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daher ein untaugliches Mittel zur Schließung der festgestellten Regelungslücke, die
ja gerade hinsichtlich einseitiger Maßnahmen nicht marktbeherrschender
Unternehmen besteht.
VI. Lückenfüllung durch strengeres nationales Kartellrecht hinsichtlich einseitiger
Maßnahmen im Vertikalverhältnis
Bei der Untersuchung des Problems, ob diese Regelungslücke durch Anwendung
nationalen Kartellrechts auf einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen geschlossen
werden kann, rückt zunächst das Verhältnis des reformierten europäischen zum nationalen Kartellrecht ins Blickfeld. Dieses Verhältnis stellt sich wie folgt dar:
Die Zwischenstaatlichkeitsklausel nimmt die Funktion wahr, den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftskartellrechts von demjenigen des nationalen
Rechts abzugrenzen. Sie schließt jedoch in ihrem Geltungsbereich die parallele Anwendung mitgliedsstaatlichen Rechts nicht aus.
Für die Lösung von Konfliktfällen zwischen europäischem und nationalem Kartellrecht stellt der allgemeine Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts den
Ausgangspunkt dar. Aus ihm folgt, dass in Fällen, in denen das Gemeinschaftskartellrecht verbietet, was das nationale Kartellrecht zulässt, sich Ersteres gegenüber
Letzterem durchsetzt. Darüber hinaus ist nunmehr Art. 3 VO 1/2003 für das Verhältnis des Gemeinschaftskartellrechts zum innerstaatlichen Recht maßgeblich. Art. 3
VO 1/2003 vollzieht nicht lediglich nach, was sich ohnehin bereits aus Art. 81 EG
ergibt, sondern konkretisiert dessen Tragweite. Hinsichtlich des Verhältnisses von
Gemeinschaftskartellrecht zu nationalem Recht ist dies ohne Verstoß gegen die
Normenhierarchie zulässig.
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 statuiert einen weiten Vorrang des Art. 81 I EG vor dem
nationalen Kartellrecht; die Vorrangwirkung bezieht sich nicht lediglich auf das Tatbestandsmerkmal Wettbewerbsbeschränkung, sondern auf den gesamten Tatbestand
des Art. 81 I EG. Selbst wenn das Kartellverbot des Art. 81 I EG nicht durchgreift,
weil keiner der Koordinierungstatbestände, sondern vielmehr eine einseitige Maßnahme vorliegt, darf somit gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 die Verhaltensweise
nicht nach § 1 GWB verboten werden.
Des Weiteren führt Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 zu einer Ergebniskorrektur bei der
Anwendung des § 1 GWB in Konfliktfällen, so dass sich bei abweichenden Ergebnissen letztendlich immer Art. 81 I EG durchsetzt. Diese „faktische Verdrängungswirkung“ des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 besteht auch bei gesicherter Entscheidungspraxis hinsichtlich § 1 GWB und gleichzeitig nicht vorhandener Leitentscheidungen
hinsichtlich Art. 81 I EG.
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 wird durch § 22 II S. 1 GWB speziell für das deutsche
Kartellrecht bestätigt. Die Streichung des § 23 GWB-E im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zur 7. GWB-Novelle hat indessen zur Konsequenz, dass keine darüber
noch hinausgehende Anpassung des GWB an das Gemeinschaftskartellrecht erfolgt
ist.
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Aus dem weiten Vorrang des Art. 81 I EG vor dem nationalen Kartellrecht gemäß
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003, § 22 II S. 1 GWB folgt, dass die Regelungslücke für einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen
im Gemeinschaftskartellrecht nicht durch Zugrundelegung eines weiter gehenden
Verständnisses der Koordinierungstatbestände Vereinbarung und aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen bei der Anwendung des § 1 GWB ausgefüllt werden
kann.
Auch im Rahmen des Art. 3 II VO 1/2003 ist nach den in dieser Untersuchung ermittelten Grundsätzen zwischen einseitigen Handlungen und Koordinierungstatbeständen abzugrenzen. Der Terminus „einseitige Handlungen“ im Sinne des Art. 3 II
S. 2 VO 1/2003 meint dabei nicht lediglich Marktmachtmissbräuche, sondern umfasst vielmehr auch einseitige Maßnahmen von Unternehmen, die weder über eine
marktbeherrschende noch über eine marktstarke Stellung verfügen.
Bei einseitigem Handeln wird das nationale Kartellrecht nicht durch das
Gemeinschaftskartellrecht faktisch verdrängt, sondern es besteht gemäß Art. 3 II
S. 2 VO 1/2003 ein Regelungsfreiraum für strengere nationale Vorschriften.
Aus den Erkenntnissen zu Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 aber folgt, dass die nationalen
Vorschriften, welche die Behandlung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen
zum Gegenstand haben, weiterhin eigenständig auf ebensolche Maßnahmen
anwendbar sind. In Deutschland sind dies die Normen des Zweiten Abschnitts des
Ersten Teils des GWB, mithin §§ 19-21. Die Anwendung dieser Vorschriften auf
einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis ermöglicht deren
strengere Ahndung als nach Gemeinschaftskartellrecht. Besondere Bedeutung
kommt hierbei der Vorschrift des § 20 I, II S. 1 GWB zu.
Sowohl einseitige Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen zur Verhinderung von Paralleleinfuhren als auch solche zur Verhinderung von
Parallelausfuhren verstoßen, wenn der einseitige Maßnahmen treffende Hersteller
bzw. Lieferant über relative Marktmacht im Sinne des § 20 II S. 1 GWB verfügt,
regelmäßig gegen § 20 I, II S. 1 GWB. Relative Marktmacht des Herstellers oder
Lieferanten ist häufig zu bejahen, da die Vertriebshändler von diesem vielfach sortimentsbedingt oder unternehmensbedingt abhängig sind. Die einseitigen Maßnahmen
stellen regelmäßig auch eine Behinderung gemäß § 20 I 1. Alt. GWB und/oder eine
unterschiedliche Behandlung gemäß § 20 I 2. Alt. GWB dar.
Einseitige Maßnahmen zur Unterbindung von Parallelimporten sind zudem in der
Regel als unbillig bzw. sachlich ungerechtfertigt gemäß § 20 I GWB zu qualifizieren; dies ergibt sich insbesondere aus dem Schutzerfordernis der Freiheit des Wettbewerbs als Institution, dem zentrale Bedeutung bei der Interessenabwägung im
Rahmen des § 20 I, II S. 1 GWB zuzukommen hat.
Bei dieser Interessenabwägung ist auch das in den Art. 3 I lit. c, 14 EG niedergelegte Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes zu berücksichtigen. Aus der
Heranziehung dieses Ziels, aber auch aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt,
dass auch einseitiges Handeln zur Verhinderung von Parallelausfuhren in andere
EU-Mitgliedsstaaten regelmäßig unbillig bzw. sachlich ungerechtfertigt im Sinne
des § 20 I GWB ist.
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VII. Abschließende Stellungnahme
Da einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis, insbesondere
zur Verhinderung von Parallelhandel, somit mittels §§ 19-21 GWB strenger geahndet werden können als nach Gemeinschaftskartellrecht, lässt sich die auf europäischer Ebene bestehende planmäßige Regelungslücke hinsichtlich einseitiger Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen füllen. Diese Regelungslücke ist
daher, was Wirkungen in Deutschland angeht, unbedenklich. Das wettbewerbspolitische Bedürfnis, derartige einseitige Maßnahmen kartellrechtlich zu ahnden, kann
durch Anwendung strengeren nationalen Kartellrechts gestillt werden. Sogar eine
noch strengere Ahndung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen als gemäß
§§ 19-21 GWB wäre möglich; für den nationalen Gesetzgeber bestünde beispielsweise der Freiraum, ein Empfehlungsverbot, wie es früher § 22 GWB enthielt, zu
normieren.
Dagegen besteht kein Bedürfnis, Schutzlücken durch eine weite Auslegung des
Art. 81 I EG zu schließen. Auch aus diesem Grunde ist eine erweiternde Auslegung
der Koordinierungstatbestände Vereinbarung und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gemäß Art. 81 I EG folglich abzulehnen.
Des Weiteren bedarf es auch keiner Änderung des EG-Primärrechts, um
einseitige Maßnahmen im Anwendungsbereich zwischen Art. 81 EG und Art. 82 EG
zu unterbinden. Die dort bestehende planmäßige Regelungslücke ist vielmehr
hinzunehmen und zu respektieren.
Es obliegt also dem nationalen Gesetzgeber jedes EU-Mitgliedsstaates, den
Schutz des freien Wettbewerbs gegen einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen
nicht marktbeherrschender Unternehmen sicherzustellen. Dieser Schutz des freien
Wettbewerbs im Binnenmarkt dient nicht nur den Unternehmen; vielmehr kommt er
auch den Bürgern eines geeinten Europas heute und in Zukunft letztlich zugute.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.