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Erster Teil
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
in ihren Grundlinien
Im ersten Teil der Arbeit sollen die Grundlinien der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus dargestellt werden.
Dieses Unternehmen stößt auf einige Schwierigkeiten, die bei den weiteren
Ausführungen beachtet werden müssen. Eine erste Schwierigkeit liegt darin, dass
das Theorieprogramm des Südwestdeutschen Neukantianismus keine geschlossene Gestalt gefunden hat. Dies gilt sowohl für den klassischen Neukantianismus
der Schulhäupter Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert als auch für Vertreter des jüngeren Neukantianismus wie etwa Emil Lask.16 Die im Folgenden darzustellenden „Grundlinien“ der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus verkörpern damit zwar wesentliche Charakterzüge der Südwestdeutschen Schule, erheben aber keinen Anspruch auf deren vollständige Rekonstruktion17.
Eine weitere Schwierigkeit ist darin zu sehen, dass nicht alle Lehren des
(Südwestdeutschen) Neukantianismus im eigentlichen inhaltlichen Sinne neukantianisch sind. In typologischer Absicht besehen, lassen sich innerhalb des
neukantianischen Theorieprogramms zwei Argumentationsstränge unterscheiden: einen tendenziell kantischen bzw. kantianischen sowie einen tendenziell
neukantianischen Argumentationsstrang. Der kantianische Argumentationsstrang ist – im Wesentlichen – lediglich eine begriffliche Neuauflage der Lehren
Kants und bietet keine eigentliche inhaltliche Weiterentwicklung. Ein Beispiel
für das kantianische Erbe des Neukantianismus ist dessen erkenntnistheoretische Grundlegung18. Der neukantianische Argumentationsstrang des Neukantianismus bietet dagegen – im Wesentlichen – eine inhaltliche Neu- und Weiterentwicklung des Kantischen Erbes. Für den Fall des Südwestdeutschen Neukantianismus verspricht insbesondere die transzendentale Kultur- und Wertphilo-
16 Zum Systemgedanken im Südwestdeutschen Neukantianismus s. Krijnen, in: Alexy
u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 467–481 (am Beispiel Heinrich Rickerts).
17 Einen beachtlichen Beitrag zur historischen und systematischen Rekonstruktion
der neukantianischen Wertphilosophie lieferte jüngst Wapler, Werte und das
Recht, 2008.
18 Hier als „Grundlegungscharakter“ der Erkenntnistheorie bezeichnet. Für Einzelheiten s. § 3 I. >S. 33 ff.<.
Erster Teil
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sophie eine spezifisch neukantianische Neu- und Weiterentwicklung des Kantischen Gedankenguts19.
§ 1
Südwestdeutscher Neukantianismus als Begriff
I. Stichwort: „Neukantianismus“
Was bedeutet die Bezeichnung „Neukantianismus“?20
In der Philosophiegeschichtsschreibung versteht man unter „Neukantianismus“ eine philosophische Schule, die ihre Ursprünge in der Mitte des
19. Jahrhunderts hat und in der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Ausbruch
des Ersten Weltkriegs zur beherrschenden Universitätsphilosophie in Deutschland wird21. Nach Einschätzung von Habermas war sie sogar zu dieser Zeit »die
einzige Philosophie von Weltgeltung«22.
Die Bezeichnung „Schule“ ist hierbei in einem weiten Sinne zu verstehen: Die
neukantianische Bewegung war äußerst vielgestaltig23 und bekämpfte sich in
Detailfragen gelegentlich auch untereinander24. Diese Rivalität beschränkte sich
nicht auf Streitigkeiten zwischen den Schulen25, sondern zeigte sich auch innerhalb des Schulzusammenhangs26. So ist etwa die geistige Verwandtschaft zwi-
19 Diese eigenständige Leistung des Südwestdeutschen Neukantianismus wird einerseits als „Kulturaspekt“ (§ 3 II. >S. 56 ff.<), andererseits unter der Überschrift „Legitimationsaspekt“ (§ 3 III. >S. 70 ff.<) behandelt.
20 Das Feld der Literatur zum Neukantianismus ist mittlerweile gut bestellt. Für eine
allgemeine Einführung in den Neukantianismus s. vor allem Pascher, Einführung,
1997; Ollig, Neukantianismus, 1979 sowie den Artikel »Neukantianismus« von
Holzhey im Historischen Wörterbuch der Philosophie (hrsg. von Ritter u. a., Bd. 6,
1984, Sp. 747–754). Eine Textsammlung mit Schlüsseltexten des Neukantianismus
findet sich bei Ollig, Neukantianismus, 1982).
21 Philosophiegeschichtlich Köhnke, Entstehung, 1986; kurze Übersicht bei Pascher,
Einführung, 1997, S. 33 ff.
22 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 170.
23 Oesterreich (1951), Teil 4, §§ 36–42, S. 417 ff. unterscheidet beispielsweise sieben
Varianten des Neukantianismus.
24 Kurze Hinw. bei Marck, Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus (1949), in:
Ollig (Hrsg.), Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, 1987, S. 20.
25 Rickert bemerkt an einer Stelle, dass er den Marburger Cohen »nur zum Teil« verstehe (Rickert, System der Philosophie. Erster Teil, 1921, Vorwort, S. X).
26 Wie bereits einführend bemerkt, kann auf die innersystematische Entwicklung des
(südwestdeutschen) Neukantianismus nicht näher eingegangen werden. Für eine
erste Übersicht s. die Arbeit von Wapler, Werte und das Recht, 2008.
Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus
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schen Rickert und seinem Lehrer Windelband nicht so eng, wie es gelegentlich in
der Sekundärliteratur anklingt. So empfand Rickert das Denken von Windelband, »bei aller Bewunderung und Verehrung«, »sowohl zu metaphysisch als
auch zu psychologisch«27.
Zum Begriff „Neukantianismus“. Der Neologismus „Neukantianismus“ leitet
sich aus dem Wesenszug dieser Schulrichtung ab, an die Lehren Immanuel Kants
anzuknüpfen und diese für die philosophische Diskussion wiederzubeleben.
Inwieweit das Kantische Erbe dabei zu Recht in Anspruch genommen wurde
und in welchem Umfang andere Einflüsse hinzugekommen sind (wie etwa der
Einfluss Hegels28 oder Fichtes29), soll zu einem späteren Zeitpunkt näher untersucht werden. Zumindest dem Selbstverständnis nach sehen sich die Neukantianer als Nachfolger und Vollender Kants30. Heinrich Rickert etwa hält zwar
»(v)iele Teile der kritischen Philosophie« des Königsberger Philosophen für
»wissenschaftlich überholt«, sieht aber trotzdem im Kantischen Kritizismus die
»Grundlage für positive Weiterarbeit“31. In gleicher Weise äußert sich Wilhelm
Windelband, indem er anlässlich des hundertsten Todestages von Kant im Jahre
1904 programmatisch fragt: »wie müssen wir Kant recht verstehen, um über ihn
hinauszugehen?«32.
II. Stichwort: „Südwestdeutscher Neukantianismus“
Mit dem geographischen Zusatz „Südwestdeutsch“ wird eine von zwei Hauptströmungen des Neukantianismus33 bezeichnet, die Südwestdeutsche oder Badi-
27 Siehe z. B. Rickert, System der Philosophie, Erster Teil, 1921, Vorwort, S. XI.
28 Hierzu jüngst Krijnen, Selbsterkenntnis und Systemgliederung: Hegel und der
südwestdeutsche Neukantianismus, in: Fulda/Krijnen (Hrsg.), Systemphilosophie
als Selbsterkenntnis, 2006, S. 113–132; s. auch Wiegand, Unrichtiges Recht, 2004,
S. 27 ff. – Für eine Stellungnahme seitens der Neukantianer siehe z. B. Windelbands
Rede »Die Erneuerung des Hegelianismus« von 1910 (in: Windelband, Präludien,
Bd. 1, 9. Aufl. 1924, S. 273–289).
29 Hierzu etwa Stolzenberg, Fichte im Neukantianismus, in: Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 421–434; Heinz, Die Fichte-
Rezeption in der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, in: Schrader
(Hrsg.), Fichte im 20. Jahrhundert, 1997, S. 109–129.
30 Die Bezeichnung „Neukantianer“ wird von den Neukantianern nicht verwendet.
Rickert beispielsweise sieht sich als „Kantianer“, wenn auch nicht in einem strengen Schulsinne. S. hierzu die persönlichen Bemerkungen von Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, Vorwort, S. VII ff.
31 Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, Vorwort, S. VIII.
32 Windelband, Nach hundert Jahren (1904), in: Windelband, Präludien, Bd. 1,
9. Aufl. 1924, S. 148.
33 Die zweite Hauptströmung des Neukantianismus ist die „Marburger Schule“. Zu
ihr gehören die Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp aus Marburg. Zur
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References
Zusammenfassung
Die Zeit zwischen 1900 und 1933 gilt vielen als eine Glanzperiode strafrechtlicher Begriffs- und Systembildung, die trotz ihres gewaltsamen Endes bis heute den exzellenten Ruf der deutschen Strafrechtsdogmatik in aller Welt nährt. Ein Garant hierfür war die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fundierung, die nach einem Weg zwischen den Klippen des naiven Naturalismus oder Formalismus suchte und sich vor allem mit der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus verbindet. Die Zusammenhänge eines „neukantianischen Strafrechtsdenkens“ liegen jedoch noch immer weitgehend im Dunkeln.
Die Arbeit stößt in diese Forschungslücke. Sie beginnt mit der Rekonstruktion des wertphilosophischen Begründungsprogramms des Neukantianismus. Im Mittelpunkt steht die These, dass Wertungen, obwohl sie auf den ersten Blick subjektiv und relativ erscheinen, doch implizit mit einem Anspruch auf objektive und absolute Geltung auftreten.
Die weiteren Ausführungen widmen sich der strafrechtlichen Umsetzung dieser These, wobei nachgewiesen wird, dass sie mit einer tiefgreifenden Transformation verbunden war, welche die gemeinhin behauptete neukantianische Prägung in einem differenzierteren Licht erscheinen lässt.