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7 | Fazit
Das Fazit soll in zwei Teilen erfolgen. Zunächst wollen wir unsere Ergebnisse noch
einmal resümieren und abschließend bewerten. Anschließend kommen wir auf die
deutsche Debatte zurück und fragen, was unsere Erkenntnisse für die Diskussion um
die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene bedeuten.
7.1 Ergebnisse und Bewertung
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte
um die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene und der direktdemokratischen Praxis. Die deutsche Diskussion wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen in der Schweiz und anderen Staaten lassen aber eher
eine rechts-konservative Wirkung vermuten. Dieser Widerspruch hat sich in unseren
Untersuchungen bestätigt.
In der Umfrage unter Bundestagsabgeordneten und Nationalräten konnten wir zunächst feststellen, dass die Konfliktlinien bezüglich direkter Demokratie in der Bundesrepublik und der Schweiz tatsächlich entgegengesetzt verlaufen. Die Bundestagsabgeordneten der linken Parteien sowie der liberalen FDP befürworten die Einführung direkter Mitbestimmungsmöglichkeiten auf Bundesebene stark, die Abgeordneten der konservativen CDU/CSU-Fraktion lehnen sie deutlich ab. Bei der Bewertung direkter Demokratie fällt das Bild entsprechend aus: CDU/CSU-
Abgeordnete stimmten mehrheitlich jenen Thesen zu, die Volksentscheiden eine negative Wirkung zuschreiben, die Oppositionsparteien befürworteten stärker die positiven Thesen. Im Nationalrat ist die Situation umgekehrt: Die rechts-konservative
SVP befürwortet den weiteren Ausbau der Volksrechte am stärksten und bewertet
die direkte Demokratie am positivsten, die Sozialdemokraten gehören zu den Skeptikern.
Diese gegensätzliche Bewertung direkter Demokratie durch die Nationalräte bestärkte uns zu der These, dass direkte Demokratie in der Praxis eine rechtskonservative Wirkung aufweist. Der bekannte Status quo Bias, die unterschiedliche
Wirkung von Referenden und Initiativen und die Unterschiede zwischen den grundsätzlichen Einstellungen der politischen Elite und des Volkes machen diese These
plausibel. Die Betrachtung der verschiedenen Politikbereiche und der allgemeinen
Nutzung direktdemokratischer Mittel in der Schweiz hat sie weitgehend bestätigt.
In allen betrachteten Politikbereichen hatte die direkte Demokratie eher eine
rechts-konservative Wirkung als eine links-liberale. Sowohl der unterschiedlich
starke Effekt von Referenden und Initiativen hat sich bestätigt, als auch die Unterschiede zwischen den politischen Einstellungen der Elite und des Volks.
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Unsere Analyse der Nutzung direktdemokratischer Instrumente in der Schweiz
hat das Bild komplettiert. Die linken Parteien nutzen die Initiative sehr viel häufiger
als das rechts-konservative Spektrum, können damit aber kaum eine direkte Wirkung auf den politischen Prozess erreichen. Die Erfolgsquote der SP ist bei Abstimmungen geringer, als die der rechts-konservativen SVP. Diese nutzt vermehrt
die bremsenden und erfolgreicheren Referenden. Außerdem gelingt es ihr besser als
der SP, ihre Anhänger entsprechend ihrer Parole zu mobilisieren.
Der Blick auf die direktdemokratische Praxis in anderen Staaten hat uns keinen
Hinweis gegeben, dass es sich bei der rechts-konservativen Tendenz der Schweizer
Volksentscheide um eine Ausnahme handeln könnte. Einzig in Italien hat die direkte
Demokratie eine progressive Wirkung gezeigt und das System grundlegend erneuert.
In keinem anderen Staat konnten Volksentscheide diese Schubwirkung entfalten.
Wir können nach unseren Untersuchungen der Wirkung direkter Demokratie in
den einzelnen Politikfeldern, der Nutzung von Volksrechten nach Parteien in der
Schweiz und der direktdemokratischen Praxis in anderen Staaten also festhalten,
dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie alle auf eine rechtskonservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen.
Dabei soll noch auf zwei Punkte hingewiesen werden, die in dieser Arbeit nicht
oder nur in geringem Maß berücksichtigt wurden und die zur weiteren Analyse der
Richtungswirkung von Volksrechten hilfreich wären.
Zum einen haben wir, in den empirischen Befunden in den einzelnen Politikbereichen teilweise und bei den Untersuchungen in der Schweiz ausschließlich, die direkte Wirkung von Volksrechten betrachtet (vgl. Kapitel 5.3). Zu kurz gekommen
sind die indirekten Auswirkungen von Referenden und Initiativen. Zur indirekten
Wirkung existieren jedoch bereits eine Reihe von Analysen die vermuten lassen,
dass auch die indirekte Wirkung von Referenden größer ist, als die von Initiativen
(vgl. Neidhart 1970). Dennoch würde sich ein tieferer Blick auf die indirekten politischen Auswirkungen direkter Demokratie lohnen.
Zum zweiten haben wir die unterschiedliche Wirkung von Referenden und Initiativen zwar betrachtet, aber nicht international verglichen. Unsere Untersuchungen
haben sich stark auf die Schweizer Ausgestaltung der Volksrechte konzentriert. Der
italienische Fall verdeutlicht, dass die Ausgestaltung direktdemokratischer Elemente
entscheidend für ihre Wirkung ist. Insbesondere, ob ein Gesetz vom Volk zu Fall
gebracht werden kann, bevor es in Kraft tritt oder erst nach einer gewissen Frist, wie
es in Italien der Falls ist, scheint einen wesentlichen Unterschied bezüglich des politischen Effekts von Volksabstimmungen zu machen. Auch das hohe Beteiligungsquorum von 50% kann einen Einfluss auf die Wirkungsweise haben. Hier wäre eine
systematische Analyse der Wirkung der verschiedenen Referendums- und Initiativrechte auf internationaler Ebene weiterführend.
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7.2 Schlussfolgerungen für die deutsche Debatte
Der Widerspruch zwischen der deutschen Debatte und den praktischen Erfahrungen
mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten hat sich bestätigt. Obwohl die Ergebnisse von Volksentscheiden in der Regel bremsend, konservativ und
teilweise minderheitenfeindlich sind, befürworten vor allem links-liberale Politiker
die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene.
Wir stehen somit vor der Frage, woher dieser Widerspruch kommt. Warum drängen ausgerechnet die „Linken“ darauf, Volksentscheide einführen, obwohl zu erwarten ist, dass sie als Folge ihre bevorzugte Politik schwerer umsetzen könnten als zuvor?
Zu vermuten ist, dass die Abgeordneten zum einen schlecht über die Wirkung direkter Demokratie informiert sind oder sich schlicht noch keine Gedanken über die
möglichen Auswirkungen auf das politische Tagesgeschäft gemacht haben. Hinzu
kommt zum zweiten, dass beide politischen Lager direkte Demokratie nicht nach
ihren Politikergebnissen, sondern nach partizipativen Gesichtspunkten beziehungsweise nach ihrem Bedrohungspotential für die repräsentative Demokratie beurteilen.
Einen starken Hinweis für den erstgenannten Punkt hat die für diese Arbeit
durchgeführte Umfrage geliefert. Die drei Thesen, die direkt aus der Schweizer Erfahrung mit direkter Demokratie hervorgegangen sind, wurden von den Bundestagsabgeordneten entgegen der Tatsachen eingeschätzt.
So lag die Zustimmungsrate für die These „Direkte Demokratie führt zu mehr
Stabilität“ bei den Schweizer Nationalräten bei 72%, bei den Bundestagsabgeordneten lediglich bei 8%. Das ist ein extrem großer Unterschied und ein starker Beleg
dafür, dass sich die Bundestagsabgeordneten wenig mit den Schweizer Erfahrungen
auskennen. Die hohe politische Stabilität der Schweiz führen zahlreiche Autoren direkt auf die ausgebauten Volksrechte zurück (vgl. Neidhart 1970; Linder 2005) und
auch die Nationalräte bestätigen diese Einschätzung in großer Mehrheit. Dafür vermuteten immerhin 21% der deutschen Abgeordneten, dass direkte Demokratie die
Wahlbeteiligung erhöhe, hingegen nur 6% der Schweizer. Diese Einschätzung entbehrt wiederum jeder praktischen Grundlage. In der Schweiz ist die Wahlbeteiligung
mit durchschnittlich 45,6% (Linder 2005, S. 67) signifikant niedriger als der Europäische Durchschnitt und auch in Kalifornien geben bei Abstimmungen im Schnitt nur
44% (Glaser 1994, S. 139) der Bevölkerung ihre Stimme ab. Der These, dass direkte
Demokratie in der Regel den Status quo bevorzuge stimmten 30% der befragten Nationalräte zu und 15% der deutschen Abgeordneten. Wir finden also das gleiche
Bild: eine ganze Reihe von Analysen zeigen den Status quo Bias der direkten Demokratie (vgl. Brunetti 1997), wir haben ihn selbst ausführlich dargestellt. Die deutschen Abgeordneten kennen diese Einschätzung aber nur zu einem sehr geringen
Teil.
Es bestätigt sich also, dass die Bundestagsabgeordneten schlichtweg schlecht über
praktische Erfahrungen mit direkter Demokratie informiert sind. Die Abgeordneten
müssen andere Gründe haben, warum sie der direkten Demokratie positiv oder negativ gegenüber stehen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.