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Gesamtergebnis
Die Arbeit zeigt die strukturellen Merkmale von Unternehmensgruppen auf,
beschreibt die Art der in § 6 I EBRG vorausgesetzten Abhängigkeitsbeziehung und
ermittelt, welche Beherrschungsmittel zur Ausfüllung des Abhängigkeits- und
Gruppenbegriffs geeignet sind.
Der Begriff der Unternehmensgruppe ist als Begriff des supranationalen Rechts
eigenständig und in einer europäischen Sichtweise auszulegen. Das ermöglicht eine
Loslösung vom Konzernbegriff des deutschen Rechts sowie von der für die
Auslegung des Abhängigkeitsbegriffs des § 17 AktG verfestigten Beschränkung auf
gesellschaftsrechtlich vermittelte Einflussgrundlagen.
Zunächst wurden die Regelbeispiele des § 6 II EBRG untersucht. Aufgrund ihrer
gesetzlichen Vermutungswirkung stellen sie Mindestanforderungen an taugliche
Beherrschungsmittel im Sinne des § 6 EBRG auf. Sie vermitteln eine indirekte
Einflussnahmemöglichkeit und basieren auf einer Änderung der Personalstruktur in
den Organen bzw. der Beteiligungsstruktur. Die indirekte Einflussnahme bedarf eines Druckmittels, zum Beispiel das in Aussicht stellen persönlicher Nachteile für
das Organmitglied, und wirkt daher faktisch, im Gegensatz zu einer direkten
Einflussnahmemöglichkeit, die auf rechtlicher bzw. rechtlich durchsetzbarer Grundlage wirkt. Die Untersuchung der Intensität und Wirkungsweise der Regelbeispiele
des § 6 II EBRG ergab: Für Beherrschungsgrundlagen im Sinne des § 6 EBRG ist es
erforderlich, aber ausreichend, dass sie eine indirekte Einflussnahmemöglichkeit
gewähren und die Einflussnahmemöglichkeit auf einer strukturellen Änderung innerhalb des abhängigen Unternehmens basiert.
Insbesondere vertragliche Einflussgrundlagen werden nicht durch die Regelbeispiele § 6 II EBRG erfaßt, haben aber dennoch im Wirtschaftsleben einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf dem Austausch von Gütern basiert, eine sehr große
Bedeutung. Unternehmerisches Handeln benötigt flexible Konzepte. Die Anbindung
eines Unternehmens über eine (Mehrheits-)Beteiligung erscheint aufwändig und
kostenintensiv, zumal über eine Mehrheitsbeteiligung nur eine indirekte Einflussnahmemöglichkeit erreicht werden kann.
Daher haben sich in den letzten Jahren insbesondere vertragliche Zusammenarbeitsformen entwickelt, die weitaus praktischer und flexibler erscheinen, da sie dem
Vertragspartner eine punktuelle Nutzung einzelner Aspekte der Unternehmenstätigkeit des anderen Vertragspartners ermöglichen. Die Vorteile liegen in der leichteren
Auflösbarkeit dieser Verbindungen und in der Gewährung von Einflussnahmemöglichkeiten im Hinblick auf einzelne unternehmerische Entscheidungsbereiche.
Um solche Zusammenarbeitsformen erfassen zu können, wurde hier ein strukturell
organisationsrechtlicher Ansatz gewählt.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass beispielsweise die hier als Verträge mit Organisationswirkung typisierten Verträge eine direkte Einflussnahme auf unterneh-
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menswesentliche Entscheidungen, wie z.B. bei den Just-in-Time-Zulieferverträgen
die Bereiche Produktion/Produktionsorganisation, Absatz, Investitionen, Forschung
und Entwicklung betreffend, ermöglichen. Das ist ein Mehr zur indirekten Einflussnahmemöglichkeit auf der Grundlage der Regelbeispiele, da die direkte Einflussnahmemöglichkeit auf der Basis von Verträgen rechtlich durchsetzbar ist. Das liegt
darin begründet, dass die Einflussnahme und die Verlagerung der Entscheidungszuständigkeiten bei den Verträgen mit Organisationswirkung in vertragliche Pflichten
gekleidet ist, wie zum Beispiel die Verpflichtung des Automobilzulieferers zu Investitionen in Produktionsanlagen für ein speziell zu fertigendes Teil. Das versetzt das
herrschende Unternehmen, den Vertragspartner, in die Lage, diese Pflichten und
damit seine Beeinflussungsmöglichkeit rechtlich, zum Beispiel über vertragliche
Schadensersatzansprüche, durchsetzen zu können. Sie ist damit weniger störanfällig
gegenüber dem Versagen des eingesetzten Druckmittels und verschafft dem Einfluss
ausübenden Unternehmen eine wesentlich stärkere Position. Verträge mit Organisationswirkung ändern zudem die Organisations- und Entscheidungsstruktur im abhängigen Unternehmen und verschieben die Entscheidungsebene zugunsten des
herrschenden Unternehmens. Bei den Just-in-Time-Zulieferverträgen betrifft dies
zum Beispiel unternehmerische Entscheidungen in den Bereichen Produktion/Produktionsorga-nisation, Investitionen, Forschung, Entwicklung sowie Absatz
und hat daher unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitnehmer. Insbesondere bei
Entscheidungen über die Änderung der Produktionsorganisation, Verlegung von Betrieben oder Betriebsteilen kann es, wenn der Hersteller in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, zu einem Versagen der nach nationalem Recht gewährten Mitbestimmungsrechte kommen. Dies zu vermeiden, ist Ziel von EBR-Richtlinie und
EBRG. Der bisher aus dem deutschen Aktienkonzernrecht bekannte Begriff der gesellschaftsrechtlich vermittelten Abhängigkeit bildet solche Beherrschungsbeziehungen, die einem Gesellschaftsexternen, dem Vertragspartner, eine direkte Einflussnahme ermöglichen, nicht oder nur unzureichend ab. Da diese Beherrschungsbeziehungen zu einer Verlagerung der Zuständigkeiten und Umorganisation des internen Entscheidungsfindungsprozesses führen, sind sie in den Abhängigkeitsbegriff
der Unternehmensgruppe nach EBR-Richtlinie und EBRG miteinzubeziehen.
Grundlage der Konfiguration des Abhängigkeitsbegriffs der Unternehmensgruppe
soll ein charakteristisches Merkmal sein, welches beiden Arten der Strukturveränderung (Veränderung der Organisations- und Entscheidungsstruktur auf vertraglicher
Grundlage sowie Änderung in der Personalstruktur aufgrund von Stimmrechts- oder
Bestellungsrechtsmehrheit) inhärent ist: die Veränderung im Entscheidungsprozess,
sei es auf der Grundlage des Austausches von Organmitgliedern oder aus der vertraglichen Verschiebung von Entscheidungszuständigkeiten.
Gesetzgebungstechnisch ist für den Bereich der EBR-Richtlinie und des EBRG
eine materielle Begriffsdefinition in Form von Generalklausel und Regelbeispielen
gewählt worden. Dies schafft die Grundlage für eine funktionale Begriffsauslegung
über die beide Arten gleichermaßen miteinbezogen werden können. Im Hinblick auf
Beherrschungsbeziehungen, die einem Vertragpartner, eine direkte Einflussnahme
ermöglichen, sowie satzungs- oder vertragsbasierte Zustimmungserfordernisse
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oder Vetorechte, Schaffung von Gremien, die eine Kontrolle bzw. Mitherrschaft
ermöglichen sowie kombinierte Formen der Beherrschung konnte in der Arbeit ein
eigenständiger Anwendungsbereich für die Generalklausel § 6 I EBRG sichtbar gemacht werden. Taugliche und damit unternehmensgruppenrelevante Beherrschungsmittel im Sinne des § 6 I EBRG sind daher solche, die auf einer strukturellen
Veränderung im abhängigen Unternehmen in Form der Veränderung der Organisations- und Entscheidungsstrukturen oder – zumindest – der Personal- und Beteiligungsstruktur basieren (Beherrschungsmittel mit Organisationswirkung). Die in der
Arbeit beschriebenen strukturellen Merkmale machen für den Anwendungsbereich
von EBR-Richtlinie und EBRG die gemeinschaftsweit tätige Unternehmensgruppe
sichtbar und erfassbar, die Anknüpfungspunkt für die Pflichten aus EBR-Richtlinie
und EBRG ist.
Darüber hinaus können die hier für das Mitbestimmungsrecht entwickelten Erkenntnisse auch in anderen Bereichen des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen nutzbar gemacht werden. Die Entwicklung in den letzten Jahren zeigte, dass den Unternehmen oftmals eine Partizipation an einzelnen Aspekten der unternehmerischen Tätigkeit eines anderen Unternehmens genügt, welche dann in die
eigene Unternehmenstätigkeit eingepasst wird. Um diese Einzelbereiche der Tätigkeit des anderen Unternehmens optimal nutzen zu können, wird eine Einflussnahme
in den zu nutzenden Bereichen angestrebt. Hierfür erscheint eine vertragliche Anbindung des Unternehmens flexibler als eine Mehrheitsbeteiligung, da zum Beispiel
durch die Formulierung spezieller vertraglicher Pflichten im Gegensatz zur Mehrheitsbeteiligung eine direkte Einflussnahmemöglichkeit geschaffen werden kann.
Das ist ein Grund, weshalb die Unternehmensgruppe als Form der Anbindung von
Unternehmen präferiert wird. Diese partiellen Eingriffe in die Entscheidungsautonomie einer Gesellschaft kennzeichnen Abhängigkeitswirkungen. Diese lassen sich
über das allgemeine Privatrecht regelungstechnisch nur unzureichend einfangen. Sie
sind vielmehr organisationsrechtlich zu lösen, denn für ihre – möglichst lückenlose –
Erfassung als Voraussetzung für eine rechtliche Regelung, erscheint ein strukturell
organisationsrechtlicher Ansatz zielführender. Auf der begrifflichen Ebene sollte
hierfür eine materielle Begriffsdefinition vorgesehen werden, die eine Begriffsauslegung in einem funktionalen Sinne zulässt.
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References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.