27
Teil 1: Prämissen
Kapitel 1: Vorgaben der EBR-Richtlinie
A. Kennzeichen der Unternehmensgruppe
In der deutschen Fassung der EBR-Richtlinie wird die Unternehmensgruppe als aus
herrschenden und abhängigen Unternehmen bestehend beschrieben (Art. 2 I b)
EBR-Richtlinie). Die englische Fassung der Richtlinie verwendet hingegen die Begriffe „controlling undertaking“ - „kontrollierendes“ Unternehmen und „controlled
undertaking“ - „kontrolliertes“ Unternehmen.25 Diese Begriffe basieren auf dem
Control-Konzept, welches bereits in einige Richtlinien der Gemeinschaft Eingang
gefunden hat, beispielsweise in die Richtlinie über den konsolidierenden Abschluss
(Richtlinie 83/349/EWG)26 und nicht zuletzt in die EBR-Richtlinie (Richtlinie
94/45/EG).27 Das Gesetz über Europäische Betriebsräte (im Folgenden: EBRG),28
dem Umsetzungsgesetz zur EBR-Richtlinie, verwendet zur Beschreibung des Begriffs der Unternehmensgruppe das Begriffspaar „herrschende“ und „abhängige“
Unternehmen. Hiernach liegt eine Unternehmensgruppe vor, wenn ein Unternehmen
(herrschendes Unternehmen) in Bezug auf ein anderes Unternehmen (abhängiges
Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben
kann. Die gesetzliche Definition fokussiert damit auf Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Unternehmen. Diese sind das Band, das sie zu einer
Gruppe verbindet. Somit ist ein schlichtes Abhängigkeitsverhältnis Anknüpfungspunkt von Rechten und Pflichten nach EBR-Richtlinie und EBRG. Die Unterstellung der Unternehmen unter eine einheitliche Leitung, wie sie Normen erfordern,
die an den Konzerntatbestand anknüpfen, ist hier nicht notwendig. Durch die Anknüpfung an schlichte Abhängigkeitsverhältnisse soll den Gefahren, die aus einer
Abhängigkeit erwachsen (Nutzbarmachung für und Durchsetzung des Konzerninteresses, Interessenkonflikt), begegnet werden.
Um festzustellen, ob ein Unternehmen von einem anderen abhängig ist, wird
nicht die Gruppe in ihrer Gesamtheit betrachtet, sondern es muss eine relationale
Betrachtung der zwei an der Herrschafts- bzw. Abhängigkeitsbeziehung beteiligten
Unternehmen erfolgen.29 Die in § 6 II EBRG vorgegebenen Beherrschungsmittel
stellen darauf ab, ob das herrschende Unternehmen das Recht hat, die Organmitglie-
25 Die englische Fassung von Art. 2 I b) EBR-Richtlinie lautet: „group of undertakings“
means a controlling undertaking and its controlled undertakings“.
26 7. Gesellschaftsrechtliche Richtlinie vom 13.06.1983, ABl. EG L 193, S. 1
27 Vom 22.09.1994, ABl. EG L 254, S. 64.
28 Vom 28.10.1996, BGBl. I S. 1548, ber. S. 2022.
29 Zur Mehrfachabhängigkeit siehe Kapitel 4 C und 6.
28
der der abhängigen Gesellschaft zu bestellen oder aufgrund einer Stimmrechts- oder
einer Kapitalmehrheit die Möglichkeit hat, das Willensbildungs- bzw. Leitungsorgan
der abhängigen Gesellschaft zu beeinflussen. Die Beurteilung des Vorliegens einer
Einflussnahmemöglichkeit erfolgt dabei aus dem Blickwinkel des abhängigen Unternehmens: aus der Sicht des abhängigen Unternehmens wird entschieden, ob dem
herrschenden Unternehmen ein Einwirken auf die geschäftspolitischen Entscheidungen im abhängigen Unternehmen möglich ist.
B. Der transnationale Unternehmensbezug des EBRG
I. Gemeinschaftsweite Tätigkeit der Unternehmensgruppe
Um das Merkmal der gemeinschaftsweiten Tätigkeit der Unternehmensgruppe (Art.
2 I c) EBR-Richtlinie,30 §§ 2 I, 3 II EBRG) zu erfüllen, muss die Gruppe mit Unternehmen in mindestens zwei Mitgliedstaaten vertreten sein. Daraus ergibt sich eine
Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten. Das EBRG gilt für Unternehmensgruppen
mit Sitz des herrschenden Unternehmens im Inland (§ 2 I EBRG). Für Gruppen mit
Sitz des herrschenden Unternehmens in einem anderen EU-Mitgliedstaat, bestimmt
sich die Eigenschaft, ein herrschendes Unternehmen zu sein, nach dem Umsetzungsgesetz des Mitgliedstaates in dem es seinen Sitz hat. Hat das Unternehmen
seinen Sitz in keinem EU-Mitgliedstaat, so ist, wenn das herrschende Unternehmen
hinsichtlich der Verpflichtungen aus einem Umsetzungsgesetz zur EBR-Richtlinie
einen Vertreter in einem gruppenzugehörigen Unternehmen mit Sitz im EU-Inland
bestellt hat, das Recht dieses Mitgliedstaates anzuwenden. In Ermangelung eines
benannten Vertreters, ist das Unternehmen der Gruppe verantwortlich, welches in
einem Mitgliedstaat ansässig ist und die höchste Anzahl von Arbeitnehmern aufweist (sog. nachgeordnete Leitung, Art. 3 VI S. 2 EBR-Richtlinie; § 2 II EBRG). In
diesen Fällen erstreckt sich die Verpflichtung zur Unterrichtung und Anhörung der
Arbeitnehmervertreter auf alle Unternehmen bzw. Betriebe, die ihren Sitz in einem
Mitgliedstaat haben. Die Verpflichtung kann im Vereinbarungswege auch auf au-
ßerhalb der EU-Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen ausgedehnt werden, § 1 II
EBRG; Erwägungsgrund 15 sowie arg. a. Art. 6 II lit. a) EBR-Richtlinie.31
30 Richtlinie 94/45/EG vom 22. September 1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen
(ABl. EG Nr. L 254 S. 64).
31 Vgl. EuGH: Rs C-440/00 Kühne & Nagel, zu finden unter: www.curia.eu.int, hier hatte das
herrschende Unternehmen seinen Sitz in der Schweiz. Einen Vertreter innerhalb der EU-
Mitgliedstaaten hatte das herrschende Unternehmen nicht benannt. Das in der Bundesrepublik Deutschland ansässige Unternehmen der Gruppe, wies die höchste Arbeitnehmerzahl
auf und wurde von der deutschen Arbeitnehmervertretung auf Erteilung der zur EBR-
Errichtung erforderlichen Auskünfte verklagt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Europaweit agierende Unternehmen bevorzugen zunehmend Formen der Einflussnahme auf andere Gesellschaften, die sich nicht mehr nur über die Kategorien Austauschvertrag und Konzern erfassen lassen. Um diese einer rechtlichen Regelung zuführen zu können, müssen sie strukturell erfasst und einem Rechtsbegriff zugeordnet werden.
Ausgehend von dem in der EBR-Richtlinie verwendeten Begriff der Unternehmensgruppe werden in dieser Studie vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen untersucht. Über die bisher vom deutschen Konzernrecht betrachteten gesellschaftsrechtlich vermittelten Beherrschungsgrundlagen hinausgehend, gelingt die strukturelle Erfassung von organisationsvertraglichen Einflussnahmeformen. Die entwickelten Strukturelemente von Unternehmensgruppen sind auch für andere Bereiche des europäischen Rechts der Unternehmensverbindungen von größtem Interesse.