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C. Lückenfüllung durch Anwendung der §§ 19-21 GWB auf einseitige
wettbewerbswidrige Maßnahmen
I. Fragestellung
Daraus, dass dem Gemeinschaftskartellrecht hinsichtlich einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen keine faktische Verdrängungswirkung zukommt, folgt, dass
die nationalen Vorschriften, welche die Behandlung eben dieser Maßnahmen zum
Gegenstand haben, weiterhin eigenständig auf einseitiges Handeln anwendbar sind.
In Deutschland sind dies die Normen des Zweiten Abschnitts des Ersten Teils des
GWB, mithin §§ 19-21.
Der Regelungsgehalt dieser Vorschriften bedarf keiner Nacherzählung; die sich in
diesem Bereich stellenden Rechtsprobleme wurden zudem bereits vielfach an
anderer Stelle vertieft erörtert1133. Im Hinblick auf die Ziele der vorliegenden
Untersuchung soll im Folgenden indes näher untersucht werden, inwieweit
einseitige Maßnahmen durch das deutsche Kartellrecht strenger bewertet werden
können als nach Gemeinschaftskartellrecht. Durch eine derartige strengere
Bewertung ließe sich das konstatierte wettbewerbspolitische Bedürfnis stillen,
einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis auch unterhalb der
Schwelle der Marktbeherrschung kartellrechtlich zu erfassen1134; die auf
europäischer Ebene bestehende Regelungslücke würde mithin geschlossen. Bei der
Erörterung dieser Fragestellung ist beispielhaft auf Fallkonstellationen einzugehen,
die für diese Untersuchung relevant sind. Hierbei wird freilich nicht der Versuch
unternommen werden, jede in dieser Arbeit erörterte Fallkonstellation nach
deutschem GWB zu lösen.
II. Strengere Ahndung einseitiger Maßnahmen durch deutsches als durch
europäisches Kartellrecht
1. § 19 GWB
Mittels § 19 GWB, dem Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, können in gewissen Konstellationen einseitige Maßnahmen strenger geahndet
werden als mittels der gemeinschaftskartellrechtlichen Parallelnorm des Art. 82 EG.
Dies ist etwa dann der Fall, wenn bei der Anwendung eine marktbeherrschende
Stellung des normadressierten Unternehmens angenommen wird, gleichzeitig aber
im Rahmen des Art. 82 EG die Schwelle der Marktbeherrschung noch nicht erreicht
ist. In einer derartigen Konstellation findet lediglich die Verbotsnorm des § 19
GWB, nicht aber Art. 82 EG Anwendung. Derartige Fallsituationen entstehen dadurch, dass im deutschen Recht eine marktbeherrschende Stellung bereits bei niedri-
1133 S. zuletzt etwa die Monographie von Taube, Diskriminierungs- und Behinderungsverbot.
1134 S. zu diesem wettbewerbspolitischen Bedürfnis o. 4. Kap. G. II.
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geren Marktanteilen bejaht wird als im Gemeinschaftskartellrecht. Gemäß § 19 III S.
1 GWB wird Marktbeherrschung eines Unternehmens bereits bei einem Marktanteil
von einem Drittel vermutet. Das Gemeinschaftskartellrecht kennt hingegen keine
derartige Vermutungsregel1135. Vielmehr liegt gemeinschaftskartellrechtlich selbst
bei Marktanteilen von über 40 % nicht ohne Weiteres eine marktbeherrschende
Stellung des betroffenen Unternehmens vor, sondern es sind weitere Faktoren wie
etwa die Stärke und die Zahl der Wettbewerber mit zu berücksichtigen1136.
Auch das Tatbestandsmerkmal „Missbrauch“ der marktbeherrschenden Stellung
kann im Einzelfall im Rahmen des § 19 GWB strenger ausgelegt werden als gemäß
Art. 82 EG1137.
In derartigen Konstellationen kann die gemeinschaftskartellrechtliche Regelungslücke folglich (auch) durch Heranziehung des § 19 GWB geschlossen werden.
§ 19 GWB setzt gleichwohl ebenso wie Art. 82 EG das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung des einseitige Maßnahmen ergreifenden Unternehmens voraus. In Fällen, in denen sowohl nach Gemeinschaftskartellrecht als auch nach deutschem GWB die Schwelle der Marktbeherrschung unterschritten wird, kann daher
die Regelungslücke, welche ja gerade für einseitige Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen besteht, nicht durch Anwendung des § 19 GWB geschlossen
werden.
2. § 21 I GWB
Eine gewisse, wenngleich praktisch recht begrenzte Bedeutung für die Lückenfüllung kommt dem Boykottverbot des § 21 I GWB zu. Denn die Norm setzt keinen
erhöhten Grad von Marktmacht beim Normadressaten, dem Boykottierer bzw.
Verrufer, voraus1138. Somit können Boykottaufrufe auch unterhalb der Schwelle der
Marktbeherrschung mittels § 21 I GWB geahndet werden.
Ein Beispiel hierfür stellt der Fall BMW/ALD dar, in welchem der EuGH in nicht
überzeugender Weise das Vorliegen einer Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG bejahte1139. Richtigerweise lagen im Verhältnis von BMW zu einigen seiner
1135 Rechtspolitische Kritik an § 19 III GWB äußert aus diesem Grunde Leo, in:
Gemeinschaftskommentar, § 19 Rn 1331 f.
1136 Vgl. nur EuGH v. 14.02.1978, United Brands/Kommission, Rs. 27/76, Slg. 1978, 207,
Rn 108/110, 129; Emmerich, Kartellrecht, § 9 Rn 27.
1137 Durch § 29 GWB n.F. wurde die Definition des Missbrauchs sektor- und produktspezifisch in
Bezug auf die Kontrolle von Energieversorgungsunternehmen konkretisiert und verschärft.
Diese Regelung wirft Probleme der Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten, insbesondere der
Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EG) auf; hierzu nunmehr ausführlich Müller-Graff, in: FS
Hirsch, 273 ff.
1138 Vgl. nur Markert, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, § 21 Rn 11;
Rittner/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 11 Rn 83. – Zum Regelungsfreiraum des
nationalen Gesetzgebers auch hinsichtlich einseitiger Maßnahmen weder
marktbeherrschender noch marktstarker Unternehmen s. bereits o. 6. Kap. B. V. 2. b).
1139 EuGH v. 24.10.1995, BMW/ALD, Rs. C-70/93, Slg. 1995, I-3439, Rn 16-18.
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Vertragshändler aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gemäß Art. 81 I EG, im
Verhältnis zu allen anderen Händlern hingegen einseitige Maßnahmen vor1140.
Das Verhalten von BMW lässt sich in diesem Fall jedoch durch das deutsche Kartellrecht erfassen, da es als Boykottaufruf gemäß § 21 I GWB zu werten ist1141. Ein
Bedürfnis, Art. 81 I EG erweiternd auszulegen und das Handeln von BMW als Vereinbarung zu qualifizieren, besteht folglich nicht.
3. § 20 I, II S. 1 GWB
Hervorgehobene Bedeutung für die Ahndung einseitiger Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen hat das Verbot unbilliger Behinderung sowie
Diskriminierung, das § 20 I, II GWB statuiert. Denn gemäß § 20 I, II S. 1 GWB wird
bekanntlich auch das Handeln nicht marktbeherrschender, sondern lediglich marktstarker Unternehmen von der Norm erfasst.
So ist etwa bei Vorliegen eines selektiven Vertriebssystems die einseitige Nichtzulassung eines Händlers durch den Hersteller, obwohl der Händler die Zulassungsvoraussetzungen des Systems erfüllt, als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
des § 20 I 2. Alt. GWB zu qualifizieren1142. Ein Beispiel für derartige einseitige
Diskriminierungen durch einen Hersteller stellt das Handeln von AEG-Telefunken
im bereits oben1143 ausführlich erörterten, gleichnamigen Fall dar.
Auf die lückenfüllende Funktion des § 20 I, II S. 1 GWB ist im Folgenden
vertieft einzugehen.
III. Insbesondere: Die Ahndung einseitiger Maßnahmen zur Unterbindung von
Parallelhandel mittels § 20 I, II S. 1 GWB
1. Vorbemerkung
Die kartellrechtliche Erfassung einseitiger Maßnahmen nicht marktbeherrschender
Unternehmen, mittels derer Paralleleinfuhren bzw. -ausfuhren verhindert werden
sollen, stellt einen wichtigen Aspekt der in der vorliegenden Arbeit untersuchten
Problematik dar. Denn wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, stellen sich die
erörterten Rechtsfragen häufig im Zusammenhang mit der rechtlichen Bewertung
von Beschränkungen des Parallelhandels durch Unternehmen. Es ist daher
1140 Näher hierzu o. 2. Kap. E. II. 2. a) und b).
1141 So im Fall BMW/ALD auch die Rechtsauffassung des OLG Frankfurt a. M., die der
Vorabentscheidung des EuGH vorausging; s. OLG Frankfurt v. 20.06.1991, 6 U (Kart) 50/90,
WRP 1991, 799, 800; vgl. dazu auch Grundmann/Eichert, ZIP 1995, 1965, 1965.
1142 Grdlg. BGH v. 16.12.1986, Belieferungsunwürdige Verkaufsstätten II, KZR 25/85, LM § 26
GWB Nr. 55 Bl. 4.
1143 S.o. 4. Kap. D. II., E. II., F. I. 5. sowie F. II. 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.