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ökonomischeren Ansatz ist nicht die Festlegung auf ein bestimmtes Leitbild verbunden. Der ökonomischere Ansatz stellt auch nicht selbst ein eigenständiges
wettbewerbstheoretisches Modell dar.
II. Die Abgrenzung einseitiger Maßnahmen von Vertikalvereinbarungen
Die herkömmliche weite Auslegung des Koordinierungstatbestandes Vereinbarung,
die Kommission und EuGH im Zusammenhang mit auf den ersten Blick einseitigen
Maßnahmen vornehmen, muss sich an rechtsgemeinschaftlichen Grundsätzen messen lassen. Denn Kommission und EuGH sind bei der Anwendung des Art. 81 I EG
an das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie in kartellrechtlichen Bußgeldverfahren, aufgrund der strafrechtsähnlichen Rechtsnatur der Geldbußen, zusätzlich auch
an das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot gebunden. Die Gemeinschaftsorgane
verstoßen jedoch gegen das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz
der Rechtssicherheit als dessen Unterprinzip, wenn sie den Koordinierungstatbestand Vereinbarung – wie beispielsweise im Fall Sandoz PF1179 – derartig weit
auslegen, dass das Schweigen der einen Partei zur wettbewerbswidrigen Maßnahme
der Gegenpartei und ihre bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als Zustimmung gedeutet wird.
Gerade in dem durch Art. 1 II VO 1/2003 neu eingeführten System der
Legalausnahme ist aber eine strenge Beachtung des gemeinschaftlichen
Rechtsprinzips und der aus diesem folgenden Unterausprägungen, wie etwa dem
Grundsatz der Rechtssicherheit, zu fordern. Denn der Übergang zum System der
Legalausnahme hat für die betroffenen Unternehmen grundsätzlich zu weniger
Rechtssicherheit geführt; dies darf indes nicht zu ihren Lasten gehen. Daher ist das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip im Sinne der Vertragsmäßigkeit des Handelns der
Gemeinschaftsorgane stets zu beachten; dem Grundsatz der Rechtssicherheit muss
bei einer Abwägung mit Gesichtspunkten wie Effizienz oder Leistungsfähigkeit der
Verwaltung regelmäßig der Vorrang eingeräumt werden.
In einem Bußgeldverfahren ist eine Auslegung, die Schweigen und die bloße
Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als konkludente Zustimmung zu einer
Vereinbarung wertet, zusätzlich zum dann ebenfalls vorliegenden Verstoß gegen das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot zu werten.
Daraus folgt, dass bei Schweigen und bloßer Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen durch eine Partei nach wettbewerbswidrigen Maßnahmen der Gegenpartei keine
Vertikalvereinbarung zustande kommt; es liegen vielmehr lediglich einseitige Maßnahmen, die nicht unter Art. 81 I EG fallen, vor.
1179 Kommission, Entscheidung vom 13.07.1987, Sandoz PF, Abl. L 222 v. 10.08.1987, 28;
EuGH v. 11.01.1990, Sandoz PF, Rs. 277/87, Slg. 1990, I-45.
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Dieses Ergebnis lässt sich im Regelfall auch nicht durch Heranziehung eines Handelsbrauchs korrigieren, demzufolge Schweigen als Zustimmung zu einem einseitig
begangenen Wettbewerbsverstoß zu werten wäre. Ein derartiger internationaler
Handelsbrauch wäre der lex mercatoria und nicht dem Gemeinschaftsprivatrecht zuzuordnen. Mittels Heranziehung eines solchen internationalen Handelsbrauchs lässt sich jedoch im Regelfall Schweigen nicht als Zustimmung zu einer
Vereinbarung im Sinne von Art. 81 I EG qualifizieren; die Geltungsvoraussetzungen
internationaler Handelsbräuche sind regelmäßig nicht erfüllt. Hinsichtlich eines
etwaigen nationalen Handelsbrauchs wurde für das deutsche Recht ebenfalls dargelegt, dass Schweigen nicht zu einer Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG führt. Die
Kommissionsentscheidung Konica1180, in der die Kommission Schweigen auf ein
wettbewerbswidriges Rundschreiben aufgrund eines angeblichen Handelsbrauchs als
Zustimmung wertete, überzeugt daher insoweit nicht.
Zu einer Vertikalvereinbarung kommt es lediglich bei Bestehen eines Geschäftsverbindungsbrauchs, demzufolge zwischen den Partnern einer laufenden Geschäftsverbindung Schweigen auf ein Rundschreiben selbst dann als Zustimmung zu werten ist, wenn dieses wettbewerbswidrige Maßnahmen enthält.
Trifft eine Partei einer laufenden Geschäftsverbindung wettbewerbswidrige Maßnahmen, so ist zudem vom Rechtsanwender zu prüfen, ob zwischen den Parteien
hinsichtlich dieser Maßnahmen ein Dissens vorliegt. Der Dissens hat mithin eine
spezifisch kartellrechtliche Bedeutung. Bei Vorliegen eines derartigen kartellrechtlichen Dissenses hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen Maßnahme, die von einer
der beiden Parteien getroffen wurde, ist diese Maßnahme als einseitig zu
qualifizieren. Eine Vereinbarung im Sinne des Art. 81 I EG kommt zwischen den
Parteien in diesem Fall somit nicht zustande.
Ein Konsens hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen Maßnahme der einen Partei des
Vertikalverhältnisses kann durch ausdrückliche oder konkludente Zustimmung der
Gegenpartei hergestellt werden. Ein Fall der (antizipierten) ausdrücklichen Zustimmung liegt vor, wenn sich die wettbewerbswidrige Maßnahme auf eine im
Rahmenvertrag oder Vertriebsvertrag niedergelegte Konkretisierungsbefugnis
stützen lässt, die dem sich wettbewerbswidrig verhaltenden Unternehmen
eingeräumt ist. Eine allgemein gehaltene, für sich betrachtet wettbewerbskonforme
Konkretisierungsbefugnis im Vertriebsvertrag ermächtigt indessen nicht zu späteren
wettbewerbswidrigen Maßnahmen. Diese sind in derartigen Fällen daher als
einseitig zu qualifizieren und nicht als Vereinbarung im Sinne des Art. 81 I EG. In
diesem Zusammenhang erscheint die Auslegung des Koordinierungstatbestandes
Vereinbarung, die der EuGH in den Fällen Ford1181 und BMW/ALD1182 vornahm, als
1180 Kommission, Entscheidung v. 18.12.1987, Konica, Abl. L 78 v. 23.03.1988, 34.
1181 EuGH v. 17.09.1985, Ford/Kommission, Rs. 25 u. 26/84, Slg. 1985, 2725.
1182 EuGH v. 24.10.1995, BMW/ALD, Rs. C-70/93, Slg. 1995, I-3439.
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zu weitgehend; das von den Gemeinschaftsgerichten im Fall VW II1183 gefundene
Ergebnis dagegen überzeugt.
Voraussetzung für das Zustandekommen einer Vereinbarung mittels konkludenter
Zustimmung ist, dass die wettbewerbswidrige Maßnahme der einen Partei die zumindest implizite Aufforderung oder den inzidenten Vorschlag an die andere Partei
beinhaltet, das wettbewerbswidrige Ziel gemeinsam zu verwirklichen. Diese enge,
am Kriterium der Willensübereinstimmung ausgerichtete Auslegung des Vereinbarungsmerkmals überzeugt und ist gegenüber einer stärker wirkungsorientierten
Auslegung, die den effet utile des Art. 81 I EG in den Mittelpunkt rückt, vorzugswürdig. Dies gilt, obwohl Art. 81 EG grundsätzlich im Lichte des Art. 3 I lit. g
sowie lit. c EG auszulegen ist und insofern zur Marktintegration beiträgt. Da eine
enge Auslegung des Vereinbarungsmerkmals den Vorzug verdient, ist der
Rechtsauffassung der Gemeinschaftsgerichte im Fall Bayer Adalat1184 zuzustimmen.
Die konkludente Zustimmung zu einer a priori einseitigen wettbewerbswidrigen
Maßnahme der einen Partei liegt in der nicht anders zu erklärenden
Verhaltensanpassung der Gegenpartei. In einem derartigen Fall ist die Verhaltensanpassung selbst dann als Zustimmung zu werten, wenn die scheinbar einseitige
Maßnahme den Interessen des sich anpassenden Unternehmens zuwiderläuft. Bei
Umgehungsverhalten der Gegenpartei kommt dagegen keine Vereinbarung zustande, vielmehr liegt eine einseitige Maßnahme vor.
Ein System von Kontrollen und Sanktionen eines Herstellers zur Durchsetzung
einseitiger Maßnahmen gegenüber den Vertriebshändlern kann zum Beweis
ebendieser Maßnahmen dienen. Es stellt jedoch keine Voraussetzung für das
Zustandekommen einer Vertikalvereinbarung dar.
All diese rechtlichen Kriterien sind bei der Abgrenzung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen vom Koordinierungstatbestand Vereinbarung gemäß Art. 81 I
EG im Vertikalverhältnis zu beachten.
III. Die Abgrenzung einseitiger Maßnahmen im Vertikalverhältnis von aufeinander
abgestimmten Verhaltensweisen
Unterfallen (scheinbar) einseitige Maßnahmen im Vertikalverhältnis nicht dem Vereinbarungsmerkmal des Art. 81 I EG, so stellt sich das Folgeproblem, ob sie mit
dem Koordinierungstatbestand der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen
gemäß Art. 81 I EG erfasst werden können. Hinsichtlich dieses Koordinierungstatbestandes gilt es zu beachten, dass für eine Abstimmung kein gemeinsamer, ausgearbeiteter Plan der beteiligten Unternehmen erforderlich ist. Eine Vertikalabstimmung
liegt auch nicht nur dann vor, wenn das Unternehmensverhalten das Risiko des Ein-
1183 EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-208/01, Slg. 2003, II-5141; EuGH v. 13.07.2006, VW II,
Rs. C-74/04 P, Slg. 2006, I-6585.
1184 EuG v. 26.10.2000, Bayer/Kommission, Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3383; EuGH v.
06.01.2004, BAI und Kommission/Bayer, Rs. C-2/01 P u. C-3/01 P, Slg. 2004, I-64.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.