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Masse der Bevölkerung ist bei weitem nicht so mobil wie die Elite und kennt daher
nur die unmittelbare Lebensumgebung. Sie wünscht sich, dass sich das Leben im
eigenen Land so angenehm wie möglich gestaltet. Allgemeine Vorteile, die aus einer
Internationalisierung erwachsen könnten, werden nicht so hoch bewertet wie die
Angst, dass sich das eigene Leben verschlechtert. Man beobachtet erstmal, wie es
die anderen machen, ohne sich aktuellem Anpassungsdruck zu unterwerfen (ebd.).
Auch Fijalkowski führt die Innovationsfeindlichkeit der direkten Demokratie auf
die unterschiedlichen politischen Grundhaltungen von Volk und Elite zurück: „(…)
weil das Volk konservativer ist als die Eliten, sich durch Beurteilungszumutungen
seitens der Innovations- und Korrekturagenten überfordert sieht und daher lieber
beim Gewohnten bleibt“ (Fijalkowski 2002, S. 317).
4.2.2 Die rechenschaftspflichtige Elite
Zu dem grundsätzlichen Unterschied der politischen Einstellungen von Elite und
Volk kommt ein systematischer Unterschied in der Entscheidungslogik hinzu. Im
Gegensatz zu Parlamentsentscheidungen, in denen sich die Politiker für eine Position entscheiden und diese ihren Wählern erklären müssen, sind Volksabstimmungen
anonym. Es gilt das Wahl- und Stimmgeheimnis und jeder Stimmbürger kann frei
und ohne Rechtfertigungsdruck seinen Entscheid in die Urne werfen. Sachabstimmungen begünstigen die „Hervorkehrung des jeweils ‚schlechteren Ichs’ des Bürgers, weil sie ex ante wie ex post, von diskursiven Anforderungen und dem Zwang
zur argumentativen Rechtfertigung völlig entlastet sind“ (Offe 1998, S. 87). Müssten
sie sich vor ihren Mitbürgern erklären, würden sie sich womöglich im Sinne der
Allgemeinheit entscheiden, im Schutz der Anonymität ist ein individualistisch geprägter Entscheid wahrscheinlicher (Bolliger 2004, S. 45, Papadopolous 1998, S.
177).
Politiker stehen hingegen unter dem Druck der Wiederwahl. Um im Amt zu bleiben, müssen sie möglichst populäre Entscheidungen treffen und sich auch menschlich und sympathisch präsentieren. Eigennützige Entscheidungen können sie sich in
der Regel nicht erlauben. Dabei muss es nicht um Entscheidungen gehen, in denen
sich der Stimmbürger in einer bestimmten Art für die Allgemeinheit opfern muss.
Ein Unterschied ist bereits zu erwarten, wenn es darum geht, für etwas zu stimmen,
aus dem für einen selbst nicht unmittelbar ein Vorteil entsteht. Der anonyme
Stimmbürger ist in einem solchen Fall versucht dagegen zu stimmen, auch wenn für
einen anderen Teil der Gesellschaft ein Vorteil zu erwarten wäre, ohne dass ein unmittelbarer Nachteil für ihn persönlich entsteht. Für einen Politiker, der Entscheidungen im Sinne des gesamten Volkes zu treffen hat und sich für diese Entscheidungen rechtfertigen muss, ist ein solches Verhalten nicht ohne weiteres möglich.
Das Bild des Politikers, der sich der gesamten Gesellschaft verpflichtet fühlt, ist natürlich eine Idealvorstellung, die in der Praxis nicht die Regel ist. Es bleibt jedoch
immer der Unterschied der Rechenschaftspflicht im Gegensatz zum Stimmbürger.
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Ebenso steht der Politiker unter einem Problemlösungsdruck. Gibt es Aufgaben
für die Politik, die gelöst werden müssen, stehen gewählte Volksvertreter in der
Pflicht, diese Aufgaben anzugehen und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Der
Stimmbürger kann jede Neuerung, auch wenn sie noch so notwendig ist, ohne eine
Sanktionsgefahr ablehnen.
Dieser Unterschied in der Entscheidungslogik müsste erwartungsgemäß vor allem
in den Bereichen der Sozial- oder der Minderheitenpolitik zum Tragen kommen.
Dort ist eine große Diskrepanz zu erwarten, wenn man entweder nach der eigenen
Situation entscheidet oder im Sinne der gesamten Gesellschaft. Sozialsysteme kommen oft nur einer bestimmten Einkommens-, Berufs- oder Altersgruppe zugute.
Minderheitenpolitik wird dem Namen nach nur für kleine Gesellschaftssegmente
oder Randgruppen gemacht. Es ist zu erwarten, dass diese beiden, traditionell linken
Themen in Volksabstimmungen systematisch benachteiligt sind, im Vergleich zu
rein repräsentativen Systemen.
4.3 Fangen die Institutionen Proteste ab, bevor sie Veränderungen bewirken können?
Ein letzter Aspekt zur Begründung der Hauptthese ist die Vermutung, dass die Linke
durch die Nutzung direktdemokratischer Instrumente geschwächt wird. Protestkraft
wird in institutionelle Bahnen umgeleitet, in denen sie oft hängen bleibt. Statt gesellschaftlichen Druck auf die Politik durch Demonstrationen, Streiks oder andere Proteste auszuüben, wird häufig eine Initiative ergriffen. Da Initiativen jedoch eine geringe Erfolgsquote haben, ist der Druck auf die Politik kleiner, als bei Protesten jenseits der institutionellen Wege. „Volksinitiativen [sind] zwar relativ offen für neue
Probleme, aber ungeeignet zum Ausdruck unmittelbaren Protests oder Widerstands“
(Linder 2005, S. 134). Oft bleiben Vorlagen jahrelang in der Warteschleife und haben bis zur Abstimmung massiv an Aktualität eingebüßt. So verlieren die Anliegen
von Initiatoren an Schubkraft.
Dieser Aspekt ist in der Schweiz allerdings schwer von den Effekten der Konkordanz zu trennen, die durch Einbindung der SP ins Regierungsgeschäft die Protestfähigkeit der Sozialdemokratischen Partei geschwächt hat. In der Schweiz ist die Konkordanz zwar auf die direkte Demokratie zurückzuführen (Neidhart 1970), allerdings ist sie in anderen Staaten mit direkter Demokratie, wie dem US-Bundesstaat
Kalifornien, nicht eingetreten, weshalb es nicht eindeutig als unmittelbarer Effekt
der direktdemokratischen Mittel betrachtet werden kann. Deshalb wird dieses Argument hier der Vollständigkeit halber aufgeführt, im Weiteren aber nicht weiter
untersucht.
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References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.