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ständnis dieses Instituts im Sinne der Rahmenrichtlinie bei allen Rechtsanwendern
zu gewährleisten.
I. Antidiskriminierungsrechtliche Behinderungsdefinition
Der Behinderungsbegriff in § 2 I 1 SGB IX ist für ein Antidiskriminierungsrecht,
welches das Recht auf angemessene Vorkehrungen speziell für Menschen mit Behinderung bereithalten will, nicht mit der ausreichenden Trennschärfe ausgestattet1141. Die angemessenen Vorkehrungen sollen gerade die funktionale Aktivitätsbeeinträchtigung ausgleichen, durch die sich die Behinderung nach außen manifestiert.
Daher sollte ein entsprechender Behinderungsbegriff dieses Merkmal sprachlich
prägnant zum Ausdruck bringen. Vorgeschlagen wird daher folgende Definition für
das AGG:
Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist ein auf einer Schädigung beruhender Zustand, der
sich in der Beeinträchtigung einer wesentlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Aktivität nach außen niederschlägt.
Diese Definition könnte als zweiter Absatz in § 1 AGG eingegliedert werden oder
als § 1a in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Eingang finden. Sie ist bewusst
eng gehalten. Die Aktivitätsbeeinträchtigung wird durch das Wesentlichkeitserfordernis qualifiziert, damit im Alltag unwesentliche oder vollständig korrigierbare
Beeinträchtigungen wertend ausgeschieden werden können. Weiterhin wird durch
diese Definition ein Einfluss von Kontextfaktoren auf Tatbestandsebene vermieden,
indem nur körperliche, geistige und seelische Aktivitäten in Betracht kommen.
II. Recht auf angemessene Vorkehrung im Diskriminierungskonzept des AGG
Das Recht auf angemessene Vorkehrungen kann alternativ an zwei Stellen ins AGG
eingefügt werden. Entweder es wird der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen
der objektiven Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung zugeschlagen.
Oder das Recht auf angemessene Vorkehrungen erfährt eine eigenständige Regelung
im Rahmen eines besonderen Rechtfertigungsgrundes. In beiden Fällen kann erwogen werden, das Recht auf angemessene Vorkehrungen bereits gesetzlich einzuschränken.
1141 Oben S. 66 f.
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1. Erweiterung der mittelbaren Benachteiligung
In Betracht kommt eine Ergänzung von § 3 II AGG um folgenden zweiten Satz:
Eine mittelbare Benachteiligung wegen einer Behinderung ist nur dann nicht anzunehmen,
wenn keine angemessenen und erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden können, um die
Aktivitätsbeeinträchtigung auszugleichen.
So kann sichergestellt werden, dass das Recht auf angemessene Vorkehrungen bei
der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Im Rahmen der wertungsoffenen Kriterien Angemessenheit und Erforderlichkeit können diejenigen Interessen der Arbeitgeber Eingang finden, durch die das Recht auf angemessene Vorkehrungen begrenzt werden muss.
2. Eigenständiger Rechtfertigungsgrund
Man könnte das Recht auf angemessene Vorkehrungen auch eigenständig regeln.
Ein in dem Fall naheliegender Ansatzpunkt wäre als Bestandteil eines speziellen
Rechtfertigungsgrundes. Der Rechtfertigungsgrund der beruflichen Anforderungen
in § 8 I AGG passt in der jetzigen Formulierung nicht auf das Merkmal Behinderung. Denn danach muss der in § 1 AGG genannte Grund, also die Behinderung
selber, gerade eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung sein. Dies
wird aber nur höchst selten der Fall sein. Notfalls könnte § 8 I AGG so verstanden
werden, dass nicht die Behinderung selber, sondern eine bestimmte körperliche,
geistige oder seelische Funktion eine wesentliche und entscheidende Anforderung
sein darf. Ein solches Verständnis würde sich an § 81 II SGB IX a.F. anlehnen, der
nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Regelungen des AGG ersetzt worden
ist1142. Allerdings würde dieses Verständnis die Grenzen des jetzigen Wortlauts
überschreiten und zudem nicht dafür sorgen, dass das Recht auf angemessene Vorkehrungen bei der Bestimmung der wesentlichen und entscheidenden beruflichen
Anforderungen eine Rolle spielen muss. Daher ist folgende Ergänzung von § 8 AGG
um einen Absatz 1a denkbar1143:
Eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Behinderung ist auch zulässig, wenn eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung wegen der Beeinträchtigung einer körperlichen, geistigen oder seelischen Aktivität nicht erfüllt werden kann und wenn diese Beeinträchtigung nicht durch die Bereitstellung angemessener und erforderlicher Vorkehrungen
ausgeglichen werden kann.
1142 Vgl. Falke, in: Rust/ders., AGG, 2007, § 8 Rn. 27.
1143 Schlachter, in: ErfK, 9. Aufl. 2009, § 8 AGG Rn. 4 ist bemüht, dieses Ergebnis allein durch
eine richtliniekonforme Auslegung des § 8 I AGG zu erreichen. Ohne nähere Begründung
ebenso Lingemann/Müller, BB 2007, 2006, 2009. Angesichts des eindeutigen Wortlauts von
§ 8 I AGG wendet sich gegen diese Ansicht Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007, Rn. 358.
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3. Begrenzungsmöglichkeit
Das Recht auf Vorkehrungen kann bereits gesetzlich beschränkt werden. Dazu wäre
den jeweils vorgeschlagenen Regelungen folgender weiterer Satz hinzuzufügen:
Eine Vorkehrung ist dann nicht mehr angemessen und erforderlich, wenn sie zu einer übermä-
ßigen Belastung führt oder einen Verzicht auf eine wesentliche und entscheidende Anforderung bedeutet.
Alternativ könnte man die Herausarbeitung der genauen Begrenzungen des Rechts
auf angemessene Vorkehrungen aber auch der Rechtsprechung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung überlassen, in der die Interessen des Arbeitgebers ohnehin
zu berücksichtigen sind.
C. Schlusswort
Die Forderung nach einem Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik nach U.S.amerikanischem Vorbild hat entscheidende Impulse gesetzt. Politik und Gesellschaft
konnten für die komplexen Probleme von Menschen mit Behinderung sensibilisiert
werden. Die gefestigten Erfahrungen mit dem Antidiskriminierungsrecht in den
Vereinigten Staaten von Amerika sowie zahlreiche Neuerungen im Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland stellen die Behindertenpolitik jedoch vor neue Herausforderungen. Der Paradigmenwechsel als
Kampfbegriff hat ausgedient. Jetzt muss es um eine konzeptionell stimmige Paradigmenerweiterung gehen, die einerseits die starke Tradition des Rehabilitationsund Schwerbehindertenrechts in Deutschland intakt lässt, andererseits aber das
Recht auf angemessene Vorkehrungen passgenau in das Antidiskriminierungsrecht
integriert. Beide Rechtsgebiete sind also im Sinne einer umfassenden Behinderungspolitik gemeinsam weiterzuentwickeln.
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References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.