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Nach der Schweiz werden in einigen US-Bundesstaaten, allen voran Kalifornien
und Oregon, die meisten Volksabstimmungen durchgeführt (Schiller 2002, S.112
ff). In Europa sind neben der Schweiz Italien, Irland und Dänemark am aktivsten im
Abhalten von Volksentscheiden, allerdings mit deutlichem Abstand zur Eidgenossenschaft (Batt 2006, S. 13).
1.3 Volksabstimmungen in der Schweiz
Im wesentlichen werden in dieser Arbeit die Abstimmungen in der Schweiz untersucht, die mit Abstand die meisten Volksentscheide auf der Welt aufweist (Schiller
2002, S. 99). Kriesi hat sie deshalb auch schon als “real-life laboratory for the analysis of direct-democratic choice” (Kriesi 2005, S. 2) bezeichnet. Nirgendwo sonst
sind Volksrechte so stark ausgebaut, werden so stark genutzt und gut dokumentiert
wie in der Eidgenossenschaft.
In diesem Abschnitt werden kurz die in der Schweiz vorhandenen Instrumente
und ihre bisherige Nutzung vorgestellt, um einen aktuellen Überblick als Grundlage
für die weiteren Analysen zu gewährleisten.
Die direkte Demokratie in der Schweiz besteht auf der Bundesebene aus drei Instrumenten: dem obligatorischen Verfassungsreferendum, dem fakultativen Referendum sowie der Volksinitiative. Abbildung 1.3.1 liefert einen Überblick über ihre
bisherige Anwendung.
Als erstes direktes Volksrecht wurde das obligatorische Verfassungsreferendum
eingeführt. Seit 1848 muss jede Verfassungsänderung der Schweiz dem Volk zur
Abstimmung vorgelegt werden. Zur Bestätigung werden dabei eine Mehrheit des
Volkes sowie das Ständemehr, also die Zustimmung der Mehrheit der Kantone, benötigt. Besonders seit den sechziger Jahren kam es auffällig häufig zu obligatorischen Referenden da in der Schweiz aufgrund des stark ausgebauten Föderalismus
jede neue Bundesaufgabe einer Verfassungsänderung bedarf. Mit der Entwicklung
des Interventions- und Leistungsstaats wurden die Bundesaufgaben erweitert und
das Volk hatte stets das letzte Wort (Linder 2005, S. 249). Insgesamt wurde bisher
über 207 Verfassungsänderungen abgestimmt, 54-mal wurde keine Mehrheit für die
Änderung erreicht.
Das fakultative Gesetzesreferendum wurde 1874 eingeführt. Es verschafft dem
Volk die Möglichkeit, über beschlossene Gesetze abzustimmen, sofern innerhalb
von 100 Tagen 50.000 Unterschriften gesammelt werden. Bisher kam es 162-mal
zur Abstimmung, davon wurden 89 Gesetze angenommen und 73 verworfen. Ist also
ein Referendum erstmal erfolgreich eingeleitet, ist die Erfolgschance aus Sicht der
Gesetzesgegner mit fast 50% sehr hoch. Insgesamt wird diese Möglichkeit in ca. 7%
der Fälle genutzt, es werden also ca. 3,5% aller Gesetzesvorlagen vom Volk verworfen (Schiller 2002, S.103).
Als drittes Instrument der direkten Mitbestimmung in der Schweiz gibt es seit
1891 die Volksinitiative. Mit ihr haben die Schweizer Bürger die Möglichkeit, konkrete Änderungen für die Verfassung zur Abstimmung zu stellen. Dafür müssen in-
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nerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften gesammelt werden. Insgesamt
standen bisher 165 Initiativen zur Abstimmung, von denen 15 angenommen wurden.
Die direkte Erfolgsquote ist mit weniger als 10% eher gering. Da es keine Gesetzesinitiative gibt, landen auf diesem Weg auch kuriose Artikel in der Verfassung, wie
etwa der Schutz der Fuß- und Wanderwege als Bundesaufgabe, der 1979 in einem
Gegenvorschlag zu einer Initiative angenommen wurde.
In der Schweiz ist es dem Parlament gestattet, einen Gegenvorschlag zu Initiativen vorzulegen, über den gemeinsam mit der Initiative abgestimmt wird. Solche
Gegenvorschläge sind 15-mal vorgekommen, sechs davon wurden angenommen.
Abbildung 1.3.1 Überblick über Volksabstimmungen in der Schweiz (Bundesamt
für Statistik Schweiz, www.statistik.admin.ch, Juni 2008)
Der Erfolg von Gegenvorschlägen ist meist dennoch ein Erfolg für die Initiatoren,
weil er in der Regel in die gleiche Richtung wie die Initiative geht, nur weniger radikal. Dieses Recht des Parlaments ist keinesfalls selbstverständlich. In Kalifornien
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ist es dem Parlament nicht gestattet, Gegenvorschläge auszuarbeiten oder überhaupt
eine Stimmempfehlung abzugeben.
Alle drei Instrumente auf Bundesebene kamen etwa gleich häufig zur Anwendung, das obligatorische Verfassungsreferendum mit 206 Abstimmungen etwas häufiger als die anderen beiden. Gleichzeitig weist es auch die größte Annahmequote
durch das Volk auf. Dies liegt vor allem daran, dass es sich um ein Obligatorium
handelt, dass auch bei unstrittigen Vorlagen oder rein technischen Verfassungsänderungen automatisch zum Zug kommt. Das fakultative Referendum beinhaltet aus
Parlamentssicht ein sehr viel größeres Risiko, wie in der oben genannten Erfolgsquote von ca. 50% deutlich wird. Die Initiative weist für das Parlament das geringste
Gefahrenpotential auf, weniger als jede zehnte Vorlage wird vom Volk angenommen. Die indirekte Wirkung der Initiative ist jedoch um einiges größer, da das Parlament zum Teil vorauseilenden Gehorsam übt und Teilforderungen bereits vor der
Abstimmung umsetzt. Bei nur knapper Ablehnung wird es teils auch im Nachhinein
gesetzgeberisch tätig, wie etwa nach der Armeeabschaffungsinitiative 1989, die
zwar klar abgelehnt wurde, der Ja-Anteil von 35,6 jedoch unerwartet hoch war. Linder schätzt die Zahl der Initiativen, die eine solch indirekte Wirkung aufweisen und
in die Gesetzgebung einfließen, auf rund ein Drittel (Linder 2005, S. 265).
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References
Zusammenfassung
Die seit den 90er Jahren intensiver werdende Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente in der Bundesrepublik schlägt sich auch in einer steigenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema nieder. Unbeachtet blieb bisher jedoch die Diskrepanz zwischen der deutschen Debatte und der direktdemokratischen Praxis. Die Diskussion in der Bundesrepublik wird vor allem von den linken Parteien geschürt, die Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz und anderen Staaten lassen hingegen eher eine rechts-konservative Wirkung vermuten.
In der vorliegenden Untersuchung werden erstmals Umfragen unter Bundestagsabgeordneten und Schweizer Nationalräten vorgelegt, die aufzeigen, dass es sich um typisch deutsche Konfliktlinien handelt. In der Schweiz stehen die politisch linken Parteien der direkten Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als die rechten. In einer empirischen Analyse der Schweizer Volksabstimmungen der letzten 20 Jahre bestätigt sich, dass die bisherigen Erfahrungen mit direkter Demokratie eher auf eine rechts-konservative Wirkung von Volksentscheiden schließen lassen – ein Widerspruch zur Haltung der deutschen Parteien.
Neben diesem innovativen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bietet das Werk einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Wirkung von Volksrechten.