Die Rezeption des Neukantianismus im Strafrecht des frühen 20. Jahrhunderts
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§ 5
Die methodische Erneuerung der Strafrechtswissenschaft im frühen
20. Jahrhundert – das Strafrecht unter dem Einfluss des Neukantianismus
Nach Darstellung der geistigen Situation der Strafrechtswissenschaft gegen Ende
des 19. Jahrhunderts geht es im Folgenden um die methodische Erneuerung der
Strafrechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert.
Die Ausführungen geben zunächst einen Überblick über Methodendiskussionen in Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert
(I.). Anschließend folgt ein Blick auf die strafrechtliche Methodendiskussion
unter dem Einfluss des Südwestdeutschen Neukantianismus (Neukantianisches
Strafrechtsdenken) (II.).
I. Einführung: Methodendiskussionen in Rechtsphilosophie und
Rechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert
Zur Einführung zunächst einige Worte zur Methodendiskussion in Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert507.
1. Die geistige Erneuerung der Strafrechtswissenschaft steht vor allem im Zusammenhang mit der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Emanzipation
der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften unter der Herrschaft des Neukantianismus508.
Schuldlehre v. Liszts s. nur Achenbach, Schuldlehre, S. 38 ff.
507 Hierzu: Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 283 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1967, S. 586 ff.; s. zudem den von Sprenger herausgegebenen Sammelband »Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900« von
1991 (ARSP-Beih. 43), darin insb. die Beiträge von Klenner (»Rechtsphilosophie im
Deutschen Kaiserreich«, S. 11 ff.), Arthur Kaufmann (»Die Bedeutung Gustav Radbruchs für die Rechtsphilosophie im Ausgang des Kaiserreichs«, S. 101 ff.) und
Sprenger (»Recht als Kulturerscheinung«, S. 134 ff.). Für Belege aus zeitgenössischer Sicht siehe z. B. Berolzheimer, Die deutsche Rechtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert, in: ARWP 1 (1907/08), S. 130–148; Radbruch, Literaturbericht
Rechtsphilosophie, in: ZStW 24 (1904) bis ZStW 28 (1908); wiederabgedr. in:
GRGA, Bd. 1, 1987, S. 445 ff. (Radbruchs Beiträge begründen die bis heute bestehende Tradition der rechtsphilosophischen Literaturberichte in der »Zeitschrift für
die gesamte Strafrechtswissenschaft«).
508 Siehe hierzu schon oben § 1 >S. 24 ff.<. Zur nicht zu unterschätzenden Bedeutung
des Neukantianismus für die deutsche Wissenschaftsgeschichte s. jüngst Lepsius,
Wandlungen in der juristischen Wirklichkeitswahrnehmung, in: Oexle (Hrsg.),
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Diese neukantianische Emanzipationsbewegung erfasst auch die Rechtswissenschaft509. Einer der Vorkämpfer des juristischen Neukantianismus ist Rudolf
Stammler (1856–1938)510. Stammlers Arbeiten prägen die rechtsphilosophische
und rechtstheoretische Diskussion bis zum Ersten Weltkrieg und werden zum
Sinnbild des Kampfes gegen Positivismus und Naturalismus im Recht511.
Einflussreich wird insbesondere seine Lehre vom richtigen Recht von 1902512,
mit der Stammler die Absicht verfolgt, »eine allgemeingültige formale Methode
zu finden«, um das empirisch bedingte und notwendig wechselnde Recht dahingehend zu »bearbeiten«, zu »richten« und zu »bestimmen«, dass es die »Eigenschaft des objektiv Richtigen« erhält (Stammler Lehre 1902)513. Für die damalige
Rechtsphilosophie, die unter der Herrschaft des Positivismus allenthalben auf
eine »naiv-positivistisch[e]« Allgemeine Rechtslehre514 reduziert wurde, versprachen diese Worte nicht allein die Rehabilitation als Wissenschaft jenseits von
Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, 2007, S. 330. – Eine zweite Methodenentwicklung, die sich teilweise mit der durch den Neukantianismus in Gang gebrachten Reformbewegung überschneidet, kommt aus der Rechtswissenschaft
selbst und speist sich hier vor allem aus dem Kampf gegen die Herrschaft des Positivismus im Recht (Stichworte: Lückenlosigkeit des Rechts, Rechtsfortbildung,
Verhältnis Richter und Gesetz). Belege hierfür geben zahlreiche methoden- und
justizkritische Abhandlungen sowie Beiträge zur Justizreform und Juristenausbildung. S. zum Ganzen Klenner, Rechtsphilosophie im Deutschen Kaiserreich, in:
Sprenger (Hrsg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, 1991 (ARSP-
Beih. 43), S. 11–17, insb. S. 14; Gängel, Der Richter und seine Rechtsfindung, in:
Sprenger (Hrsg.), aaO., S. 121–133.
509 Hierzu Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935), in: ders.,
Abhandlungen, 1975, S. 70 ff.; Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 84 ff.; Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 318 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1967, S. 586 ff. – Der Neukantianismus ist allerdings
nicht die einzige „Neo-Philosophie“ (siehe Klenner, in: Sprenger [Hrsg.], Deutsche
Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, 1991 [ARSP-Beih. 43], S. 11–17, insb.
S. 15). Es gibt auch Versuche zur Wiederbelebung Hegels („Neuhegelianismus“;
z. B. durch Adolf Lasson, Josef Kohler oder Fritz Berolzheimer; am Beispiel von Kohlers Neuhegelianismus siehe z. B. Schild, in: Sprenger [Hrsg.], aaO., S. 46–65).
510 Allgemein zu Leben und Werk Rudolf Stammlers siehe Wenn, Juristische Erkenntniskritik, 2003 sowie die zeitgenössischen Würdigungen von zu Dohna, in: Kant-
Studien 31 (1926), S. 1–26, sowie Binder, in: ARSP 31 (1938/39), S. 380–403.
511 Zur Bedeutung Stammlers für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie siehe Müller,
Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 1994, S. 97 ff., 140 ff.; Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 85 ff.
512 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Berlin 1902 (2. Aufl. 1926); s. zudem Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. Halle 1911 (2. Aufl. 1923);
Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1. Aufl. Berlin 1922 (3. Aufl. 1928).
513 Stammler, Die Lehre vom richtigen Rechte, 1902, S. 116 f., im Orig. teilw. gesperrt.
514 Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 722. Zur Allgemeinen Rechtslehre um
1900 s. vor allem Funke, Allgemeine Rechtslehre, 2004, insb. S. 18 ff.
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Metaphysik, sondern auch eine inhaltliche Wiederbelebung als Lehre von der
Rechtsidee515.
In der Rechtswissenschaft führt Stammlers Suche nach »reinen Formen der
Rechtsgedanken«516 zu einem System »reiner Begriffe und Grundsätze«, die sich
– so Stammler – »als notwendige Bedingungen des juristischen Denkens […]
herausschälen lassen« (Stammler LB 1928)517. Die Rechtswissenschaft bedient
sich hierbei nach Stammler der teleologischen Betrachtungsweise, die – in Abgrenzung zur kausalen Methode der Naturwissenschaften – die (Rechts-)Wirklichkeit nicht nach Ursache und Wirkung, sondern nach Mittel und Zweck untersucht518.
2. Eine zweite Strömung des juristischen Neukantianismus steht in der Tradition der Lehren des Südwestdeutschen Neukantianismus (Wilhelm Windelband,
Heinrich Rickert) und wird vor allem durch die Arbeiten von Emil Lask und
Gustav Radbruch repräsentiert (zu ihnen s. schon oben § 3 II 2. >S. 61 ff.<). Wie
bereits an anderer Stelle erwähnt, übertragen Lask (»Rechtsphilosophie«, 1905)519
und Radbruch (»Grundzüge der Rechtsphilosophie«, 1914/22)520 das erkenntnisund wissenschaftstheoretische Programm Windelbands und Rickerts auf Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft und nehmen dadurch prägenden Einfluss
515 Siehe z. B. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932: Durch Stammler »Neubegründung der Rechtsphilosophie«, d. h. »Wiederherstellung der Selbständigkeit
einer Betrachtung des Rechtswerts neben der Erforschung der Rechtswirklichkeit«
(Radbruch, aaO., in: GRGA, Bd. 2, S. 249).
516 Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl, 1928, S. 5.
517 Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, aaO., S. 5, im Orig. teilw. gesperrt.
518 Siehe Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, aaO., § 25 ff. (= S. 56 ff.);
Stammler bezeichnet die Rechtswissenschaft daher auch als »Zweckwissenschaft«
(aaO., § 28 ff. [= S. 61 ff.]). Anders als bei v. Jhering werden die Zwecke nicht kausalwissenschaftlich hergeleitet (Stichwort: der Zweck als »Schöpfer des gesamten
Rechts«, siehe v. Jhering, Der Zweck im Recht, 6.-8. Aufl. der Volksausgabe, Bd. 1,
1923, Vorrede zur 1. Aufl., S. V), sondern als „logische“ Denkform behandelt (siehe
Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928, S. 57 Fußn. 3; hierzu Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 88). Zur Unterscheidung von kausaler und
teleologischer Betrachtungsweise s. bereits Stammler, Wirtschaft und Recht,
5. Aufl. 1924, S. 331 ff. (Abschnitt »Kausalität und Telos«). – Über seinen Schüler
Alexander Graf zu Dohna wirken Stammlers Lehren auch in das Strafrecht hinein
(hierzu Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl. 1963, S. 722 f.; Escher, Neukantianische
Rechtsphilosophie, 1992; zu Dohna siehe unten § 5 FN 633, 654).
519 Insbesondere Lask, Rechtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer,
2. Aufl. 1907, S. 269–320.
520 Siehe vor allem Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1./2. Aufl. 1914/22,
wiederabgedr. in: GRGA, Bd. 2, S. 9–204; 3. Aufl. 1932 unter dem Titel »Rechtsphilosophie« (aaO., in: GRGA, Bd. 2, S. 206–450).
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auf die methodische Erneuerung der Rechtswissenschaft als wertbeziehende
Kulturwissenschaft521.
II. Die strafrechtliche Methodendiskussion unter dem Einfluss des
Südwestdeutschen Neukantianismus (Neukantianisches Strafrechtsdenken)
Nachdem im vorigen Abschnitt die methodischen Ausgangsbedingungen der
geistigen Erneuerung der Strafrechtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert
dargestellt worden sind, geht es im Folgenden um deren Durchführung im Neukantianischen Strafrechtsdenken.
Die weiteren Ausführungen nehmen folgenden Verlauf: Nach einigen kurzen
Bemerkungen zum Forschungsstand und zur Untersuchungsmethode (1.) sollen
zunächst ausgewählte Hauptvertreter des Neukantianischen Strafrechtsdenkens
vorgestellt werden (2.). Daran anschließend geht es um die Rezeptionsgeschichte
des Südwestdeutschen Neukantianismus im Strafrecht (3.).
1. Forschungsstand und Methode der Darstellung
Zur Einführung zunächst einige Worte zum Forschungsstand des Neukantianischen Strafrechtsdenkens und zu den daraus sich ergebenen Folgen für die Darstellung.
Die Phase des Neukantianischen Strafrechtsdenkens führt bislang nur ein
Schattendasein in der Strafrechtsgeschichtsschreibung522, obwohl sie – wie bereits in der Einführung bemerkt und belegt – für die Entwicklung des modernen
Strafrechtsdenkens von großer Bedeutung war und noch immer ist523. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich hinsichtlich der Entwicklung des Neukantianischen Strafrechtsdenkens allein Einigkeit über das „Ob“ einer Rezeption
herstellen lässt. Die Belege hierfür sind zahlreich und ziehen sich durch alle
politischen und wissenschaftlichen Lager524. Unklarheit herrscht dagegen über
521 Lask, Rechtsphilosophie (1905), in: Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl. 1907,
S. 298; Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1./2. Aufl. 1914/22, in: GRGA,
Bd. 2, S. 175; Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, in: GRGA, Bd. 2, S. 354.
Einzelheiten s. schon oben § 3 II 2.b. >S. 62 ff.<; zur Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft s. unten § 5 II. >S. 102 ff.< und § 6. >S. 134 ff.<.
522 Keine Hinweise bei Rüping/Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl.
2002; kurze Erwähnung immerhin bei Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, § 324 (S. 390/391). Ausführlicher dagegen bei Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 24 ff.
523 Für Nachw. s. Einführung, FN 2.
524 Aus zeitgenössischer Sicht s. etwa: Mezger, Lehrbuch, 1931, S. 38/39; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: ders., Abhandlungen, 1975, S. 70; Mit-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Zeit zwischen 1900 und 1933 gilt vielen als eine Glanzperiode strafrechtlicher Begriffs- und Systembildung, die trotz ihres gewaltsamen Endes bis heute den exzellenten Ruf der deutschen Strafrechtsdogmatik in aller Welt nährt. Ein Garant hierfür war die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundierung, die nach einem Weg zwischen den Klippen des naiven Naturalismus oder Formalismus suchte und sich vor allem mit der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus verbindet. Die Zusammenhänge eines „neukantianischen Strafrechtsdenkens“ liegen jedoch noch immer weitgehend im Dunkeln.
Die Arbeit stößt in diese Forschungslücke. Sie beginnt mit der Rekonstruktion des wertphilosophischen Begründungsprogramms des Neukantianismus. Im Mittelpunkt steht die These, dass Wertungen, obwohl sie auf den ersten Blick subjektiv und relativ erscheinen, doch implizit mit einem Anspruch auf objektive und absolute Geltung auftreten.
Die weiteren Ausführungen widmen sich der strafrechtlichen Umsetzung dieser These, wobei nachgewiesen wird, dass sie mit einer tiefgreifenden Transformation verbunden war, welche die gemeinhin behauptete neukantianische Prägung in einem differenzierteren Licht erscheinen lässt.