241
gung zur Einbeziehung in den Abhängigkeitsbegriff des § 6 I EBRG besteht. Je stärker der Hersteller den Zulieferer in seine Planungen, seine eigene unternehmerische
Tätigkeit und ggf. seine Produktionsorganisation integriert, desto wahrscheinlicher
ist eine Einflussnahme auf unternehmenswesentliche Entscheidungen beim Lieferanten. Der Integrationsgrad bildet hierbei den Systematisierungsansatz.
Methodisch soll wie folgt vorgegangen werden: Zunächst sollen die vertragstypischen Merkmale der Zulieferverträge analysiert und mit Blick auf den Integrationsgrad klassifiziert werden. Hierfür muss ein Abgrenzungskriterium gefunden werden,
welches kennzeichnend für die jeweilige Art der Zulieferbeziehung ist. Die Ausgestaltung der Zulieferbeziehung hängt entscheidend von der Spezifität und Komplexität des Zulieferteils ab. Das Interesse des Herstellers an einer Anbindung des Lieferanten ist umso größer, je spezifischer und komplexer das Zulieferteil ist und je
mehr die vom Zulieferer verlangten Leistungen über den Güteraustausch hinausgehen. Anhand der für die Zulieferteile gebildeten Fallgruppen können die spezifischen Vertragsmerkmale herausgearbeitet werden. Daran können dann die verschiedenen Grade der Integration bestimmt werden. Zugleich soll die Art der Abhängigkeit, die die einzelnen Zulieferbeziehungen vermitteln, skizziert und klassifiziert
werden.
G. Differenzierung und Fallgruppenbildung
Hier sollen nun bestimmte Typen von Zulieferverträgen, die verschiedene Grade der
Integration des Zulieferers in die unternehmensübergreifende Organisation des Herstellers widerspiegeln, abgegrenzt und Fallgruppen gebildet werden.
Für eine Fallgruppenbildung anhand des Integrationsgrades muss ein Abgrenzungskriterium gefunden werden, welches kennzeichnend für die jeweilige Art der
Zulieferbeziehung ist. Von entscheidender Bedeutung für die Ausgestaltung der Zulieferbeziehung sind Komplexität und Spezifität der vom Zulieferer zu erbringenden
Leistung. Je komplexer und abnehmerspezifischer das Zulieferteil (Komponenten,
Baugruppen), desto größer das Interesse an einer Anbindung des Zulieferers. Für die
folgende Fallgruppenbildung im Hinblick auf die Spezifität der Zulieferteile werden
rechtstatsächliche Kategorien gebildet, die zunächst nur der Untersuchung der Vertragselemente dienen. Auf die normative Ebene, die Einbeziehungsfähigkeit und
Einbeziehungsnotwendigkeit bestimmter Ausprägungen der Just-in-Time-Lieferverträge in den Abhängigkeitsbegriff des § 6 I EBRG wird in den nachfolgenden Abschnitten708 einzugehen sein.
Die Zulieferteile lassen sich klassifizieren in:
708 Näher in Abschnitt I. und J.
242
Gruppe I: Massenteile Das sind solche ohne spezifisches Produkt- und Fertigungs-
Know-how.709 Sie weisen keine abnehmerspezifischen Merkmale auf und sind daher
auch für andere Abnehmer verwendbar.710
Gruppe II: Auftragsserienprodukte werden nach exakten Vorgaben des Herstellers
in Serien gefertigt. Beispiele hierfür sind Schmiede- und Gussteile, Dichtungen,
Gummi- und Kunststoffteile.711 Das sind Einzelprodukte mit abnehmerspezifischen
bzw. typenbezogene Merkmalen. Bei großvolumigen Teilen kann eine Just-in-Time-
Belieferung in Betracht kommen. Die Kompetenz des Zulieferers, meist kleine und
mittelständische Unternehmen, beschränkt sich auf den Fertigungsbereich.712 713
Gruppe III: Komponenten (Module) sind abnehmerspezifische komplexe Baugruppen, die wiederum aus Einzelteilen und anderen Komponenten bestehen. Beispiele
hierfür sind Kühlsysteme, Lichtmaschinen, ABS, Vergaser.714 Der Zulieferer übernimmt die Detailentwicklung, Erprobung, Prüfung, Fertigung, Montage und einbaufertige Anlieferung der Komponenten.715 Er verfügt, im Gegensatz zum Lieferanten
von Masseteilen und Auftragsprodukten, über das entsprechende Produktions-,
Montage- und Logistik-Know-how; die Teile werden meistens mit der Marke des
Zulieferers gekennzeichnet.716 Werden Einzelteile von Sublieferanten gefertigt, geschieht das in Regie des Komponentenzulieferers. Hinsichtlich der Komponenten ist
er praktisch immer Direktzulieferer des Herstellers.717
Gruppe IV: Systeme Der Systemlieferant liefert ebenfalls komplexe Baugruppen mit
abnehmerspezifischen Eigenschaften; im Unterschied zum Komponentenzulieferer
bietet er ganzheitliche Lösungen an. Er übernimmt zusätzlich zu den Leistungen des
Komponentenzulieferers autonom auch die komplette Entwicklungsleistung am
Produkt.718 Ob eine Anlieferung Just-in-Time erfolgt, hängt von der Größe und dem
Wert des Zulieferteils ab.719 Bei großvolumigen Teilen findet die Anlieferung fast
immer sequenzgenau und kurz vor deren Einbau statt.
709 Nagel, DB 1989, 1505, 1506.
710 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 71.
711 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 72.
712 Ebenda.
713 Die Kommission sieht in diesem Typus den Prototyp des Zuliefervertrages; das ist zweifellos zu eng. Vgl. Kommission, Praktischer Leitfaden zu den rechtlichen Aspekten des industriellen Zulieferwesens in der Europäischen Gemeinschaft, www.europa.eu.int/comm;
COM (89) 402 endg. S. 2; Kritik von: Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 72 f.; Schütz,
WuW 1989, 111, 118.
714 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 73, Fn. 139.
715 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 73.
716 Ebenda.
717 Ebenda.; Nagel/Riess/Theis, DB 1989, S. 1505, 1506.
718 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 73 m.w.N.
719 Ebenda. S. 73f.
243
Entsprechend der Verschiedenartigkeit der Zulieferteile haben sich unterschiedliche
Vertragsgestaltungen bei den Zulieferverträgen herausgebildet. Anhand der soeben
erfolgten Typisierung der Zulieferteile kann nun eine Klassifizierung der zugehörigen Vertragsgestaltungen vorgenommen werden.
Die speziellen Kennzeichen der einzelnen Vertragstypen sind:
Gruppe I (Massenteile): Aufgrund Fehlens spezifischer Produkteigenschaften, ist
der Zulieferer fast beliebig austauschbar; die Transaktionskosten sind gering. Die
Leistungserbringung erfolgt punktuell; dieser Vertragstyp hat stark austauschvertraglichen Charakter.
Gruppe II (Auftragsserienprodukte): Aufgrund der abnehmerspezifischen Produkte
erfolgt bereits eine gewisse Ausrichtung des Zulieferers auf einen bestimmten Abnehmer. Ein Ausweichen auf andere Abnehmer ist jedoch noch möglich, da die Betriebsmittel auf andere (typenbezogene) Merkmale umgestellt werden können.
Gruppe III (Komponenten): Im Vergleich zum Lieferanten von Auftragsprodukten
übernimmt der Zulieferer zusätzliche Aufgaben, wie die Entwicklung und Erprobung der Komponenten. Hierdurch erwirbt er ein entsprechendes Know-how für
diese Komponenten, aber die Entwicklung und Produktion dieser Module, die in ihren Eigenschaften typenbezogen und auf die abnehmerspezifischen Bedürfnisse zugeschnitten sind, erfordern jedoch besondere Investitionen (Entwicklungskosten,
Kosten der Einrichtung der Betriebsmittel auf diese speziellen Teile), die speziell
zum Zwecke der Erfüllung dieses Vertrages getätigt werden müssen. Nach Vertragsbeendigung sind sie in dieser Form für den Lieferanten nicht mehr nutzbar. Daher hat der Zulieferer ein Interesse an längerfristigen Verträgen mit einer Laufzeit, in
der sich die getätigten Investitionen amortisieren können. Durch die speziellen Detailentwicklungen des Lieferanten ist er für den Hersteller mittelfristig nicht austauschbar.720 Um hinsichtlich des Konkurrenzdrucks kostenbezogen und hinsichtlich
spezieller Kundenwünsche flexibel zu bleiben, verlangt der Hersteller die Aufnahme
besonderer Vertragsanpassungsklauseln in den Vertrag. Diese ermöglichen eine
Weitergabe von Rationalisierungsdruck; nimmt der Wettbewerbsdruck zu, müssen
die Produktionskosten gesenkt werden.721 Da aber die Fertigung des Gesamtwerks
(Automobil) unternehmensübergreifend organisiert ist (Produktion von Teilen und
Komponenten durch das Zulieferernetzwerk, (End-)Montage durch den Hersteller),
besteht ein faktischer Zwang auch die Produktion der Bauteile zu rationalisieren,
und das unternehmensübergreifend. Dafür werden Vertragsanpassungsklauseln eingefügt, mittels derer der Hersteller den Zulieferer zu Rationalisierungsmaßnahmen
drängen kann. Das muss nicht ausdrücklich geschehen, sondern der Rationalisie-
720 Nagel/Riess/Theis, DB 1989, S. 1505, 1506.
721 Auf einem polypolistischen Markt wie dem Automobilmarkt ist der Preis in der Regel das
Hauptmittel zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen.
244
rungsdruck kann viel subtiler weitergegeben werden. Beispielsweise kann der Hersteller über besondere vertragliche Informationspflichten oder auch EDV-Vernetzung, insbesondere im Zusammenhang mit einer vereinbarten Just-in-Time-Anlieferung, Einblick in die Preiskalkulation des Lieferanten erhalten. Dann besteht die
Gefahr, dass der Hersteller die Fertigung und Abgabe der Komponenten zu einem
bestimmten Preis unter dem bisherigen Preis unter Hinweis auf mögliche Kosteneinsparungen durch Rationalisierungsmaßnahmen verlangt. Dann wird der Preis nicht
mehr durch den Markt bestimmt. Der Marktmechanismus, der bei reinen Austauschverträgen das Nachfrage-Preis-Verhältnis im relativen Gleichgewicht hält, funktioniert nicht mehr richtig. Die Produktentwicklung und -erprobung durch den Lieferanten verlagert das Entwicklungskostenrisiko auf ihn. Der mit Entwicklung und Erprobung verbundene Investitionsaufwand ist erheblich, gelegentlich bis zu 10 %
des Umsatzes;722 aber nur gut die Hälfte ist technisch erfolgreich, nur gut ein Drittel
wird am Markt eingeführt und ca. 10 % sind tatsächlich wirtschaftlich erfolgreich.723
Zudem ist die Konkurrenz im Forschungsbereich sehr groß und daher manche Entwicklung schnell überholt oder gar umsonst, wenn sich der Hersteller für einen anderen Zulieferer entscheidet.724 Sicherheit kann eine Forschungskooperation mit
dem Hersteller bieten,725 das setzt allerdings voraus, dass der Zulieferer eine starke
Stellung am Markt hat, etwa als Technologieführer oder durch seine Stellung als
Großunternehmen.726 Andernfalls kann er nur auf einen längerfristigen Vertrag hoffen, in dessen Laufzeit sich die Entwicklungskosten amortisieren können. Eine andere Gefahr besteht darin, dass der Abnehmer nach Vertragsbeendigung das vom Zulieferer entwickelte Know-how al s seine Entwicklung ausgibt (Know-how-
Veruntreuung). Eine andere Form der Risikoverlagerung ist die Übertragung der
Qualitätssicherung auf den Zulieferer. Wird vertraglich eine sequenzgenaue Anlieferung (Just-in-Time-Belieferung) vereinbart, hat der Hersteller, insbesondere bei Lieferung von Komponenten und Baugruppen, nicht mehr die Möglichkeit, die gelieferten Teile auf Fehler zu überprüfen.727 Bei Lieferung fehlerhafter Teile kann der Hersteller den Lieferanten mit Schadensersatz- und Regressansprüchen überziehen; somit trägt er das Risiko des Übersehens eines Fehlers. Die Vereinbarung einer Justin-Time-Belieferung erfordert für die sequenzgenaue Anlieferung eine EDV-
Vernetzung, die kostenintensiv ist und dem Hersteller ggf. Einblicke in die Produktionsorganisation und Preiskalkulation der Lieferanten ermöglicht.
Gruppe IV (Systeme): Der Systemlieferant unterscheidet sich vom Komponentenzulieferer dadurch, dass er sich am Markt technologisch profiliert hat. Dann könnte es
für den Hersteller interessant sein, im Wege eines „simultaneous engineering“ mit
722 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 68.
723 Ebenda. m.w.N.
724 Ebenda. S. 68f.
725 Ebenda.
726 Z.B. Siemens, BASF, Bayer, Mannesmann, Thyssen.
727 Mit Übertragung der Qualitätskontrolle auf den Zulieferer entledigt sich der Hersteller seiner Untersuchungs- und Rügepflicht nach § 377 HGB.
245
dem Technologieführer unter den Zulieferern zusammen zu arbeiten.728 Während bei
den vorgenannten Vertragstypen der Zulieferer erst nach herstellerinterner Konstruktionsplanung aufgrund seines Angebotes ausgewählt wird,729 wird der Lieferant
beim simultaneous engineering bereits in der Planungs- und Konzeptphase einbezogen. Die frühzeitige Einbeziehung des Lieferanten und die simultane Gestaltung von
Produktentwicklung und Entwicklung der Produktionsmittel und Produktionsabläufe
bringen eine Verkürzung der Entwicklungszeiten und damit einen entscheidenden
Wettbewerbsvorteil.730 Diese frühzeitige enge kooperative Zusammenarbeit schafft
entsprechend hohe Austrittsbarrieren für beide Seiten.731 Das eröffnet dem Zulieferer Autonomiefreiräume und die Chance als gleichberechtigter Partner anerkannt zu
werden.732 Hier ist partiell eine Zusammenarbeit im Hinblick auf das Ziel, den
Markterfolg des Gesamtprodukts, zu erkennen. In dieser Zusammenarbeitsform
kann man am ehesten ein Hinarbeiten auf ein gemeinsames Ziel, den Markterfolg
des Gesamtprodukts, annehmen. Meist gelingt es nur Groß- und Konzernunternehmen wegen der besseren Finanzausstattung sich als Technologieführer zu etablieren.
Projiziert man die unterschiedlichen Arten von Zulieferverträgen in das Kontinuum Austauschvertrag – Dauerschuldverhältnis – relationale Verträge – symbiotische Verträge – hierarchische Organisation,733 lassen sich die Vertragstypen der
Gruppe III und IV als symbiotische Verträge qualifizieren. Kennzeichnend hierfür
sind die Investition vertragsspezifischen Kapitals, Vertragsanpassungsklauseln sowie die Einbindung des Zulieferers in die unternehmensübergreifende Organisation
des Herstellers. Die Vertragstypen der Gruppen I und II haben eher austauschvertraglichen Charakter; der Vertragstyp der Gruppe II weist zudem Dauerschuldcharakter auf.
H. Vertragsmerkmale, Integrationsgrad und Art der Abhängigkeit
Die vorstehende Untersuchung hat Folgendes gezeigt: Die Art des Zulieferteils determiniert die Vertragsgestaltung. Je komplexer das Zulieferteil (Komponenten,
Baugruppen) und je mehr abnehmerspezifische Eigenschaften es haben soll, desto
größer das Interesse an einer Anbindung des Zulieferers. Die einzelnen Vertragsgestaltungen sind so gewählt, dass sie eine unterschiedlich starke Einbindung – Integra-
728 Zum Begriff des simultaneous engineering, Lange, Das Recht der Netzwerke, S. 54 f.; s. a.
Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 50, 73.
729 Lange, Das Recht der Netzwerke, S. 55.
730 Ebenda.
731 Wellenhofer-Klein, Zulieferverträge, S. 73.
732 Ebenda.
733 Zur Klassifikation siehe auch: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 521f.; zu symbiotischen Verträgen speziell: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 523 ff.; Teubner, KritV 1993, S. 367; Schanze, JITE
(149) 1993, S. 691.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.