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im Gemeinschaftskartellrecht jedenfalls nicht mittels Anwendung des § 1 GWB
ausgefüllt werden kann.
V. Strengeres nationales Kartellrecht hinsichtlich einseitiger Maßnahmen
1. Fragestellung
In Betracht kommt eine Ausfüllung der konstatierten Regelungslücke durch Anwendung des Zweiten Abschnitts des Ersten Teils des GWB („Marktbeherrschung,
wettbewerbsbeschränkendes Verhalten“). Dann müsste das reformierte Gemeinschaftskartellrecht den mitgliedsstaatlichen Kartellrechten gemäß Art. 3 II S. 2
VO 1/2003 einen diesbezüglichen Regelungsfreiraum belassen.
Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 statuiert eine Ausnahme vom erweiterten Vorrang des
europäischen Kartellrechts. Demzufolge wird den Mitgliedsstaaten durch die
VO 1/2003 nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen
zu erlassen oder anzuwenden. Klärungsbedürftig ist jedoch die genaue Reichweite
dieses Ausnahmetatbestandes. Zur Lösung dieses Problems ist auf den Begriff „einseitige Handlungen“ im Sinne des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 näher einzugehen.
2. Der Begriff der einseitigen Handlungen in Art. 3 II S. 2 VO 1/2003
a) Einseitige Handlungen im Sinne des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 als gemeinschaftskartellrechtlicher Begriff
Der achte Erwägungsgrund der VO 1/2003 erläutert in Satz 4: „ Die Begriffe Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen sind autonome Konzepte des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft für die Erfassung eines koordinierten
Verhaltens von Unternehmen am Markt im Sinne der Auslegung dieser Begriffe
durch die Gerichte der Gemeinschaft.“ Dadurch wird zum einen die Bedeutung der
Gemeinschaftsjudikatur für die Auslegung der Koordinierungstatbestände des
Art. 81 I EG hervorgehoben. Zum anderen folgt daraus, dass auch der Terminus
„einseitige Handlungen“ in Art. 3 II S. 2 VO 1/2003, welcher den Gegenbegriff zu
den Koordinierungstatbeständen des Art. 81 I EG darstellt, gemeinschaftskartellrechtlich zu verstehen ist und sich nicht nach den nationalen Kartellrechten bestimmt.
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Auch aus Gründen der Rechtseinheit im Binnenmarkt ist es erforderlich, die Abgrenzung zwischen einseitigem und kollusivem Verhalten im Rahmen des Art. 3 II
VO 1/2003 nach Gemeinschaftskartellrecht vorzunehmen1114.
Die Reichweite des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 richtet sich damit maßgeblich
danach, ob ein Verhalten im Sinne des Gemeinschaftskartellrechts als einseitig oder
aber als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise gemäß Art. 81 I EG zu
qualifizieren ist1115. Somit ist auch im Rahmen des Art. 3 II VO 1/2003 nach den in
dieser Untersuchung bereits ermittelten Grundsätzen zwischen einseitigen
Maßnahmen und Koordinierungstatbeständen abzugrenzen.
b) Regelungsfreiraum auch für einseitige Handlungen weder marktbeherrschender
noch marktstarker Unternehmen?
Die Reichweite des Regelungsfreiraumes, den Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 den Mitgliedsstaaten eröffnet, richtet sich des Weiteren nach der Frage, ob mit „einseitigen
Handlungen“ im Sinne des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 ausschließlich Fälle von Marktmachtmissbrauch durch das jeweils handelnde Unternehmen erfasst werden. Denn
die Ausnahmeregelung des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 könnte sich lediglich auf einseitige Handlungen marktbeherrschender oder marktstarker Unternehmen beziehen.
Sie könnte aber auch einen Regelungsfreiraum hinsichtlich einseitiger Maßnahmen
von Unternehmen eröffnen, die per se ohne besondere Marktstellung verboten sind –
wie etwa das Boykottverbot des § 21 I GWB1116.
Dafür, dass Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 den EU-Mitgliedsstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnet strengere Normen zu erlassen oder anzuwenden, die sich an
marktbeherrschende oder marktstarke Unternehmen richten, lässt sich Erwägungsgrund 8 S. 6 VO 1/2003 anführen. Demnach können die strengeren einzelstaatlichen
1114 Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Art. 3 Rn 20.
1115 Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 20; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches
Wettbewerbsrecht, § 5 Rn 28; Glöckner, WRP 2003, 1327, 1333; Harte-
Bavendamm/Kreutzmann, WRP 2003, 682, 688; Fuchs, WRP 2005, 1384, 1385 Fn. 9;
Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Rn 106; Aicher/Schuhmacher, in:
Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2, Art. 81 Rn 49; Begründung des Regierungsentwurfs zur 7.
GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 31.
1116 Nicht gefolgt werden kann jedenfalls der Auffassung, Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 würde sich
ausschließlich auf Unternehmen ohne marktbeherrschende Stellung beziehen und Verhalten
marktbeherrschender Unternehmen sei nur an Art. 82 EG zu messen, nicht aber auch am
nationalen Recht (so jedoch Kamann/Bergmann, BB 2003, 1743, 1744 in einer ersten, eiligen
Würdigung der VO 1/2003). Hiergegen steht der klare Wortlaut des Art. 3 I S. 2 VO 1/2003,
demzufolge neben dem nationalen Kartellrecht „auch“ Art. 82 EG anzuwenden ist und somit
beide Rechte parallel zur Anwendung kommen. Dieses Ergebnis folgt auch aus dem ersten
Satz des achten Erwägungsgrundes der VO 1/2003, der ebenfalls von einer parallelen
Anwendung spricht (im Ergebnis ebenso Schnelle/Bartosch/Hübner, EU-
Kartellverfahrensrecht, S. 40 f.).
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Rechtsvorschriften, die hinsichtlich einseitiger Handlungen erlassen oder angewandt
werden dürfen, Bestimmungen zum Verbot oder zur Ahndung missbräuchlichen
Verhaltens gegenüber „wirtschaftlich abhängigen Unternehmen“ umfassen. Der
Begriff der „wirtschaftlich abhängigen Unternehmen“ erinnert an § 20 II S. 1 GWB,
der eine marktstarke Stellung eines Unternehmens gerade daran festmacht, dass
„kleine oder mittlere Unternehmen […] in der Weise abhängig sind, dass
ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen,
nicht bestehen“1117. Aus Erwägungsgrund 8 S. 6 VO 1/2003 wird daher teilweise
abgeleitet, dass Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 nur einen Regelungsfreiraum hinsichtlich
einseitiger Maßnahmen marktbeherrschender oder marktstarker Unternehmen
eröffnet1118.
Diese Argumentation kann indes nicht überzeugen. Denn Erwägungsgrund 8 S. 6
VO 1/2003 bringt zwar die Intention des Verordnungsgebers zum Ausdruck, mit
Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 jedenfalls Fälle des Marktmachtmissbrauchs zu erfassen1119. Sein Wortlaut, demzufolge die strengeren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen zum Verbot oder zur Ahndung missbräuchlichen Verhaltens
gegenüber wirtschaftlich abhängigen Unternehmen „umfassen können“, macht jedoch deutlich, dass ebendiese strengeren einzelstaatlichen Normen auch über die
Unterbindung von Marktmachtmissbräuchen hinausgehen können1120.
Auch der Wortlaut des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 selbst spricht lediglich von „einseitigen Handlungen von Unternehmen“, ohne besondere Anforderungen an die
Marktstellung des handelnden Unternehmens aufzustellen.
Daher bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 dem nationalen
Gesetzgeber auch einen Regelungsfreiraum hinsichtlich einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen von Unternehmen eröffnet, die weder über eine marktbeherrschende noch über eine marktstarke Stellung verfügen. Folgerichtig ist beispielsweise das Boykottverbot des § 21 I GWB auch nach Verabschiedung der 7. GWB-
Novelle erhalten geblieben.
Hinsichtlich einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen stehen nationale zu europäischen Wettbewerbsregeln somit auch unter dem Regime der VO 1/2003 in
einem Ergänzungsverhältnis1121. Falls die Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt ist,
entspricht das Verhältnis des europäischen zum nationalen Kartellrecht hinsichtlich
1117 S. hierzu nur Markert, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, § 20 Rn 39, 43. –
Der Begriff der wirtschaftlichen Abhängigkeit eines Unternehmens kann freilich auf
europäischer Ebene einen anderen Sinngehalt aufweisen als auf deutscher.
1118 Vgl. Eilmansberger, ZWeR 2004, 285, 303 Fn. 63.
1119 Wagner-von Papp, WuW 2005, 379, 381.
1120 So auch Wagner-von Papp, WuW 2005, 379, 381 f.
1121 Vgl. in diesem Zusammenhang auch bereits Ullrich, in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames
Privatrecht, 403, 416, zur alten Rechtslage.
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einseitigen Verhaltens, wie auch bisher bereits, damit der überkommenen „Zweischrankentheorie“1122.
3. Regelungsfreiraum gemäß Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 auch für zweiseitiges
Verhalten?
Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 eröffnet einen Regelungsfreiraum für „strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von
Unternehmen“. Umstritten ist jedoch, ob eben diese Vorschriften dann der
faktischen Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 unterliegen, wenn sie
auf zweiseitiges, insbesondere rechtsgeschäftliches Verhalten Anwendung finden.
Bezogen auf das deutsche Kartellrecht stellt sich somit die Frage, ob §§ 20, 21
GWB weiterhin eigenständig auf zweiseitiges Verhalten anwendbar sind. Bislang
wurden beispielsweise Vertriebsverträge, die selektiven Vertriebssystemen zugrunde
liegen, unter anderem auch an § 20 I, II GWB gemessen1123. Fraglich ist, ob bei
einer derartigen Prüfung in Zukunft der erweiterte Anwendungsvorrang des
Gemeinschaftskartellrechts zu berücksichtigen ist.
Dieses Problem ist für die vorliegende Untersuchung indes nur von nachrangiger
Bedeutung. Denn jedenfalls bei im Sinne des Gemeinschaftskartellrechts1124 einseitigen Maßnahmen bleiben §§ 20, 21 GWB gemäß Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 ohne
Weiteres anwendbar1125. Die Problematik hat jedoch Auswirkungen auf die rechtliche Behandlung selektiver Vertriebssysteme, weshalb im Folgenden zu ihr Stellung
bezogen werden soll.
Denkbar wäre es, ein selektives Vertriebssystem als „Vereinbarungsgeflecht“ aufzufassen, das nur einheitlich anhand von Art. 81 EG beurteilt werden könne,
weshalb es grundsätzlich nicht ergänzend gemäß § 20 I, II S. 1 GWB beurteilt
werden dürfe1126.
Im Gegensatz dazu könnte man jedoch § 20 GWB gemäß Art. 3 II S. 2 VO
1/2003 insgesamt von der faktischen Verdrängungswirkung des Gemeinschaftsrechts ausnehmen, unabhängig davon, ob im Einzelfall ein Koordinierungstatbestand
oder aber einseitiges Verhalten vorliegt1127. § 20 GWB wäre dann uneingeschränkt
1122 Meessen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung Rn 74;
Schütz, in: Gemeinschaftskommentar, Art. 3 Rn 20; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 19.
– S. zur Zweischrankentheorie bereits o. 6. Kap. B. II. 2.
1123 S. nur Wirtz, WuW 2003, 1039, 1040 f.; Emmerich, Kartellrecht (9. Aufl.), S. 231 f.
1124 Vgl. o. 6. Kap. B. V. 2. a).
1125 Zutreffend Wirtz, WuW 2003, 1039, 1043; vgl. auch Glöckner, WRP 2003, 1327, 1337.
1126 Vgl. Harte-Bavendamm/Kreutzmann, WRP 2003, 682, 688.
1127 So Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 72, unter nicht überzeugender Berufung auf den 8.
Erwägungsgrund S. 6 VO 1/2003; ohne Argumente zustimmend Jung, in: Müller-
Graff/Schwarze (Hrsg.), XXI. FIDE-Kongress, 7, 21; ähnlich auch
Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Rn 112; Glöckner, WRP 2003, 1327,
1337; vgl. dazu auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 20.
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auf selektive Vertriebssysteme anwendbar. Hiergegen spricht jedoch der klare
Wortlaut des Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 sowie des 8. Erwägungsgrundes S. 5 der VO
1/2003, wonach ein Regelungsfreiraum nur hinsichtlich strengerer innerstaatlicher
Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung „einseitiger Handlungen“ eröffnet
ist1128.
Zudem würde der durch Art. 3 VO 1/2003 angestrebte Harmonisierungseffekt beeinträchtigt, wenn Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 derart weit ausgelegt würde, dass § 20
GWB auch zweiseitiges Verhalten weiterhin strenger ahnden könnte als Art. 81
EG1129.
Vorzugswürdig ist daher eine vermittelnde Position. Demnach muss auch im Rahmen des Art. 3 II VO 1/2003 danach differenziert werden, ob ein Koordinierungstatbestand einschlägig ist oder einseitiges Verhalten vorliegt.
Bei der Anwendung der §§ 20, 21 GWB ist mithin seit Inkrafttreten der
VO 1/2003 – bei gegebenem Zwischenstaatlichkeitsbezug – nunmehr vorrangig zu
prüfen, ob eine Koordinierung oder aber eine einseitige Maßnahme gegeben ist.
Ersterenfalls kommt dem Gemeinschaftskartellrecht auch gegenüber §§ 20, 21 GWB
gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 eine faktische Verdrängungswirkung zu.
Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen
können somit im Ergebnis auch nicht mittels §§ 20, 21 GWB strenger geahndet
werden als nach Gemeinschaftskartellrecht. Nur wenn einseitiges Verhalten vorliegt,
bleibt es gemäß Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 bei der strengeren Ahndung gemäß §§ 20,
21 GWB, ohne dass das Ergebnis der Anwendung dieser Vorschriften korrigiert
werden müsste1130.
Bezogen auf selektive Vertriebssysteme bedeutet dieses Ergebnis, dass beispielsweise eine strengere Bewertung der in den Vertriebsverträgen niedergelegten
Selektionskriterien bei Anwendung des § 20 I, II S. 1 GWB von milderem Gemeinschaftskartellrecht gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 verdrängt wird. Die vom
Hersteller einseitig praktizierte Nichtzulassung von Außenseitern des Systems, obwohl diese die Selektionskriterien erfüllen1131, kann hingegen gemäß § 20 I, II S. 1
GWB schärfer geahndet werden als nach Gemeinschaftskartellrecht1132. Das
bedeutet insbesondere, dass ein derartiges Verhalten auch unterhalb der Schwelle
der Marktbeherrschung, welche Art. 82 EG voraussetzt, mittels Anwendung des
§ 20 I, II S. 1 GWB unterbunden werden kann.
1128 Wirtz, WuW 2003, 1039, 1043; Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 312.
1129 Insoweit zutreffend Glöckner, WRP 2003, 1327, 1337.
1130 Ebenso Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 315; ähnlich auch Loewenheim, in:
ders./Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 2, § 22 Rn 11.
1131 S. hierzu bereits o. 4. Kap. E. II.
1132 Wirtz, WuW 2003, 1039, 1044; Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 315.
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VI. Ergebnis
Die Zwischenstaatlichkeitsklausel nimmt die Funktion wahr, den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftskartellrechts von demjenigen des nationalen
Rechts abzugrenzen. Sie schließt jedoch in ihrem Geltungsbereich die parallele Anwendung mitgliedsstaatlichen Rechts nicht aus.
Für die Lösung von Konfliktfällen zwischen europäischem und nationalem Kartellrecht stellt der allgemeine Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts den
Ausgangspunkt dar. Aus ihm folgt, dass in Fällen, in denen das Gemeinschaftskartellrecht verbietet, was das nationale Kartellrecht zulässt, sich Ersteres gegenüber
Letzterem durchsetzt. Darüber hinaus ist nunmehr Art. 3 VO 1/2003 für das Verhältnis des Gemeinschaftskartellrechts zum innerstaatlichen Recht maßgeblich. Art. 3
VO 1/2003 vollzieht nicht lediglich nach, was sich ohnehin bereits aus Art. 81 EG
ergibt, sondern konkretisiert dessen Tragweite. Hinsichtlich des Verhältnisses von
Gemeinschaftskartellrecht zu nationalem Recht ist dies ohne Verstoß gegen die
Normenhierarchie zulässig.
Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 statuiert einen weiten Vorrang des Art. 81 I EG vor dem
nationalen Kartellrecht. Selbst wenn das Kartellverbot des Art. 81 I EG nicht durchgreift, weil keiner der Koordinierungstatbestände, sondern vielmehr eine einseitige
Maßnahme vorliegt, darf gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 die Verhaltensweise nicht
nach § 1 GWB verboten werden.
Des Weiteren führt Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 zu einer Ergebniskorrektur bei der
Anwendung des § 1 GWB in Konfliktfällen, so dass sich bei abweichenden Ergebnissen letztendlich immer Art. 81 I EG durchsetzt. Diese „faktische Verdrängungswirkung“ des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 besteht auch bei gesicherter Entscheidungspraxis hinsichtlich § 1 GWB und gleichzeitig nicht vorhandener Leitentscheidungen
hinsichtlich Art. 81 I EG.
Daraus folgt, dass die Regelungslücke für einseitige wettbewerbswidrige
Maßnahmen nicht marktbeherrschender Unternehmen im Gemeinschaftskartellrecht
nicht durch Zugrundelegung eines weiter gehenden Verständnisses der Koordinierungstatbestände Vereinbarung und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen bei
der Anwendung des § 1 GWB ausgefüllt werden kann.
Auch im Rahmen des Art. 3 II VO 1/2003 ist nach den in dieser Untersuchung ermittelten Grundsätzen zwischen einseitigen Handlungen und Koordinierungstatbeständen abzugrenzen. Der Terminus „einseitige Handlungen“ im Sinne des Art. 3 II
S. 2 VO 1/2003 meint dabei nicht lediglich Marktmachtmissbräuche, sondern umfasst vielmehr auch einseitige Maßnahmen von Unternehmen, die weder über eine
marktbeherrschende noch über eine marktstarke Stellung verfügen.
Die nationalen Vorschriften zur kartellrechtlichen Bewertung derartiger
einseitiger Handlungen, wie etwa § 20 GWB, unterliegen jedoch dann ebenfalls der
faktischen Verdrängungswirkung des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003, wenn sie auf
zweiseitiges Handeln Anwendung finden.
Bei einseitigem Handeln hingegen wird das nationale Kartellrecht nicht durch das
Gemeinschaftskartellrecht faktisch verdrängt, sondern es besteht gemäß Art. 3 II
S. 2 VO 1/2003 ein Regelungsfreiraum für strengere nationale Vorschriften.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.