrt. –
Zum neukantianischen Charakter dieses Wertverständnisses s. § 6 II. >S. 138 ff.<.
629 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, aaO., S. 22; im Orig. teilw. hervorgehoben; Schwinge beruft sich hier insb. auf Honig, Die Einwilligung des Verletzten,
1911 (Einzelheiten s. unten § 5 II 3.b.cc. >S. 128 ff.<; zu Honig § 5 FN 696).
630 Eine umfassende Rezeptionsgeschichte kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet
werden (zu den Schwierigkeiten von Personalisierung und Periodisierung des Neukantianischen Strafrechtsdenkens s. schon bereits § 5 II 1. >S. 102 ff.<).
631 Zu den Anfängen des Neukantianischen Strafrechtsdenkens siehe z. B. Achenbach,
Schuldlehre, 1974, S. 50 f.
632 Hierzu nur Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965,
§ 327 ff. (S. 394 ff.).
Zweiter Teil
120
Im Rahmen dieser Methodendiskussionen berufen sich einige philosophisch
interessierte bzw. geschulte Strafrechtsautoren auch auf die Lehren des Südwestdeutschen Neukantianismus (zunächst auf Windelband und Rickert, später auch
auf Lask und Radbruch)633.
Die Präsenz ethischer Elemente in der Schuld: Mayer (1901)
Eines der frühesten Anwendungsfelder eines neukantianischen beeinflussten
Strafrechtsdenkens ist die Schuldlehre.
Einer der ersten neukantianischen Strafrechtsautoren ist Max Ernst Mayer
(1875–1923)634. Mayer bekennt sich bereits im Einleitungskapitel 635 seiner Straßburger Habilitationsschrift »Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht« aus dem Jahre 1901 zur neukantianischen Wissenschaftslehre Windelbands und Rickerts und nutzt diese zur »erkenntnistheoretischen […] Vertiefung
juristischer Probleme«636, namentlich des Schuldproblems.
Ziel dieser vor allem gegen naturalistische und metaphysische Schuldauffassungen gerichteten Bemühungen ist die Entwicklung eines »formalen Prinzipes«637 der schuldhaften Handlung, das dem Richter sagt, »welche Merkmale die
konkrete Handlung als schuldhaft qualifizieren«638 und ihm zudem ermöglicht,
»die Strafe nach dem Grade der Schuld abzumessen.« (Mayer SH 1901)639.
633 Zum Teil auch auf Rudolf Stammler, wie z. B. Alexander Graf zu Dohna. In seiner
bei v. Liszt entstandenen, einflussreichen Habilitationsschrift »Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen« (1905)
unternimmt Dohna den Versuch, die Rechtswidrigkeit als eigenständiges und materiell verstandenes Verbrechensmerkmal herauszuarbeiten. Er greift dabei zur Unterscheidung zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten auf Stammlers Lehre vom rechten Mittel zum rechten Zweck zurück und nutzt dieses als Prinzip strafrechtlicher Rechtfertigung. (s. zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemeingültiges Merkmal, 1905, S. 50 ff.; Einzelheiten bei Escher, Neukantianische
Rechtsphilosophie, 1992).
634 Zu Leben und Werk Mayers sowie zu seiner generellen Bedeutung als neukantianischer Strafrechtler s. unten § 5 II 2.a. >S. 106 ff.<
635 Mayer, Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht, Freiburg i. Br.
1901, S. 1 ff. – Für eine frühe Würdigung der Arbeit s. Lask, Rechtsphilosophie
(1905), Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl. 1907, S. 312.
636 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., 1901, S. 199; zu dieser Arbeit bereits oben
§ 5 II 2.a.bb.(2). >S. 108 ff.<.
637 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 111; Mayer nennt es auch – im Anschluss an Kant – eine »Formel« (aaO., S. 1).
638 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 121.
639 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 121/122; Mayer spricht an dieser Stelle
– im Anschluss an Adolf Merkel – von »›Proportionalität zwischen Schuld und
Strafe‹« (Mayer, aaO., S. 122, im Orig. gesperrt).
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
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Mayer findet dieses formale Prinzip der Schuld in einem doppelten Schuldbegriff, der sich im Gegensatz zum damaligen psychologisch-naturalistischen
Schuldbegriff nicht in der psychologischen Verantwortlichkeit des Täters für
einen Taterfolg erschöpft640, sondern darüber hinaus eine ethische Pflichtwidrigkeit der Willensbetätigung verlangt641. Die Feststellung der pflichtwidrigen Willensbetätigung ist für Mayer Ausdruck einer wertenden »Zurechnung«642, durch
das »der Wert der That […] auf Rechnung des Thäters gestellt« wird (Mayer SH
1901)643.
Die Ausfüllung des formalen Prinzips, und damit auch die Feststellung von
Rechtswidrigkeit und Pflichtwidrigkeit, stellt Mayer dabei vollends in das »Ermessen des Richters«644, der dem »rein formale[n] Kriterium […] im konkreten
Fall den positiven Inhalt zu geben hat.«645 Denn es sei, so Mayer, »in vielen Fällen« nicht nur »unvermeidlich, sondern gerade zu erforderlich, dem Takt des
Richters, seinem gesunden Menschenverstand, seinem Gefühl für Gerechtigkeit
und Billigkeit die Entscheidung anheim zu stellen« (Mayer SH 1901)646. Aller-
640 Der Eintritt eines strafrechtlichen Erfolges (durch die Handlung eines Menschen)
ist für Mayer rechtlicher Bestandteil der schuldhaften Handlung (s. Mayer, Die
schuldhafte Handlung, 1901, S. 115 ff., auch S. 16 ff.). Nach heutiger Terminologie
der „tatbestandsmäßige Erfolg“ (so später auch Mayer in seinem Strafrechtslehrbuch: Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 231).
641 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 107 ff. Eine schuldhafte Handlung ist
daher für Mayer »eine pflichtwidrige Willensbethätigung, die einen rechtswidrigen
Erfolg zur Wirkung hat« (Mayer, aaO., S. 106; im Orig. gesperrt). – Eine praktische
Folge dieser Schuldauffassung ist die Möglichkeit, auch die unbewußte Fahrlässigkeit als Schuldproblem erklären zu können (Fall: der unvorsichtige Schuß des Jägers auf Wild, der den Treiber trifft). Dieser Weg war der psychologischen Schuldlehre verwehrt, insofern diese eine psychische Beziehung des Täters zum Erfolg
verlangte, die bei der unbewußten Fahrlässigkeit ge rade nicht vorlag (der frühe
Radbruch – als v. Liszt-Schüler – versuchte dieses Problem bekanntlich dur ch eine
alle Wertungselemente ausschließende Rekonstruktion der Fahrlässigkeit zu lösen
[siehe Radbruch, Über den Schuldbegriff {1904}, in: GRGA, Bd. 7, S . 220: Fahrlässigkeit als »Nicht-Voraussicht des voraussehbaren Erfolges«]).
642 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 24. Zur Gleichsetzung von „Werturteil“
und „Zurechnung“ s. Mayer, aaO.: »[A]us der Erkenntnis des historischen Vorganges ist das Werturteil, ist die Zurechnung unausschliessbar.« (aaO., S. 11).
643 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 24, im Orig. gesperrt. Diese Zurechnung der pflichtwidrigen Willensbetätigung kann dab ei nach Mayer sowohl zu
Gunsten als auch zu Lasten des Täters ausfallen (aaO., S. 24). Eine besondere Bedeutung gewinnt hierbei Mayers Lehre von den „Motiven“ menschlichen Handelns
(aaO., S. 40 ff.), mit deren Hilfe Mayer »Arten und Grade der schuldhaften Handlung« ermitteln möchte (d. h. nach heutiger Terminologie eine Bestimmung von
Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit und Schuld).
644 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 110.
645 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 110.
646 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 110.
Zweiter Teil
122
dings ist die formale Struktur zugleich der Garant dafür, dass die Schuldformel
»im geringsten Maße« »von der Weltanschauung des erkennenden Individuums
[…] beeinflusst« ist647 und kann daher Anspruch auf »Allgemeingültigkeit« erheben 648. Hinzu komme, dass die Schuldformel gerade durch die formale Struktur inhaltlich offen und empfänglich für die »durch die Umstände des Falles
bedingten Variationen« werde (Mayer SH 1901)649.
Mayers ethisierende Schuldlehre wird zu einem ersten Beleg neukantianischen Strafrechtsdenkens südwestdeutscher Prägung650 – und der Schuldbegriff
damit zum ersten Arbeitsfeld neukantianischer Strafrechtsdogmatik651. Achenbach konstatiert für die Schuldlehre gar eine »seit 1900 einsetzende Flut ethisierender und normativierender Theorien und Ansätze«, die – so Achenbach –
»eindeutig auf die vom Neukantianismus ausgelösten Impulse« zurückgehen652.
Zu diesen ethisierenden Ansätzen gehört auch die 1905 veröffentlichte Antrittsvorlesung »Die Elemente des Schuldbegriffs« des v. Liszt-Schülers Alexander
Graf zu Dohna653. Dohna654 nimmt eine Sonderstellung in der Frühphase des
Neukantianischen Strafrechtsdenkens ein, da er ein Anhänger des Neukantianismus von Rudolf Stammler ist655.
647 Mayer, Die schuldhafte Handlung, 1901, S. 199.
648 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 13.
649 Mayer, Die schuldhafte Handlung, aaO., S. 110.
650 Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 79.
651 Die vom Neukantianismus in der Schuldlehre ausgelösten Impulse bilden bis zum
Beginn der 1930er Jahre die »Basis« der normativen Schuldlehren (s. Achenbach,
Schuldlehre, 1974, S. 133 ff.). Besondere Bedeutung kommt hier insb. der Schrift
»Strafrechtliche Schuldlehre« von Erik Wolf aus dem Jahre 1928 zu, da sie in idealtypischer Weise eine methodologische Grundlegung der Schuldlehre auf neukantianischer Basis bietet (zu dieser Arbeit bereits ob en § 5 II 2.b.bb.(1). >S. 113 f.<).
652 Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 51.
653 zu Dohna, Die Elemente des Schuldbegriffs, in: Der Gerichtssaal 65 (1905), S. 304–
324; Einzelheiten bei Achenbach, Schuldlehre, 1974, S. 85 ff.
654 Alexander Graf zu Dohna (1876–1944), 1904 Habilitation bei v. Liszt in Halle,
danach Professor in Königsberg, Heidelberg, von 192 6 bis 1944 Prof. in Bonn. – Zu
Leben und Werk des Grafen zu Dohna s. Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992; v. Weber, Alexander Graf zu Dohna (1948), in: Küper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer, 1986, S. 275–284; Bibliog raphie bei Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992, S. 265–285; Kurzbiographie s. Wolf, in: NDB 4
(1959), S. 53 f.
655 Siehe z. B. Dohnas Glückwunschadresse zu Stammlers 70. Geburtstag (in: Kant-
Studien 31 [1926], S. 1–26). Weitere Hinw. zum neukantianischen Hintergrund
Dohnas s. nur Escher, Neukantianische Rechtsphilosophie, 1992. Es muss an dieser
Stelle offen bleiben, inwieweit Stammler der Marburger Schule des Neukantianismus zuzurechnen ist, wie es gelegentlich behauptet wird (z. B. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 323). – Zu Stammler s. schon oben § 5 I 1.
>S. 99 ff.< mit § 5 FN 510.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
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Die Methodenbewegung des Neukantianischen Strafrechtsdenkens lässt sich
dabei nur schwer in die damaligen Frontlinien der »dogmatisch und kriminalpolitisch geführten Nachhutgefechte des Schulenstreits«656 zwischen „Klassischer“ Strafrechtsschule (Franz v. Liszt) und „Moderner“ Strafrechtsschule (Karl
Binding) einordnen657. Max Ernst Mayer beispielsweise vertritt in seinem Lehrbuch (1915/22) eine vermittelnde Position, die die Frage nach Sinn und Zweck
von Strafe auf drei Probleme verteilt und jeweils für sich beantwortet658: Erstens,
das „juristische“ Problem mit der Frage nach dem Wesen der Strafe – Mayer löst
es mit der Vergeltungstheorie. Zweitens, das „kriminalpolitische“ Problem mit
der Frage, wie gestraft werden soll – hier votiert Mayer für die Präventionstheorien. Schließlich, drittens, das „rechtsphilosophische“ Problem mit der Frage
nach der Rechtfertigung der Strafe.659 An dieser Stelle beschäftigt sich Mayer
ausführlich mit dem Problem der Willensfreiheit und dem Determinismus. Nach
Mayer habe der Mensch als »soziales Lebewesen« seine Wil lensfreiheit schon
immer »unter den Bedingungen der Zurechnung« ausgeübt, so dass die
»Menschheit […] zum Indeterminismus determiniert« sei660.
b) Die Popularisierung des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
in den 1920er Jahren
Einen großen Popularisierungsschub erhält das Neukantianische Strafrechtsdenken in den 1920er Jahren, in denen sich vor allem bei jüngeren Strafrechtsautoren ein zunehmendes Interesse an einer methodischen und philosophischen
Grundlegung des Strafrechts entwickelt661.
656 Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 717.
657 Zum strafrechtlichen Schulenstreit s. die Übersicht bei Eb. Schmidt, Geschichte der
deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, §§ 321 f. (S. 386 ff.); für Einzelheiten zudem Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 1987.
658 Zum Folgenden: Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 417 ff.
659 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 444 ff.
660 Beide Zitate Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 451; hierzu u. allg. zur sozialen Bedeutung
der Willlensfreiheit s. Burkhardt, Freiheitsbewußtsein und strafrechtliche Schuld,
in: Festschrift für Theodor Lenckner, 1998, S. 10.
661 Aus zeitgenössischer Sicht z. B. Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 723;
Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 38 f. – Das gestiegene Grundlageninteresse ist dabei
nicht nur wissenschaftlich-methodisch orientiert, sondern besitzt auch eine kriminalpolitisch-inhaltliche Dimension. Erik Wolf etwa möchte »nicht nur theoretische
Erkenntnis vermitteln, sondern durch solche Erkenntnis praktisch dienen jenen,
die berufen sind, uns neues Recht zu schaffen.« (Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre,
1928, Vorwort, S. VI, Hervorh. im Orig. gesperrt). – Zu parallelen Methodendiskussionen in anderen juristischen Fachrichtungen, wie etwa in der Staatsrechtslehre, s. Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001.
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Deutlicher Ausdruck dieses gewachsenen Grundlageninteresses ist das vermehrte Erscheinen strafrechtsdogmatischer Arbeiten mit starkem Methodenbezug. Als Beispiele seien an dieser Stelle genannt:
- Max Ernst Mayers Strafrechtslehrbuch von 1915 (2., unveränderte Auflage
1923), das »[e]rkenntniskritisch« von den Schriften Rickerts ausgeht662.
- Richard Honigs Göttinger Habilitationsschrift »Die Einwilligung der Verletzten« (1919), die – wie der Untertitel verrät – das Problem der Einwilligung
im Strafrecht nicht nur aus Sicht der »Geschichte des Einwilligungsproblems«, sondern auch mit Blick auf die »Methodenfrage« bearbeitet 663.
- Max Grünhuts Jenaer Antrittsvorlesung über »Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht« von 1926664.
- Erik Wolfs Heidelberger Habilitationsschrift zur Strafrechtlichen Schuldlehre
von 1928, die sich mit den »theoretischen Voraussetzungen« und der »methodologische[n] Struktur« der strafrechtlichen Schuldlehre beschäftigt665
und sich dabei im »Ausgangspunkt« ausdrücklich auf die »Wertphilosophie
Heinrich Rickerts« beruft666.
- Max Grünhuts Festschriftenbeitrag über Methodische Grundlagen d er heutigen Strafrechtswissenschaft aus der Frank-Festgabe von 1930667.
- Erich Schwinges Bonner Habilitationsschrift »Teleologische Begriffsbildung
im Strafrecht« von 1930, die laut Untertitel einen »Beitrag zur strafrechtlichen Methodenlehre« liefern möchte668.
- Gustav Radbruchs Aufsatz zur »Systematik der Verbrechenslehre« aus der
Frank-Festgabe von 1930669.
662 Mayer, Lehrbuch, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 38/39 Fußn. 2, mit Verweis auf
Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 2. Aufl. 1910. Für Einzelheiten
zu Autor und Werk siehe oben § 5 II 2.a. >S. 106 ff .< mit § 5 FN 543.
663 So der Untertitel des ersten Teils von Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919
(weitere Teile sind nicht erschienen). Näheres zu Autor und Werk s. die Hinw. in
§ 5 FN 696.
664 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1926; zu dieser
Arbeit s. schon oben § 5 II 2.c.bb.(1). >S. 116<.
665 Siehe den Untertitel des ersten Teils von Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928
(weit. Hinw. in den Abschnitten II u. III der genannten Arbeit, aaO., S. 73 ff.,
124 ff.). Der im Vorwort in Aussicht gestellte zweite, dogmatische Teil bleibt unausgeführt (aaO., S. V). Für Einzelheiten zu Autor und Werk s. oben § 5 II 2.b.
>S. 112 ff.< mit § 5 FN 581.
666 Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, S. 2; im Orig. teilw. gesperrt.
667 Grünhut, Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930, Bd. 1, S. 1–32. Für Einzelheiten zu Autor und
Werk s. oben § 5 II 2.c. >S. 115 ff.< mit FN 602.
668 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930; zu dieser Arbeit siehe
bereits oben § 5 II 2.d.bb. >S. 118 f.<.
669 Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, in: Festgabe f ür Reinhard von
Frank, 1930, Bd. 1, S. 158–173; wiederabgedr. in: GRGA, Bd. 8, S. 207–221.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
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Als eines der wichtigsten Arbeitsfelder des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
in dieser Zeit erweist sich die Tatbestandslehre und insbesondere die Herausarbeitung normativer Elemente im Tatbestand 670.
aa) Die Entdeckung normativer Elemente im Tatbestand: Mayer (1915/23)
Ausgangspunkt ist die „Entdeckung“ normativer Elemente im Tatbestand, die
ihre maßgebliche theoretische Behandlung im Strafrechtslehrbuch von Max
Ernst Mayer aus dem Jahre 1915 finden (2. Auflage 1923)671. Mayer wendet sich
darin gegen die strenge Trennung von wertfreiem Tatbestand einerseits und
wertender Rechtswidrigkeit andererseits und führt den Nachweis, dass es bereits
auf Tatbestandsebene Elemente gibt, die – so Mayer – »wertbestimmende Bedeutung« haben (Mayer LB 1915/22672), das heißt Bedeutung für das auf Rechtswidrigkeitsebene abzugebene Unwerturteil haben 673. Mayer nennt diese Elemente,
die »mit der einen Spitze im gesetzlichen Tatbestand, mit der andern in der
Rechtswidrigkeit«674 stehen, »normative Tatbestandselemente« (Mayer LB
1915/22675).
Die „Entdeckung“ normativer Tatbestandselemente durch Mayer zeigt zunächst wenige Folgen, was wohl vor allem dem Erscheinen des Buches im
Kriegsjahr 1915 geschuldet ist. Erst die Veröffentlichung einer unveränderten
Zweitauflage des Lehrbuchs im Jahre 1923 verschafft Mayers Lehre von den
normativen Tatbestandselementen größere Verbreitung (s. sogleich).
670 Welzel bezeichnet die Tatbestandslehre als »Eingangspfort e« der »wertphilosophisch-szientistischen Gedanken […] in der positiven Strafrechtswissenschaft«;
siehe Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen,
1975, S. 93, ähnl. S. 96.
671 Die Bedeutung Mayers heben hervor: Engisch, Die normativen Tatbestandsmerkmale, in: Festschrift für Edmund Mezger, 1954, S. 135; Kunert, Die normativen
Merkmale, 1958, S. 28 ff.; Roxin, Strafrecht, AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 10. –
Für Einzelheiten zu Mayers Tatbestandslehre s. Kunert, Die normativen Merkmale,
1958, S. 28 ff.; für eine frühe Würdigung s. bereits Class, Grenzen des Tatbestandes,
1933, S. 71 ff.
672 Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 183; Hervorh. im Orig. gesperrt; zur wertfreien Fassung des Tatbestands bei Beling s. schon oben § 4 II 3. >S. 97 ff.<.
673 Nach Mayers – auf seiner Kulturnormentheorie aufbauenden – Fassung eines materiellen Rechtswidrigkeitsbegriffs bedeutet Rechts widrigkeit der Widerspruch zu
einer »staatlich anerkannten Kulturnorm« (Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 57, im Orig.
gesperrt). – Zur Kulturnormentheorie s. bereits obe n § 5 II 2.a.bb.(3). >S. 110 ff.<
mit § 5 FN 574.
674 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 182.
675 Mayer, Lehrbuch, aaO., S. 182 ff.; der Tatbestand ist daher auch »Erkenntnisgrund«
oder »ratio cognoscendi« der Rechtswidrigkeit (aaO., S. 184 f.).
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bb) Die Weiterentwicklung der Lehre von den normativen Tatbestandselementen:
Grünhut (1926), Mezger (1927), Wolf (1929)
Die Weiterentwicklung676 der Mayer’schen Lehre von den normativen Tatbestandselementen verbindet sich vor allem mit den Namen Max Grünhut677, Edmund Mezger678 und Erik Wolf679.
676 Siehe hierzu und zum Folgenden: Engisch, Die normativen Tatbestandsmerkmale,
in: Festschrift für Edmund Mezger, 1954, S. 135 ff.; Kunert, Die normativen Merkmale, 1958, S. 31 ff.; Schweikert, Tatbestandslehre, 1957, S. 62 ff.; für einen Über blick siehe Roxin, Strafrecht, AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 10 ff. – Eine zweite
Weiterentwicklung des Beling’schen Tatbestandsbegriffs liegt in dem Nachweis
subjektiver Elemente in der Rechtswidrigkeit (s. Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl.
1915/23, S. 185 ff., »Subjektive Rechtswidrigkeitselemente«). Hierzu nur Schweikert, Tatbestandslehre, 1957, S. 45 ff.
677 1893–1964, seit 1928 Prof. in Bonn, 1933 Entlassung und Emigration. – Zu Leben
und Werk Grünhuts s. oben § 5 II 2.c. >S. 115 ff.< mit § 5 FN 602.
678 Edmund Mezger (1883–1962), 1918 Habilitation bei Beling in Tübingen, 1922 zunächst ao. Prof., 1925 dann o. Prof. in Marburg, ab 1932 in München (zu Leben
und Werk Mezgers s. Thulfaut, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre, 2000; sowie
neuestens Muñoz Conde, Edmund Mezger, 2007; eine Bibliographie findet sich bei
Engisch/Maurach [Hrsg.], Festschrift für Edmund Mezger, 1954, S. 515–522). –
Mezger leistet in der Weimarer Zeit wichtige Beiträge zur Fortentwicklung des
klassischen Verbrechensbegriffs. Sein Lehrbuch, das in der Schlussphase der Republik, 1931, erscheint, avanciert zu einem der Stammbücher des neoklassischen
Verbrechensbegriffs (zur späteren nationalsozialist ischen Karriere Mezgers s. unten
§ 5 II 3.c. >S. 130 ff.<). In diesem Zusammenhang einige kurze Worte zum neukantianischen Hintergrund Edmund Mezgers. Mezger wird gelegentlich als neukantianischer Strafrechtler bezeichnet (s. die Nachw. oben § 5 FN 537). Trotz durchgehender Anerkennung der Wertungscharakters der Strafrechtssätze (z. B. Mezger,
Vom Sinn der strafrechtlichen Tatbestände, in: Festschrift für Ludwig Traeger,
1927) wird man Mezger nicht zur Gruppe der neukantianischen Strafrechtler südwestdeutscher Prägung zählen können, da Mezgers Ausführungen keine ausdrückliche Parteinahme zugunsten der Südwestdeutschen Schule enthalten (s. allerdings
Mezger, aaO., S. 225, mit Hinw. auf den Gedanken der „kategorialen Formung“ der
Wirklichkeit bei Rickert). Ergiebiger – aber hier nicht weiter verfolgbar – erscheinen dagegen Mezgers Referenzen auf das „emotionale“ Denken des Neukantianers
Heinrich Maier (s. Hinw. bei: Mezger, Vom Sinn der strafrechtlichen Tatbestände,
in: Festschrift für Ludwig Traeger, 1927, S. 219 Fußn. 2 [»normative-emotionale
Bewertung«]; Mezger, Subjektivismus und Objektivismus, in: Festgabe Re ichsgericht, Bd. 5, 1929, S. 13–29 [»emotional-normativ[e] Logik und Erkenntnistheorie«,
aaO., S. 16, 19 f.; »emotionale Logik und kritische Philosophie« als Mittel der »Zukunft«, aaO., S. 28]; Mezger, Lehrbuch, 1931 [hier insb. Erwähnung des starken
Einflusses Maiers auf die juristische Begriffsbildung, aaO., S. 38]). Anders als nach
heutigen Sprachgebrauch meint „emotionales“ Denken bei Maier ein aus Gefühlsund Willensvorstellungen hervorgehendes Denken (auch „volitives“ Denken genannt) und bildet damit den Gegensatz zum „kognitiven“, d. h. erkennenden, ur-
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
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Die Mayer’sche Lehre erfährt dabei allerdings im weiteren Verlauf der Diskussion einige Veränderungen. Eine erste Veränderung betrifft den Begriff des
Normativen680. Durch die bloß wertbestimmende, das heißt Unrecht bzw.
Rechtswidrigkeit bloß indizierende Bedeutung der Tatbestandserfüllung steht
Max Ernst Mayer in der Tradition der streng wertfrei konzipierten Tatbestandslehre Belings681. Mezger, Grünhut und Wolf lösen diese Verbindung, indem sie
den Begriff des Normativen mit dem richterlichen Werturteil verbinden682. Für
Grünhut zum Beispiel sind normative Tatbestandsmerkmale solche »Tatbestandselemente, die nicht Tatsachenfeststellung, sondern richterliches Werturteil verlangen.« (Grünhut BuR 1926)683. Grünhut unterscheidet dabei zwei Arten
von normative Tatbestandsmerkmalen: zum einen solche, bei denen »der Richter
das vom Strafrecht geforderte Werturteil andern Gebieten der Rechtsordnung
[entnimmt]«684; zum anderen solche, bei denen »das Gesetz vom Richter eine
Beurteilung auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung, eine außerjuristische Wertung, eine Stellungnahme auf weltanschaulicher Grundlage [erwartet]« (Grünhut
BuR 1926)685.
teilenden Denken (zu Maier und insb. seinem Werk »Psychologie des emotionalen
Denkens« [1908] s. Oesterreich, Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der
Philosophie, Teil 4, 13. Aufl. 1951, § 46, S. 495 ff.).
679 1902–1977, 1927 Habilitation, danach Prof. in Rostock, ab 1930 in Freiburg. –
Näheres zu Leben und Werk Wolfs s. oben § 5 II 2.b. >S. 112 ff.< mit § 5 FN 581.
680 Zum Folgenden Class, Grenzen des Tatbestandes, 1933, S. 167 ff. (insb. 171 f.);
Kunert, Die normativen Merkmale, 1958, S. 62 f.
681 Mayer spricht von einem »doppelten Charakter« der normativen Tatbestandselemente als »unechte« Tatbestandselemente und »echte« Rechtswidrigkeitselemente
(s. Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 182). – Allerdings hat auch Ernst Beling
selbst in späteren Schriften Änderungen an seiner Tatbestandslehre vorgenommen
(hierzu nur Schweikert, Tatbestandslehre, 1957, S. 76 ff.).
682 Z. B. Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, 1926 (normative Tatbestandsmerkmale verlangen ein »richterliches Werturteil«, aaO., S. 5); Mezger, Vom
Sinn der strafrechtlichen Tatbestände, in: Festschrift für Ludwig Traeger, 1927
(»normativ-wertende Tätigkeit« des Richters, aaO., S. 217); Mezger, Lehrbuch, 1931
(»normativ-wertende Tätigkeit« des Richters, aaO., S. 191); Erik Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe Reichsgericht, Bd. 5, 1929 (»[D]er Richter [ist]
auf Abwägung und Bewertung, kurzhin auf normative Tätigkeit verwiesen«, aaO.,
S. 55).
683 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, 1926, S. 5.
684 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, aaO., S. 6; Grünhut bezeichnet sie
als „spezifisch juristische“ normative Tatbestandsmerkmale und nennt als Beispiel
die Fremdheit der Sache beim Diebstahl (aaO., S. 6) . In ihnen werden rein juristische Werturteile des Richters verlangt (aaO., S. 21).
685 Grünhut, Begriffsbildung und Rechtsanwendung, aaO., S. 6. Grünhut nennt sie
„allgemeine“ normative Tatbestandsmerkmale (aaO., S. 6), da sie allgemeine Werturteile des Richters verlangen (aaO., S. 21). – Für weitere Typologien normativer
Zweiter Teil
128
Eine zweite Veränderung betrifft das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Während für Mayer die Tatbestandserfüllung ein Indiz686 für die
Rechtswidrigkeit darstellt, wird sie bei Grünhut, Mezger und Wolf zur Grundlage687 der Rechtswidrigkeit und damit des Unrechts688. So lesen wir bei Mezger:
»(D)er Akt der gesetzgeberischen Tatbestandsschöpfung […] enthält unmittelbar die Rechtswidrigkeitserklärung, die Unrechtsbeg ründung als speziell typisiertes Unrecht. Der Gesetzgeber schafft durch die Formung des Tatbestandes die
spezifische Rechtswidrigkeit.« (Mezger Sinn 1926)689.
cc) Die Entwicklung einer Theorie des Besonderen Teils des Strafrechts:
Mezger (1927), Wolf (1929), Grünhut (1930), Schwinge (1930)
Die am Beispiel der normativen Tatbestandsmerkmale herausgearbeitete Einsicht in die Wertbezogenheit des Strafrechts bleibt nicht auf die Tatbestandslehre bzw. die Allgemeinen Lehren690 beschränkt, sondern erfasst bald auch
Tatbestandsmerkmale s. Mezger, Vom Sinn der strafrechtlichen Tatbestände, in:
Festschrift für Ludwig Traeger, 1927, S. 225 ff.; Mezger, Lehrbuch, 1931 (»rechtliche«, »kulturelle« und »subjektive« normative Tatbe standselemente, siehe Mezger,
Lehrbuch, aaO., S. 191 f.) sowie Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe
Reichsgericht, Bd. 5, 1929 (»wertgefüllte« und »wertausfüllbare« bzw. »wertausfüllungsbedürftige« normative Tatbestandselemente, aaO ., S. 54 f.).
686 Mayer, Lehrbuch, 1./2. Aufl. 1915/23, S. 52, S. 185; auch als »Erkenntnisgrund«
oder »ratio cognoscendi« bezeichnet (Mayer, aaO.).
687 Auch »Geltungsgrund« oder »ratio essendi« genannt. Siehe z. B. Mezger, Vom Sinn
der strafrechtlichen Tatbestände, in: Festschrift für Ludwig Traeger, 1927, S. 195;
Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 182. Der Streit um das Verhältnis von Tatbestand und
Rechtswidrigkeit hat Einfluss auf die Vorsatz- und Irrtumslehre und hier insb. die
Frage, welche Merkmale des gesetzlichen vom Vorsatz erfasst sein müssen.
688 Heute als »Unrechtstatbestand« oder »Unrechtstypus« bezeichnet (z. B. Kühl,
StGB, 26. Aufl. 2007, Vor §§ 13, Rn. 15). Der heutige Unrechtstatbestand enthält
allerdings seit dem Einzug des Welzel’schen Finalismus auch den Vorsatz und andere subjektive Unrechtselemente (heute üblicherwei se durch den Unterscheidung
von Handlungs- und Erfolgsunwert ausgedrückt; s. nur Roxin, Strafrecht, AT,
Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 88 ff.).
689 Mezger, Vom Sinn der strafrechtlichen Tatbestände, in: Festschrift für Ludwig
Traeger, 1927, S. 195; Hervorh. im Orig. gesperrt. Mezger stellt die Unrechtsbegründung freilich unter den »Vorbehalt besonderen Unrechtsausschlusses im
Einzelfall« (aaO., S. 191).
690 Auch Strafrechtsbegriffe des allgemeinen Teils werden zum Gegenstand rechtsmethodologischer Grundlegung: beispielsweise der ambi tionierte Versuch von Erik
Wolf, eine »methodologische Struktur« der strafrechtlichen Schuldlehre zu entwickeln (Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, insb. S. 124 ff. = Abschnitt II). Siehe
schon oben § 5 II 2.b.bb.(1). >S. 113 f.<.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
129
Strafrechtsbegriffe des Besonderen Teils691. Wortführer dieser Entwicklung sind
abermals neukantianisch beeinflusste Strafrechtsautoren: neben den bereits genannten Erik Wolf und Max Grünhut ist hier vor allem der Grünhut-Schüler
Erich Schwinge692 zu nennen693.
Eine besondere Bedeutung gewinnen hierbei methodolo gische Untersuchungen zum Rechtsgutsbegriff694. Unter Rückgriff auf Vorarbeiten695 von Richard
Honig696 entwickeln vor allem Max Grünhut697 und Erich Schwinge698 einen methodischen Rechtsgutsbegriff699, der sich nicht mehr – wie noch in der klassischen Rechtsgutslehre bei Binding und v. Liszt – mit dem materiellen Kern des
Verbrechens beschäftigt 700, sondern mit der Bedeutung des Rechtsguts als Me-
691 Wie etwa in der Entwicklung einer »Allgemeinen Lehre« vom Besonderen Teil des
Strafrechts. Hierzu z. B. Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in: Festgabe Reich sgericht, Bd. 5, 1929 (mit dem Untertitel: »Beiträge zur Allgemeinen Lehre vom Besonderen Teil des Strafrechts«); ders., Die Typen der Tatbestandsmäßigkeit, in:
Festschrift für Max Pappenheim, 1931 (mit dem Untertitel: »Vorstudien zur Allgemeinen Lehre vom Besonderen Teil des Strafrechts«); Mezger, Vom Sinn der
strafrechtlichen Tatbestände, in: Festschrift für Ludwig Traeger, 1927 (»allgemein[e] Theorie« des besonderen Teils, aaO., S. 187); Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, 1930 (»Wissenschaft« des besonderen Teils, aaO., S. 20).
692 Erich Schwinge (1903–1994), 1930 Habilitation, ab 1932 Prof. in Marburg. – Zu
Leben und Werk Schwinges s. oben § 5 II 2.d. >S. 117 ff.< mit § 5 FN 617.
693 Zum neukantianischen Hintergrund dieser Autoren s. bereits § 5 II 2. >S. 106 ff.<.
694 Einzelheiten zum neukantianischen Hintergrund dieser methodologischen Bemühungen s. unten § 6 I u. II. >S. 134 ff. / 138 ff.<
695 Honig, Die Einwilligung des Verletzten, Teil 1 (mehr nicht erschienen), Mannheim
1919. Die Vorarbeiten von Honig können leider nicht im Einzelnen gewürdigt werden (s. hierzu Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 130 ff. sowie Murmann, Die
Selbstverantwortung des Opfers, 2005, S. 107 ff.).
696 Richard M. Honig (1890–1981); 1919 Habilitation bei Robert von Hippel in Göttingen, nach Lehrstuhlvertretungen ab 1925 zunächst ao., 1931 dann o. Prof. in Göttingen, 1933 Entlassung und Emigration nach Istanbul, ab 1939 Emigration in die
USA. – Zu Leben und Werk Honigs s. Huber, Richard Martin Honig, in: Heinrichs
u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 745–765.
697 Grünhut, Methodische Grundlagen, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930,
Bd. 1, S. 1–32 (S. 8 mit Hinw. auf Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919).
698 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930 (auf S. 22 mit Hinw.
auf Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919).
699 Dogmengeschichtlich: Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 125 ff. („teleologischer
Rechtsgutsbegriff“); kurze Hinw. auch bei Sina, Rechtsgut, 1962, S. 74 ff. („teleologisch-methodischer Rechtsgutsbegriff“).
700 Siehe Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 52 ff. Im Mittelpunkt steht vor allem
die zwischen v. Liszt und Binding und ihren Schülern ausgetragene Kontroverse
um die vorrechtliche bzw. rechtliche Natur des Rechtsguts und einen formellen
bzw. materiellen Rechtswidrigkeitsbegriff. Für eine n kurzen Vergleich der beiden
Rechtsgutslehren s. Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 94 f.
Zweiter Teil
130
thode von Auslegung und Begriffsbildung im Strafrecht701. Nach der neuen
Rechtsgutsauffassung, die wegen ihres Bezugs auf einen Zweck „teleologische“
Rechtsgutslehre genannt wird702, ist das Rechtsgut »leitendes Prinzip der Begriffsbildung« (Schwinge TB 1930)703 und »ein Hilfsmittel zur Auslegung der
gesetzlichen Tatbestände« (Grünhut MG 1930)704.
c) Der Niedergang des Neukantianischen Strafrechtsdenkens im
Methoden- und Richtungsstreit der 1930er Jahre
Die 1930er Jahre sind nicht nur Krisenjahre der Weimarer Republik, sondern
auch Krisenjahre des Neukantianischen Strafrechtsdenkens705. In dieser Zeit
kommt es zu einer zunehmenden Politisierung des Wissenschaftsbetriebs, in
deren Verlauf sich die strafrechtliche Methodendiskussion zu einem Richtungsstreit zwischen liberalem und autoritärem Strafrechtsverständnis verschärft und
jede Diskussion über Methoden zu einer Diskussion über Inhalte werden lässt 706.
Das Neukantianische Strafrechtsdenken kann dieser Entwicklung vor allem wegen seiner weltanschaulichen Neutralität wenig entgegensetzen und verliert
zusehends an Einfluss707.
701 Amelung spricht hier von einer „geisteswissenschaftlichen Wende“ in der Rechtsgutslehre (Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 125 ff.).
702 „Zweck“ ist dabei nicht empirisch zu verstehen, sondern methodologisch. Schwinge
etwa versteht unter „Zweck“ das maßgebende »Auswahlprinzip, das die Zusammenstellung des Begriffs leitet und die Unterscheidung zwischen wesentlichen und
unwesentlichen Begriffsmerkmalen ermöglicht.« (Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, 1930, S. 23, im Orig. teilw. hervorgehoben ; Schwinge folgt an dieser Stelle
Rickert). In dieser Verwendung hat „teleologisch“ die gleiche Bedeutung wie „wertbeziehend“ (s. bereits die Hinw. oben § 5 FN 626).
703 Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930, S. 27.
704 Grünhut, Methodische Grundlagen, in: Festgabe für Reinhard von Frank, 1930,
Bd. 1, S. 8; ebenso bereits Honig: Rechtsgut als »diejenige kategoriale Synthese, mit
welcher juristisches Denken Sinn und Zweck der einzelnen Strafrechtssätze in
komprimierter Form zu erfassen bestrebt ist.« (Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919, S. 109/110).
705 Für einen Überblick zu Methodendiskussionen in der Strafrechtswissenschaft der
1930er Jahre s. vor allem Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975.
Am Beispiel der Rechtsgutslehre s. zudem Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972,
S. 216 ff.
706 Ein Beispiel für einen stark politischen Konflikt ist die Kontroverse um die teleologische Rechtsgutslehre zwischen der Kieler Strafrechtsschule (Georg Dahm,
Friedrich Schaffstein) auf der einen Seite und den Marburgern Erich Schwinge und
Leopold Zimmerl auf der anderen Seite, die ab 1935 einige Jahre die strafrechtliche
Diskussion bestimmt. S. hierzu nur Überblick bei Amelung, Rechtsgüterschutz,
1972, S. 216 ff.
707 Ebenso die Diagnose von Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, S. 205.
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
131
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 verhilft dem antiliberalen Rechts- und insbesondere Strafrechtsdenken708 zum endgültigen
Durchbruch und besiegelt das Ende des Neukantianischen Strafrechtsdenkens709.
Etliche Vertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens werden Opfer des
nationalsozialistischen Rassenwahns und werden 1933 aus Amt und Würden
vertrieben – darunter Max Grünhut, Gustav Radbruch und Richard Honig.
- Max Grünhut: 1933 Entlassung in Bonn und 1939 Emigration nach Oxford.710
- Gustav Radbruch: 1933 Entlassung in Heidelberg, danach weitgehender
Rückzug aus der öffentlichen Diskussion.711
- Richard Honig: 1933 Entlassung in Göttingen und Emigration nach Istanbul, ab 1939 in die USA. 712
Zum Niedergang des philosophischen Neukantianismus s. nur die Darstellung bei
Sieg, „Deutsche Wissenschaft“ und Neukantianismus, in: Lehmann/Oexle (Hrsg.),
Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, 2004, S. 199–222.
708 Im Wissenschaftsbetrieb formiert sich vor allem die „Kieler Schule“ (mit den Strafrechtlern Georg Dahm und Friedrich Schaffstein, dem Zivilrechtler Karl Larenz und
dem Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber). Näheres bei Eckert, Die Kieler Rechtswissenschaftliche Fakultät, in: Ostendorf/Danker (Hrsg.), Die NS-Strafjustiz und ihre
Nachwirkungen, 2003, S. 21–55.
709 Zu den letzten, 1933 erschienenen Arbeiten gehört zum Beispiel die bei Erik Wolf
entstandene Doktorarbeit von Thomas Würtenberger senior (»Das System der
Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung seit 1532«, Breslau 1933).
Würtenberger, 1907–1989, habilitiert sich 1939 bei Wolf und lehrt danach an den
Universitäten Erlangen und Mainz sowie ab 1955 in Freiburg; zu Leben und Werk
Würtenbergers s. Herren, in: JZ 1977, S. 641–642; zum neukantianischen Einfluss
Würtenbergers s. dessen Vorwort aus Anlass des Neudrucks 1973, S. V ff.
Eine weitere erwähnenswerte Arbeit ist die kurz vor Kriegsausbruch veröffentliche Berliner Doktorarbeit von Helmut Mittasch (»Die Auswirkungen des
wertbeziehenden Denkens in der Strafrechtssystematik«, Berlin 1939). Die bei
Kohlrausch entstandene Arbeit bietet eine erstaunlich untendenziöse Darste llung
des neukantianischen Einflusses auf das Strafrecht (insb. ohne Anzeichen eines Zitierboykotts jüdischer Autoren [siehe z. B. die Verweise auf die jüdischen Autoren
Max Grünhut und Hermann Isay]). Allerdings weicht die Arbeit an einigen Stellen
vom Schulzusammenhang des Südwestdeutschen Neukantianismus ab. Z. B. durch
die gegen Lask, Radbruch und Schwinge gerichtete Betonung der generalisierenden
Tendenzen der strafrechtlichen Begriffsbildung (Mittasch, aaO., S. 36 ff., im Anschluss an Heinrich Maier) oder durch die anerkennende Erwähnung des an Scheler
und Hartmann orientierten Wertdenkens von Rudolf Thierfelders Arbeit »Normativ und Wert« (1934) (s. Mittasch, aaO., S. 38 f.).
710 Hierzu Bernoth, Max Grünhut, in: Schmoeckel (Hrsg.), Die Juristen der Universität
Bonn im „Dritten Reich“, 2004, S. 256 ff.
711 Siehe Arth. Kaufmann, Gustav Radbruch – Leben und Werk, in: GRGA, Bd. 1 ,
1987; S. 37 ff.; Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 742 ff.
712 Hierzu Huber, Richard Martin Honig, in: Heinrichs u. a. (Hrsg.): Deutsche Juristen
Zweiter Teil
132
Andere Vertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens hingegen arrangieren sich und können im Amt verbleiben – wie etwa Erik Wolf, Erich Schwinge
und Edmund Mezger:
- Erik Wolf ist seit 1930 Prof. in Freiburg (dort 1933 erster Dekan der
Rechtsfakultät unter Rektor Heidegger). Die Abwendung vom Neukantianismus südwestdeutscher Prägung beginnt bereits vor 1933 und verdankt
sich vor allem dem Einfluss von Gerhart Husserl 713. Nach 1933 spricht
sich Wolf einerseits zugunsten der neuen Machthaber aus714, unternimmt
jedoch gleichzeitig den Versuch, den Nationalsozialismus im christlichen
Glauben zu fundieren715. Spätestens 1937 finden sich jedoch bei Wolf Belege für eine zunehmende Distanzierung gegenüber dem Nationalsozialismus716.
- Erich Schwinge wird nach einigen Lehrstuhlvertretungen ab 1936 Professor in Marburg. Zusammen mit dem Marburger Fakultät skollegen Leopold Zimmerl verteidigt Schwinge ab 1935 die teleologische Rechtsgutslehre gegen die Angriffe der Kieler Strafrechtsschule717.
- Edmund Mezger ist seit 1932 Prof. in München und macht in der Zeit des
Nationalsozialismus eine zweite Karriere (insbesondere als Mitglied der
strafrechtlichen Reformkommission des Reichsjustizministeriums)718.
jüdischer Herkunft, 1993, S. 752 ff.
713 Siehe den Hinweis bei Wolf, Vom Wesen des Täters, 1932, Vorwort, S. 5.
714 Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate, 1934.
715 Wolf, Richtiges Recht und evangelischer Glaube, in: Künneth/Schreiner (Hrsg.),
Die Nation vor Gott, 3. Aufl. 1934, S. 241–266.
716 Siehe z. B. die Umarbeitung von »Richtiges Recht und evangelischer Glaube« in der
5. Aufl. 1937 und Wolfs Engagement in der „Bekennenden Kirche“. – Für Einzelheiten und eine Gesamtwürdigung der Rolle Wolfs nach 1933 s. Hollerbach, Im
Schatten des Jahres 1933. Erik Wolf und Martin Heidegger, in: Schramm/Martin
(Hrsg.), Martin Heidegger, 2. Aufl. 2001, S. 117–148; Mehring, Rechtsidealismus
zwischen Gemeinschaftspathos und kirchlicher Ordnung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 140–156.
717 Z. B. Schwinge/Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, 1937; Übersicht bei Amelung, Rechtsgüterschutz, 1972, S. 216 ff. Trotz der
Frontstellung zur Kieler Schule sind die Texte freilich nicht frei von Konzessionen
an den Nationalsozialismus. Die Kontroverse aufgrund solcher Konzessionen als
„Scheingefecht“ darzustellen, wie es etwa Garbe vertritt (s. Garbe, Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge, 1989, S. 28), ist jedoch der Sache nicht angemessen und
verkennt den mitunter scharfen Ton des Streits (ebenso differenzierend Saar, Erich
Schwinge, in: ders. u. a. [Hrsg.], Recht als Erbe und Aufgabe [= Festschrift für
Heinz Holzhauer], 2005, S. 335 ff.). Ein dunkles Kapitel in Schwinges Biographie
bildet gleichwohl die Tätigkeit in der Militärgerichtsbarkeit (s. hierzu Garbe, aaO.).
718 Näheres zur Karriere Mezgers nach 1933 s. Muñoz Conde, Edmund Mezger und das
Strafrecht seiner Zeit, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte, Jg. 1 (2007),
Heft 1, S. 9–13; Thulfaut, „Mehrdimensionalität“ im Strafrecht, in: Jahrbuch der
Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
133
Über die politische Dimension hinaus gerät das Neukantianische Strafrechtsdenken auch in seinen neukantianischen Fundamenten unter Druck, da die neukantianische Philosophenschule ihre Vormachtstellung in den Geistes- und
Kulturwissenschaften längst an neue philosophische Strömungen – wie etwa an
die Phänomenologie, die Existenzphilosophie oder die materiale Wertphilosophie – verloren hat719. Gemeinsame Grundlage dieser neuen philosophischen
Strömungen ist ihre Kritik am neukantianischen Formalismus und die Hinwendung zu einem ontologisch vorgegebenen Material720.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kölner Habilitationsschrift »Naturalismus
und Wertphilosophie im Strafrecht« (1935)721 von Hans Welzel (1904–1977, ab
1937 Professor in Göttingen, 1952 in Bonn722). Hauptangriffspunkt Welzels ist
die neukantianische These der Abhängigkeit des Stoffes von der Methode, die
Welzel als »szientistisch«723 und als »Abkehr vom wirklichen Leben« brandmarkt724. Vorzugswürdig sei nach Welzel die Gegenthese, derzufolge sich »die
Methode wesensnotwendig nach dem Gegenstand als dem ontischen Seinsstück
richten muß, das es zu erforschen gilt.«725. Welzel wird damit zum Vorreiter
einer „ontologischen“ bzw. „sachlogischen“ Richtung im Strafrecht und ist eine
der Führungsfiguren der Strafrechtsdogmatik in der frühen Bundesrepublik726.
Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 1 (1999/2000), 2000, S. 316–342.
719 Selbst Neukantianer wechseln die Seite, wie das Beispiel Erik Wolf zeigt, der sich in
seiner Freiburger Antrittsrede »Vom Wesen des Täters« (1932) auf die phänomenologische Rechtslehre Gerhart Husserls beruft (s. Wolf, Vom Wesen des Täters,
1932, Vorwort, S. 5).
720 Im Strafrecht gewinnt insbesondere die materiale Wertphilosophie Schelers und
Hartmanns an Einfluss (hierzu nur I. Augsberg, Materiale Wertethik und Strafrechtsdogmatik, in: ARSP 89 [2003], S. 87–102).
721 Hans Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht. Untersuchungen
über die ideologischen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft, Mannheim 1935,
zugl. Habilitationsschrift Köln 1935, wiederabgedr. in: ders., Abhandlungen, 1975,
S. 29–119.
722 Zu Leben und Werk Welzels s. nur Loos, Hans Welzel, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 486–509; zum Erbe des Welzel’schen Werks siehe
zusätzlich Hirsch, Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel (1988), in:
Kohlmann (Hrsg.), Strafrechtliche Probleme, 1999, S. 60–92.
723 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen, 1975,
S. 79 u. ö.
724 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), aaO., S. 88.
725 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), aaO., S. 79; von Loos auf den
Gegensatz von Axiologik und Ontologie gebracht (Loos, Hans Welzel, in: ders.
[Hrsg.], Rechtswissenschaft in Göttingen, 1987, S. 496).
726 Siehe hierzu Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in:
ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 34 ff.; Jescheck, Grundfragen der Dogmatik und Kriminalpolitik (1981), in: Vogler (Hrsg.),
Jescheck. Beiträge zum Strafrecht, 1989, S. 11 ff.
Zweiter Teil
134
§ 6
Tradition und Transformation des Südwestdeutschen Neukantianismus
im Neukantianischen Strafrechtsdenken
Im folgenden Schlussabschnitt der Arbeit geht es um eine Gesamtwürdigung des
südwestdeutsch-neukantianischen Einflusses innerhalb des Neukantianischen
Strafrechtsdenkens. Wie bereits zu einer anderen Gelegenheit eingeführt, unterscheidet auch die folgende Darstellung zwischen neukantianischen Traditionen
(I.) und neukantianischen Transformationen (II.).
I. Traditionen: die erkenntnis- und
wissenschaftstheoretische Grundlegung
Zunächst zu neukantianischen „Traditionen“ im Neukantianischen Strafrechtsdenken. Diese haben in erster Linie erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen
Charakter727 und richten sich gegen die damals vorherrschenden Bestrebungen
eines rein formaljuristischen oder naturwissenschaftlichen Strafrechtsdenkens728.
727 Stimmen aus der Literatur z. B.: Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935),
in: ders., Abhandlungen, 1975 (»methodologische[s] Rüstzeug der südwestdeutschen Schule«, aaO., S. 96); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996 (die
Denkweise der Epoche des neoklassischen Verbrechensbegriffs »wurde wesentlich
bestimmt durch die Erkenntnistheorie des Neukantianismus«, aaO., S. 204); Würtenberger, Die geistige Situation, 1957 (der Einfluss des »Neukantianismus und der
südwestdeutschen Schule« betraf »in erster Linie ›erkenntnistheoretische‹ Fragen«,
aaO., S. 19); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1967 (»Der Neukantianismus […] zielte auf methodische Erneuerung der Voraussetzungen der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie und ihrer System- und Begriffsbildung«, aaO.,
S. 587); Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963 (»methodologische[r] Grundansatz« der an »Rickert und Lask sich orientierenden Strafrechtstheoretiker«, aaO.,
S. 717, im Orig. teilw. kursiv); Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984,
S. 24 f. mit Fußn. 46 (durch den Neukantianismus wurde die »wissenschaftstheoretische Naivität des Naturalismus bloßgelegt und seine Überwindung eingeleitet«,
aaO., S. 24).
728 Zur Herrschaft des formaljuristischen und naturwissenschaftlichen Strafrechtsdenkens s. bereits oben § 4 I u. II. >S. 91, 92 ff. <
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Zeit zwischen 1900 und 1933 gilt vielen als eine Glanzperiode strafrechtlicher Begriffs- und Systembildung, die trotz ihres gewaltsamen Endes bis heute den exzellenten Ruf der deutschen Strafrechtsdogmatik in aller Welt nährt. Ein Garant hierfür war die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundierung, die nach einem Weg zwischen den Klippen des naiven Naturalismus oder Formalismus suchte und sich vor allem mit der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus verbindet. Die Zusammenhänge eines „neukantianischen Strafrechtsdenkens“ liegen jedoch noch immer weitgehend im Dunkeln.
Die Arbeit stößt in diese Forschungslücke. Sie beginnt mit der Rekonstruktion des wertphilosophischen Begründungsprogramms des Neukantianismus. Im Mittelpunkt steht die These, dass Wertungen, obwohl sie auf den ersten Blick subjektiv und relativ erscheinen, doch implizit mit einem Anspruch auf objektive und absolute Geltung auftreten.
Die weiteren Ausführungen widmen sich der strafrechtlichen Umsetzung dieser These, wobei nachgewiesen wird, dass sie mit einer tiefgreifenden Transformation verbunden war, welche die gemeinhin behauptete neukantianische Prägung in einem differenzierteren Licht erscheinen lässt.