93
über die ausgedünnten Maastrichter Verträge wurde ebenso angenommen, wie zwei
weitere fakultative, jedoch nicht bindende Referenden 1916 zu Westindien und 1986
zur Einheitlichen Europäischen Akte.
6.5 Fazit des Länderüberblicks
Wir haben die Praxis direkter Demokratie in einigen weiteren Staaten betrachtet, um
einen Eindruck zu gewinnen, ob es sich bei den zuvor gewonnenen Erkenntnissen
um typisch schweizerische Erfahrungen handelt.
Nach diesen kurzen Eindrücken aus Kalifornien, Italien, Irland und Dänemark
lässt sich vermuten, dass dies nicht der Fall ist.
Die Erfahrungen bezüglich der Sozial- und Steuerpolitik und des Minderheitenschutzes wiederholen sich in Kalifornien. Billerbeck bewertet die direkte Demokratie in Kalifornien insgesamt als populistisch-konservativ (vgl. Schiller 2002, S. 121).
In Irland bestätigt sich, dass die Elite progressiver ist als das Volk, das jahrelang
die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verhindert hat. Die konservative
und bremsende Wirkung des Referendums kommt hier sehr stark zum Ausdruck.
In Dänemark gibt es ein gemischtes Bild, da die auf Europa bezogenen Vorlagen
teils angenommen, teils abgelehnt wurden. Ohne Volksabstimmungen hätte das Parlament aber dem Maastrichtvertrag in unveränderter Form und der Euro-Einführung
zugestimmt.
Interessant ist der Fall Italien. Hier handelt es sich um das einzige Land, in dem
durch Volksabstimmungen fast ausschließlich Innovation und Erneuerung erreicht
wurden. Das lässt sich auf die Konstruktion des abrogativen Referendums zurückführen und widerspricht letztlich nicht unserer These. Denn wie oben erläutert, ist
das abrogative Referendum weniger ein echtes Referendum, wie wir es aus der
Schweiz kennen, sondern vielmehr eine Initiative.
Durch die Möglichkeit, lang bestehende Gesetze abzuschaffen, kann es eine gro-
ße Innovationskraft entfalten. Zudem hat es auch in der eigentlichen Referendumsfunktion andere Voraussetzungen als das Schweizer Gesetzesreferendum. Da es erst
ein Jahr nach in Kraft treten eines neuen Gesetzes ergriffen werden kann, wird der
Status quo umgedreht. Dieser ist nicht der Zustand vor Eintreten des neuen Gesetzes, sondern das Gesetz ist bereits gültig und damit der neue Status quo. Somit wirkt
der Status quo Bias zu Gunsten des neuen Gesetzes. Auf diese Weise hat das italienische Referendum kaum eine Bremskraft entwickelt, sonder in der Regel progressiv gewirkt.
Andere Autoren haben das ebenfalls erkannt und schlagen teilweise solch eine
Fristenregelung, die den Status quo Effekt umkehrt, auch für die Schweiz vor (vgl.
Brunetti 1997, S. 177).
Insgesamt können wir folgern, dass es sich bei unseren Ergebnissen zur Wirkung
direkter Demokratie nicht ausschließlich um für die Schweiz typische Erkenntnisse
handelt. Eine konservative und bremsende Wirkung ist auch in anderen Staaten zu
erkennen.
94
Unsere Ergebnisse sind allerdings insofern typisch für die Schweiz, da in der Eidgenossenschaft alle drei direktdemokratischen Instrumente existieren: das obligatorische Verfassungsreferendum, das fakultative Gesetzesreferendum und die Volksinitiative. Wie wir in der Thesenformulierung deutlich gemacht haben, schreiben wir
der Initiative eine eher progressive Wirkung zu, dafür aber eine weitaus Schwächere
als dem Referendum.
Dies hat sich in der Schweiz bestätigt, in Kalifornien wird das Referendum hingegen sehr viel seltener genutzt als die Initiative. Zudem hat die kalifornische Initiative eine höhere Erfolgsquote als die Schweizer. Trotzdem scheint die Wirkung der
direkten Demokratie in Kalifornien insgesamt auch eher konservativ zu sein. Mit
anderen Mitteln wird dort offenbar eine ähnliche Wirkung erzielt. Über die Gründe
können wir nach einer so kurzen Länderanalyse Kaliforniens allerdings nur spekulieren. Wahrscheinlich scheint, dass die Volksinitiative schlichtweg häufiger statt
eines Gesetzesreferendums genutzt wird, weil sie in Kalifornien das unkompliziertere Instrument ist. Volksinitiativen werden sehr viel schneller zur Abstimmung gebracht als in der Schweiz und das Parlament darf keinen Gegenvorschlag einbringen.
Weiterhin sind Initiatoren nicht an die Fristen nach der Verabschiedung eines Gesetzes gebunden, wie es bei einem fakultativen Referendum der Fall wäre.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.