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5.2.3 Wessen Parteiparolen werden befolgt?
Welches politische Lager kann eher die Stimmbürger hinter sich vereinen? Welche
Partei kann mehr Abstimmungserfolge für sich verbuchen, hatte also die Parteiparole entsprechend dem Abstimmungsergebnis herausgegeben?
Dies sind entscheidende Fragen, um zu prüfen, ob eine politische Seite durch direkte Demokratie systematisch begünstigt wird. Folgen die Stimmbürger einem politischen Lager geschlossener, stützt das die Nebenthese N3 oder hilft, sie zu verwerfen. Folgen die Stimmbürger eher dem rechts-konservativen Lager, also in unserem
Modell der SVP, bestätigt das die Vermutung, dass die Stimmbürger konservativer
eingestellt sind als die Eliten. Gibt es keinen Unterschied oder folgen sie eher dem
links-liberalen Lager, in diesem Fall der SP, spricht das gegen diese Hypothese.
Ebenso interessiert uns, ob die Befolgung der Parolen vielleicht vom Abstimmungsinstrument abhängt. Folgen die jeweiligen Anhänger ihrer Partei eher bei Initiativen oder eher bei Referenden? Folgt man der Theorie des Status quo Bias, müssten außerdem Nein-Parolen eher befolgt werden als Ja-Parolen.
Dazu wurde bei den oben betrachteten 75 Abstimmungen untersucht, wie viel
Prozent der Parteiidentifikateure von SP und SVP jeweils der Parole ihrer Partei gefolgt sind.
Abbildung 5.2.3.1: Abstimmungserfolg von SP und SVP 1996-2006 in Prozent (eigene Darstellung nach Vox-Analysen 1996-2006)
Betrachtet man zunächst ganz allgemein den Abstimmungserfolg der beiden Parteien, hat die SVP die Nase vorn (siehe Abbildung 5.2.3.1). In 64% der Abstimmungen entsprach ihre Parole dem Abstimmungsergebnis. Die SP liegt mit 51% Abstimmungserfolg dahinter. Erinnern wir uns an die Unterschiede bei den Parteiparolen, ist es nahe liegend, diesen Unterschied auf die schlechten Erfolgschancen von
Volksinitiativen zurückzuführen.
64
51
0
10
20
30
40
50
60
70
Parole erfolgreich
SVP SP
81
*Anmerkungen: Dargetsellt ist der Korrelationskoeeffizient Spearmean’s rho sowie in
Klammern die Signifikanz. Eigene Auswertung anhand der Vox-Analysen von 1996-2006.
Die Liste der ausgewerteten Abstimmungen und die Kodierung der Variablen sind im Anhang beigefügt.
Abbildung 5.2.3.2: Zusammenhänge zwischen Abstimmungsinstrument, Befolgung
der Parteiparole und dem Abstimmungserfolg der SP*
Abbildung 5.2.3.3: Zusammenhänge zwischen Abstimmungsinstrument, Befolgung
der Parteiparole und dem Abstimmungserfolg der SVP*
Da die SP bei Volksinitiativen sehr viel häufiger die Ja-Parole herausgibt, diese
aber nur selten angenommen werden, kommt es zu einer deutlich schlechteren Erfolgsquote der SP.
Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn wir uns die Spearman Korrelationen in den
Abbildungen 5.2.3.2 und 5.2.3.3 ansehen. Bei der SP gibt es einen negativen Zusammenhang zwischen dem Erfolg der Parteiparole und dem Abstimmungsinstrument, der auf dem 95%-Niveau signifikant ist. Mit rs=-0,27 ist er zwar nicht übermäßig groß, aber im Gegensatz zur SVP vorhanden. Das bedeutet, dass der Abstimmungserfolg der SP bei obligatorischen Referenden am höchsten ist und bei Initiativen am geringsten.
SP
Abstimmungsinstrument Parteiparole
Befolgung der
Parteiparole
Parteiparole
.016 (.893) - -
Befolgung der Parteiparole
-.334** (.003) .003 (.777)
-
Parole erfolgreich -.268* (.020) .256* (.027) .621** (.000)
SVP
Abstimmungsinstrument Parteiparole
Befolgung der
Parteiparole
Parteiparole
.305** (.008) - -
Befolgung der Parteiparole
-.035 (.764) .173 (.138)
-
Parole erfolgreich .015 (.899) .262* (.023) .340** (.003)
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Schauen wir uns die Befolgung der Parteiparole in Prozent der eigenen Parteisympathisanten bei der SP an, unterstützt diese unsere These. Hier ist die Abhängigkeit vom Abstimmungsinstrument mit rs=-0,33 auf dem 99%-Level klar signifikant.
Abbildung 5.2.3.4 verdeutlicht das Bild: Die Unterstützung der SP durch ihre Anhänger liegt bei allen Abstimmungsinstrumenten ungefähr auf einem Niveau. Nur
bei der Volksinitiative liegt die durchschnittliche Unterstützung der Parteiparole um
ca. 10 Prozentpunkte tiefer. Bei der SVP gibt es diesen Abfall nicht. Die Befolgung
der Parolen ist bei allen Instrumenten leicht unterschiedlich. Am stärksten befolgt
werden bei der SVP die Parolen zu Obligatorischen Referenden. Diese haben mit
nur sieben Abstimmungen jedoch auch die geringste Aussagefähigkeit.
Abbildung 5.2.3.4: Befolgung der Parteiparole in Prozent der eigenen Parteisympathisanten nach Partei und Abstimmungsinstrument (eigene Berechnungen nach
Vox-Analysen 1996-2006).
SP SVP N
Obligatorisches Referendum 77 84 7
Fakultatives Referendum 78 72 28
Volksinitiative 67 79 36
Gegenentwürfe 76 70 4
Total 72 76 75
Auch über die Frage, ob Ja- oder Nein-Parolen eher erfolgreich sind, geben uns
die Korrelationstabellen Aufschluss. Bei beiden Parteien gibt es einen leichten positiven Zusammenhang zwischen der Parteiparole und dem Abstimmungserfolg, der
jeweils auf dem 95%-Niveau signifikant ist. Das bedeutet, dass Nein-Parolen häufiger erfolgreich sind als Ja-Parolen. Auch dieser Zusammenhang lässt sich im Wesentlichen auf die Initiativen zurückführen, bei denen Nein-Parolen erfolgreicher
sind, weil Initiativen in der Regel abgelehnt werden. Zahlenmäßig machen die Initiativen in unserer Untersuchung den größten Anteil aus.
Bei den fakultativen Referenden sind hingegen weder Ja- noch Nein-Parolen im
Vorteil, da sie eine ungefähre Annahmequote von 50% haben. Obligatorische Referenden werden hingegen in der Mehrheit der Abstimmungen angenommen, hier sind
daher die Ja-Parolen die erfolgreicheren. Die Parolen der SVP entsprechen, wie wir
in Abbildung 5.2.2.2 gesehen haben, genau diesen Erfolgswahrscheinlichkeiten. Die
SVP gibt bei Initiativen meistens die Nein-Parole heraus, bei Referenden etwa
gleich häufig Ja oder Nein, bei obligatorischen Referenden in der Regel die Ja-
Parole. Das erklärt die höhere Erfolgsquote der SVP im Vergleich zur SP. Die Sozialdemokraten geben vor allem bei der Volksinitiative in der Mehrheit der Fälle eine
Ja-Parole heraus. Diese führt nur sehr selten zum Abstimmungserfolg: Im betrachteten Zeitraum waren gerade zwei der 24 Ja-Parolen bei Initiativen erfolgreich (UNO-
Beitritt 2002, Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft 2005).
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Sind die unterschiedlichen Parolen bei den Abstimmungsinstrumenten der wesentliche Erklärungsfaktor für den unterschiedlichen Erfolg in Abstimmungen? Untersucht man, wo die Abstimmungserfolge liegen, muss diese Frage mit Ja beantwortet werden. Die SP hatte bei Volksinitiativen zwar nur zwei Abstimmungserfolge bei 24 Ja-Parolen, die SVP hatte aber auch nur einen bei sieben Ja-Parolen. Das
ist prozentual zwar mehr, aber bei der geringen Fallzahl nicht wirklich höher zu bewerten. Die SP hatte hingegen bei fünf von elf Nein-Parolen beim Fakultativen Referendum Erfolg. Die SVP nur in drei von 13 Fällen (siehe Abbildung 5.2.3.5).
Abbildung 5.2.3.5: Abstimmungserfolg bei oppositionellen Parolen 1996-2006:
Nein bei Referenden, Ja bei Volksinitiativen (eigene Berechnungen nach Vox-
Analysen 1996-2006).
Ein Erfolg bei Ja-Parolen bei Initiativen und Nein-Parolen bei Referenden ist höher zu bewerten, als ein Abstimmungserfolg in den übrigen Fällen. Eine Initiative
übt dann entscheidende Wirkung aus, wenn sie angenommen wird. Wird sie verworfen, verändert sich die reguläre Politik der Regierung nicht. Beim Referendum ist es
umgekehrt. Wird zugestimmt, wird das Gesetz angenommen und damit die Regierungspolitik umgesetzt. Bei einer Ablehnung übt das Volk Opposition zur Regierung
aus.
Zusammenfassend muss also gesagt werden, dass der direkte Abstimmungserfolg
von SP und SVP vergleichbar ist, auch wenn die SVP die höhere direkte Erfolgsquote aufweist. Diese speist sich in großem Maß aus den Nein-Parolen bei den Initiativen. Beide Seiten brachten jedoch ähnlich häufig ihre Abstimmungsparolen durch,
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wenn sie oppositionell zum Bundesrat standen. Die SP insgesamt sieben, die SVP
fünf Mal.
Zum Schluss lohnt sich noch ein Blick auf die Abstimmungen, bei denen SVP
und SP jeweils die größte Zustimmung ihrer eigenen Anhänger zur Parteiparole erreichten.
Der SVP gelang das bei 16 Abstimmungen, der SP bei neun. In Abbildung 5.2.3.6
wird deutlich, dass der SVP diese Erfolge vor allem bei Nein-Parolen gelangen, der
SP bei Ja-Parolen. Zudem konnte die SVP hauptsächlich bei Fakultativen Referenden und Initiativen erfolgreich mobilisieren, die SP am stärksten bei Obligatorischen
Referenden. Die Mobilisierung gelang der SP dabei ausschließlich bei regierungskonformen Parolen, der SVP hingegen bei fünf oppositionellen Parolen. Hinzu
kommt, dass bei allen vier obligatorischen Referenden, bei denen über 90% der SP-
Anhänger entsprechend der Parole mit Ja stimmten auch die SVP die Ja-Parole bzw.
einmal Stimmfreigabe beschlossen hatte. Es handelte sich um völlig unumstrittene
Vorlagen. Die links-liberalen Wähler scheinen also eher den Regierungsvorlagen zu
folgen, als Alleingängen ihrer Partei. Das passt auch zu der schlechten Zustimmungsquote bei Ja-Parolen bei Initiativen.
Abbildung 5.2.3.6: Abstimmungen, bei denen die jeweiligen Parteianhänger von
SVP und SP der Abstimmungsparole zu über 90% folgten. Dargestellt nach
Abstimmungsinstrument. (eigene Berechnungen nach Vox-Analysen 1996-
2006).
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Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen der prozentualen Befolgung der
Parteiparole der eigenen Anhänger und dem tatsächlichen Abstimmungserfolg, der
auch aus den Abbildungen 5.2.3.2 und 5.2.3.3 hervorgeht. Bei der SVP besteht ein
Zusammenhang von rs=0,34, bei der SP ist rs=0,62. Beide sind auf dem 99%-
Niveau signifikant. Damit ist der Abstimmungserfolg der SP stärker durch das
Stimmverhalten der eigenen Anhänger erklärbar, als das der SVP. Die SVP hat somit ein größeres Potential an Stimmen außerhalb ihrer eigenen Klientel. Die SP ist
hingegen stärker darauf angewiesen, dass ihre eigenen Anhänger ihrer Parole zustimmen, um überhaupt einen Stimmerfolg erlangen zu können.
Das ist ein Hinweis, dass es tatsächlich mehr Stimmbürger gibt, die den rechtskonservativen Parteien folgen als den links-liberalen.
Viele Autoren argumentieren, dass es sich hierbei um die natürlich konservative
Mehrheit in der Schweiz handelt (vgl. Merz 2006). Auch ein Blick auf die Parteisympathien in Abbildung 5.2.2.1 zeigt, dass die SVP ein größeres Potential unter
den Anhängern der anderen Parteien hat. FDP- und CVP-Anhänger werden eher mit
der SVP stimmen als mit der SP. Die SP kann im Wesentlichen noch auf die Wähler
der Grünen zurückgreifen. Betrachtet man die durchschnittliche Anhängerschaft der
beiden Lager in den in der Abbildung dargestellten zehn Befragungen, hat das rotgrüne Lager durchschnittlich 19,8% Unterstützung, das rechts-konservative Lager
24,4%. Der Anteil, der keiner Partei nahe steht, übertrifft beide Werte jedoch deutlich. Durchschnittlich fühlen sich 50% der Stimmberechtigten keiner Partei nahe.
Insgesamt basiert die Argumentation, dass konservative Parteien aufgrund ihrer
natürlichen Mehrheit in der Schweiz erfolgreicher aus Abstimmungen hervorgehen
würden, auf der Annahme, dass direkte Demokratie somit die gleichen Ergebnisse
hervorbringe wie Wahlen. Dass würde direkte Demokratie jedoch per se überflüssig
machen, da dann auch die gewählten Repräsentanten die Entscheidungen treffen
könnten.
Die Befürworter der direkten Demokratie betonen oft gerade den deliberativen
Diskurs, der losgelöst von parteipolitischen Einfärbungen geführt wird und dadurch
zu stärker an der Sache orientierten Lösungen führe (Wagschal 2007, S. 303).
Begründet man den größeren Abstimmungserfolg der SVP, die in Wahlen noch
dazu gleich viele Stimmen auf sich vereinen kann wie die SP, mit einer natürlichen
konservativen Mehrheit in der Schweiz, fällt dieser positive Aspekt der direkten
Demokratie weg.
5.3 Fazit der empirischen Befunde
Unsere empirischen Untersuchungen stützen alle drei Nebenthesen. Hinweise, die
eine der Thesen widerlegen würden, haben wir nicht gefunden. Die verschiedenen
Thesen können allerdings unterschiedlich stark belegt werden.
Als eindeutig gültig können wir Nebenthese N1 ansehen. In den einzelnen Policy-
Bereichen hat sich bereits gezeigt, dass Linke die Initiative häufiger nutzen als das
rechts-konsverative Lager. Hinzu kommt nun, dass die linken Parteien und Gruppie-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.