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Gerade bei dieser Frage ist ein gewisser Bias zugunsten der Informiertheit zu erwarten, da die Abgeordneten, die sich besser mit direkter Demokratie auskennen,
sich häufiger an dieser Studie beteiligt haben werden als schlecht Informierte.
Festzuhalten ist, dass einem Großteil der Abgeordneten bekannt ist, dass die südlichen Nachbarn in der Schweiz über direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten verfügen. Wie genau sie über deren Praxis informiert sind, bleibt offen.
3.3 Nationalräte und direkte Demokratie
Der Nationalrat ist mit 200 Abgeordneten deutlich kleiner als der Bundestag. Es sind
eine Fraktion mehr, also insgesamt sechs, und knapp dreimal so viele Parteien (15)
darin vertreten. Die Schweiz gehört damit zu den Ländern mit der stärksten Fragmentierung im Parlament (Linder 2005, S. 83).
Diese vielen Parteien mit jeweils geringer Abgeordnetenzahl erschweren die
Auswertung unserer Umfrage nach Fraktionen. Um die Fallzahl jeder Fraktion hoch
genug zu halten, werden sie bei der Auswertung daher teilweise zusammengefasst.
Dabei wird nach der Links-Rechts-Positionierung der Abgeordneten im Parlamentarier-Rating 2005 von Hermann und Jeitziner vorgegangen (NZZ, 25.11.2005).
Demnach werden die EDU-Abgeordneten zusammen mit der SVP ausgewertet,
da sie mit einem Durchschnittswert von 5,6 auf einer Links-Rechts-Skala von -10
bis +10 der Schweizerischen Volkspartei am nächsten stehen. Im Parlament ist sie
zwar in einer Fraktionsgemeinschaft mit der EVP, dies jedoch weniger aus ideologischer Nähe, als aus purem Sachzwang, um gemeinsam Fraktionsstärke zu erreichen.
Auf der Links-Rechts-Skala steht die EVP hingegen als Christliche-Mitte-Partei der
CVP sehr viel näher (vgl. Linder 2005, S.89) und wird daher gemeinsam mit ihr
ausgewertet. Ein Abgeordneter der Partei der Arbeit hat ebenfalls an der Umfrage
teilgenommen. Er steht mit einem Wert von +10 extrem weit links und wird im Folgenden zu den Abgeordneten der SP gezählt. Ideologisch stehen die Grünen zwar
weiter links als die SP, sie haben ihren Schwerpunkt jedoch stärker auf Umweltthemen als die Partei der Arbeit, weshalb diese trotzdem zu der ebenfalls sehr weit
links stehenden SP dazugezählt wird.
Problematisch bleibt die geringe Fallzahl der Grünen (3), die zwar ihrem Anteil im
Parlament entspricht, aber statistisch kaum verwertbar ist. Die Angabe des Wertes
ist daher stets nur als Tendenz zu verstehen.
3.3.1 Wer ist für direkte Demokratie?
Auch bei den Nationalräten interessiert uns zunächst, wie die direkte Demokratie
bewertet wird. Wie in Abschnitt 3.1.2 dargelegt, wird dabei eine andere Skala als bei
den Bundestagsabgeordneten zugrunde gelegt. Diesmal geht die Bewertung von –5
bis +5, mit der Mitte 0 dazwischen.
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Abbildung 3.3.1: Durchschnittliche Beurteilung direkter Demokratie nach Fraktionen auf einer Skala von -5 bis +5, sowie Spearman Korrelationskoeffizient
Insgesamt bewerten die Nationalräte die direkte Demokratie in der Schweiz mit
dem Wert 2. Das liegt über dem Nullpunkt und ist mit der 6 vergleichbar, die die
Bundestagsabgeordneten der direkten Demokratie auf der 10er Skala gaben.
Betrachtet man die Bewertung nach Fraktionen ergibt sich jedoch ein anderes
Bild als in Deutschland. Nicht die linke Seite des Parteienspektrums bewertet die
direkte Demokratie am positivsten, sondern die rechte Seite. Die rechts-konservative
SVP bewertet die direkte Demokratie mit 3,9 im Durchschnitt am besten von allen
Fraktionen. Die weiter links stehende SP bewertet sie mit durchschnittlich 1,3 deutlich schlechter, die Liberalen liegen mit dem Durchschnittswert 1,1 noch darunter.
Pearsons Korrelationskoeffizient ist mit -0,488 im Vergleich zur Bundesrepublik
vergleichbar stark und ebenfalls signifikant auf dem 0,01-Level. Auffällig ist jedoch
das entgegengesetzte Vorzeichen, bei gleicher Anordnung der Parteien von rechts
nach links. Die Position der linken Parteien verhält sich somit gegenteilig zur Bundesrepublik: je weiter links eine Partei steht, desto weniger stark ist sie für direkte
Demokratie. Die konservativen Mitte-Parteien in der Schweiz lassen sich dagegen
nur schwer einordnen. Die Christdemokraten CVP und EVP bewerten die direkte
Demokratie mit einem Wert von 0,6 am schlechtesten, das ist ähnlich wie in der
Bundesrepublik. Die rechten Parteien SVP und EDU bewerten sie mit Abstand am
besten, vergleichbare rechts-populistische Parteien gibt es im Bundestag jedoch
nicht.
3.3.2 In welche politische Richtung wirkt direkte Demokratie?
Bei der Frage, ob die Ergebnisse direktdemokratischer Abstimmungen in der
Schweiz eher mit ihrer Meinung übereinstimmen oder ihr widersprechen, sind die
Schweizer Abgeordneten entschiedener als ihre deutschen Kollegen. 66% haben den
Partei Durchschnitt N
SVP (+EDU) 3,9 17
FDP 1,1 12
CVP (+EVP) 0,6 7
GRÜNE 2 3
SP (+PdA) 1,3 11
TOTAL 2,1 50
Spearman’s rho -0,488** 50
**Correlation is significant at the 0,01 level (2-tailed)
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.