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II. Die Behandlung von Konfliktfällen zwischen europäischem und nationalem
Kartellrecht
1. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt für die Lösung von Normenkonflikten zwischen Gemeinschaftskartellrecht und innerstaatlichem Recht hat der allgemeine Grundsatz des Vorrangs
des Gemeinschaftsrechts zu sein. Dem vom EG-Vertrag geschaffenen, somit aus
einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie auch immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften
vorgehen; das Gemeinschaftsrecht hat vielmehr Anwendungsvorrang1016. Dieser
Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wurde durch den EuGH im Urteil
Walt Wilhelm speziell für das Verhältnis von Gemeinschaftskartellrecht zu innerstaatlichem Kartellrecht bestätigt1017.
Daraus folgt, dass in Fällen, in denen das Gemeinschaftskartellrecht verbietet,
was das nationale Kartellrecht zulässt, sich Ersteres gegenüber Letzterem durchsetzt1018. Diese Konstellation wird durch die VO 1/2003 nicht erfasst; ihre Behandlung richtet sich jedoch auch unter der Geltung der VO 1/2003 weiterhin nach den
soeben dargestellten, durch den EuGH entwickelten Grundsätzen1019. Dies wird für
das deutsche Kartellrecht durch § 22 II S. 3 GWB n. F. bestätigt, welcher deklaratorisch festhält, dass sich in derartigen Fällen der Vorrang des Art. 81 EG „nach dem
insoweit maßgeblichen europäischen Gemeinschaftsrecht“ richtet.
Hinsichtlich einseitigen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen gilt aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, dass ein Verhalten, das gegen Art. 82
EG verstößt, nicht durch nationales Kartellrecht erlaubt werden kann1020.
Problematisch ist indes seit jeher der umgekehrte Fall, in dem das Gemeinschaftskartellrecht einen Sachverhalt liberaler bewertet als das nationale Kartellrecht. Die
Lösung derartiger Normenkonflikte hat durch Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 eine fundamentale Änderung erfahren. Um die Tragweite dieser Änderung zu verdeutlichen, ist
zunächst in allgemeiner Form auf das Verhältnis des Gemeinschaftskartellrechts
zum innerstaatlichen Kartellrecht vor Inkrafttreten der VO 1/2003 einzugehen.
1016 Grundlegend EuGH v. 15.07.1964, Costa/ENEL, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269-1271; s.
dazu z.B. Streinz, Europarecht, Rn 216 ff.; Hummer/Vedder, Europarecht, S. 33 ff.; instruktiv
zur Thematik auch Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 59 f.
1017 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 6; s. dazu
Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 21; Meessen, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung Rn 70; Immenga, in:
MüKo BGB, Bd. 11, IntWettbR/IntKartR Rn 1; Sura, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2,
Art. 3 VO 1/2003 Rn 2.
1018 Vgl. auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 17; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 3
Rn 4.
1019 Vgl. Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 309.
1020 Vgl. z. B. Schröter, in: ders./Jakob/Mederer, Wettbewerbsrecht, Vorbemerkung zu den
Artikeln 81 bis 85, Rn 122; Emmerich, Kartellrecht, § 3 Rn 67; de Bronett,
Kartellverfahrensrecht, Art. 3 Rn 5; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 24.
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2. Rechtslage vor Inkrafttreten der VO 1/2003
Bevor am 1. Mai 2004 die neue VO 1/2003 in Kraft trat, fehlte für die große Mehrzahl der Kollisionsfälle eine gesetzliche Regelung1021. Der Erwähnung bedarf in
diesem Zusammenhang jedoch Art. 9 I der früheren VO 17/62, demzufolge die
Kommission zur Anwendung des Art. 81 III EG ausschließlich zuständig war1022.
Abgesehen hiervon blieb es Rechtswissenschaft und Rechtsprechung überlassen, das
Verhältnis des Gemeinschaftskartellrechts zum nationalen Recht näher auszudeuten.
Hierzu wurden im Schrifttum zahlreiche unterschiedliche Ansätze entwickelt. Auf
die Vielzahl von Einzelproblemen, die sich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen
Gemeinschaftskartellrecht und innerstaatlichem Kartellrecht stellten, braucht hier
nicht eingegangen zu werden1023. Festzuhalten sind lediglich die verschiedenen
grundlegenden Lösungsansätze.
Nach der „Einschrankentheorie“ wurde den Art. 81, 82 EG in ihrem
Anwendungsbereich ausschließliche Geltung zuerkannt1024. Dafür wurde angeführt,
die Anwendung nationalen Kartellrechts, das vom europäischen Kartellrecht abweiche, auf Verhaltensweisen mit gemeinschaftsweiter Bedeutung liefe dem Ziel der
Schaffung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs (Art. 3 I lit. g EG) zuwider1025.
Die „Zweischrankentheorie“ ging hingegen grundsätzlich von der gleichberechtigten Anwendbarkeit des nationalen Kartellrechts neben dem europäischen aus. Die
Art. 81, 82 (ex-Art. 85, 86) EG schützten den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr, das GWB hingegen den innerstaatlichen Wirtschaftsverkehr. Wegen dieser
unterschiedlichen Schutzzwecke beider Rechtsordnungen könnten das europäische
und das nationale Kartellrecht zueinander nur im Verhältnis der Idealkonkurrenz
stehen, d.h. es würden beide Rechtsordnungen Anwendung finden1026. In Konsequenz dieser Theorie setzt sich das jeweils strengere Recht im Einzelfall durch; ein
Kollisionsproblem scheint ausgeschlossen.
1021 Emmerich/Hoffmann, in: Dauses, Handbuch, Bd. 2, H. I. § 1 Rn 39; Emmerich, Kartellrecht,
§ 3 Rn 58.
1022 Im Zusammenschlusskontrollrecht fand sich zudem in der alten Fusionskontrollverordung
Nr. 4064/89 in Art. 21 I, II UAbs. 1 eine Kollisionsnorm. Diese wurde in identischer Form in
Art. 21 II, III der neuen Fusionskontrollverordnung Nr. 139/2004 übernommen. Demnach
kommt es im Zusammenschlusskontrollrecht zu keiner parallelen Anwendung von
europäischem und nationalem Recht (vgl. auch § 35 III GWB).
1023 S. dazu insb. die Monographien von R. Walz, Vorrang, sowie Klose, Verhältnis des deutschen
zum europäischen Kartellrecht.
1024 S. hierzu Schröter, in: ders./Jakob/Mederer, Wettbewerbsrecht, Vorbemerkung zu den
Artikeln 81 bis 85 Rn 119 Fn. 447.
1025 Vgl. Klose, Verhältnis des deutschen zum europäischen Kartellrecht, S. 100.
1026 N. Koch, BB 1959, 241, 243 f. Dieser Aufsatz stellt die Grundsteinlegung der
Zweischrankentheorie dar; s. dazu auch R. Walz, Vorrang, S. 188; Nicolaysen, Europarecht II,
S. 249.
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Dagegen wurde jedoch argumentiert, gerade wegen der verschiedenen
Schutzzwecke und des verschiedenen Inhalts des nationalen und des europäischen
Rechts seien Konflikte bei paralleler Geltung der Normen nicht ausgeschlossen1027.
Der EuGH wies in seinem richtungweisenden Urteil Walt Wilhelm1028 sowohl die
Einschrankentheorie als auch die ursprüngliche Form der Zweischrankentheorie
zurück. Er legte dar, grundsätzlich könne ein Kartell Gegenstand zweier paralleler
Verfahren sein, von denen das eine nach Art. 81 (ex-Art. 85) EG vor den Gemeinschaftsbehörden, das andere nach innerstaatlichem Recht vor den nationalen
Behörden stattfinde1029. Die gleichzeitige Anwendung des nationalen Rechts dürfe
jedoch die uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts und die Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden
Maßnahmen nicht beeinträchtigen1030. Auch „positive, obgleich mittelbare
Eingriffe“ der Gemeinschaftsbehörden zur Förderung einer harmonischen
Entwicklung des Wirtschaftslebens in der Gemeinschaft im Sinne von Art. 2 EG
durften demnach nicht durch Maßnahmen des nationalen Kartellrechts beeinträchtigt
werden1031.
Hieraus wurde von vielen Autoren abgeleitet, dass jedenfalls Einzelfreistellungen
gemäß Art. 81 III EG sowie Gruppenfreistellungsverordnungen grundsätzlich Vorrang vor schärferem nationalem Kartellrecht hätten. Dieser Anwendungsvorrang
bezog sich hingegen nicht auf Fälle bloßer Tatbestandsverneinung des
Art. 81 EG1032.
3. Die Neuregelung des Verhältnisses durch Art. 3 VO 1/2003
Art. 83 I, II lit. e EG ermächtigt den Rat, das Verhältnis zwischen Gemeinschaftskartellrecht und mitgliedsstaatlichem Recht näher zu bestimmen. Dadurch, dass mit
dem Rat gerade ein Gemeinschaftsorgan ermächtigt wird, bestätigt Art. 83 I, II lit. e
EG implizit den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht1033.
1027 Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), Einleitung Rn 71 (Hervorhebung
nicht im Original).
1028 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1.
1029 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 3.
1030 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 4, 9; bestätigt durch EuGH v.
10.07.1980, Procureur de la République/Giry und Guerlain, Rs. 253/78 u. 1-3/79, Slg. 1980,
2327, Rn 16; s. dazu auch Ullrich, in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht, 403,
414; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 5.
1031 Vgl. EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 5;
Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 22; Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 70.
1032 Vgl. nur Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 304; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner,
Einleitung Rn 22; Sura, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 3 VO 1/2003 Rn 4. –
Diese Position lässt sich als „modifizierte Zweischrankentheorie“ bezeichnen (vgl. nur
Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 70 Fn. 21).
1033 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 5.
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Von dieser Ermächtigung hat der Rat durch Erlass des Art. 3 VO 1/2003 Gebrauch
gemacht1034.
a) Der Ansatz des Verordnungsvorschlags
Im Vorschlag der Kommission zur VO 1/2003 war ursprünglich vorgesehen, im
Anwendungsbereich der Art. 81, 82 EG das Gemeinschaftskartellrecht für allein anwendbar zu erklären, unter Ausschluss des Kartellrechts der Mitgliedsstaaten1035.
Dadurch wollte die Kommission einheitliche Wettbewerbsbedingungen überall in
der Gemeinschaft fördern und den Wettbewerbsbehörden sowie den betroffenen
Unternehmen Kosten ersparen1036. Konflikte, die durch die parallele Anwendung
von europäischem und nationalem Recht entstehen können, sollten von vornherein
vermieden werden1037. Ziel der Regelung war letztlich eine effizientere Durchsetzung des EG-Wettbewerbsrechts1038. Inhaltlich hätte eine derartige Regelung die
Normierung der „Einschrankentheorie“ bedeutet.
Hieran wurde kritisiert, eine derart einschneidende Bestimmung sei zur Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen nationaler Behörden und Gerichte nicht
erforderlich1039.
Gleichwohl hätte eine derartige Regelung den Vorteil großer Rechtsklarheit beinhaltet und zugleich eine augenfällige Parallele zum europäischen Fusionskontrollrecht dargestellt. Denn dort wird durch Art. 21 III UAbs 1 VO 139/2004 die parallele Anwendung von nationalem und europäischem Kartellrecht ausgeschlossen.
b) Art. 3 VO 1/2003
Geeinigt hat sich der Rat indessen schließlich, nach teilweise kontroversen Beratungen1040, auf eine kompliziertere, detaillierte Regelung. Art. 3 VO 1/2003
1034 Vgl. Reidlinger, in Streinz, EUV/EGV, Art. 83 Rn 34; Schröter, in: von der
Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 51.
1035 Art. 3 des Vorschlags für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81
und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen
(EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87
(„Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag“), Abl. C 365 E v.
19.12.2000, 284; sehr kritisch dazu Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 32, Tz. 10 ff.
1036 Vgl. Begründung zum Vorschlag für eine Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und
82 EG-Vertrag, Abl. C 365 E v. 19.12.2000, 284, IV. Artikel 3; begrüßt durch Schröter, in:
von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 50.
1037 Dannecker, in: FS Immenga, 61, 66.
1038 Ehlermann, WuW 2001, 231.
1039 Vgl. Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 12.
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verpflichtet, wie bereits erwähnt, in Absatz 1 die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten und die einzelstaatlichen Gerichte zur parallelen Anwendung von
nationalem und EG-Kartellrecht, falls diese das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht
auf Koordinierungstatbestände anwenden, die Zwischenstaatlichkeitsbezug aufweisen. Absatz 2 Satz 1 normiert den grundsätzlichen Vorrang des EG-Kartellrechts in
Konfliktfällen.
Diese Vorrangregel des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 orientiert sich an rein
materiellen Kriterien: Ist eine Vereinbarung nach Gemeinschaftskartellrecht erlaubt,
so darf sie nach nationalem Kartellrecht nicht verboten werden. Damit geht Art. 3 II
S. 1 VO 1/2003 über die bisherige Rechtslage hinaus, nach der die Vorrangfrage
sich nicht nur nach materiellen Kriterien richtete, sondern auch danach, ob die
Kommission eine Entscheidung erlassen hatte, und wenn ja, welcher Art diese
Entscheidung war1041. Wurde eine Vereinbarung beispielsweise durch ein formloses
Verwaltungsschreiben („comfort letter“) der Kommission „erlaubt“1042, so war ein
Verbot der Vereinbarung nach strengerem nationalem Kartellrecht dennoch
möglich1043. Nach heutiger Rechtslage wäre dies gemäß Art. 3 II S. 1 VO 1/2003
unzulässig1044. Durch diese Stärkung des Vorrangprinzips bewirkt Art. 3 VO 1/2003
– jedenfalls im Bereich des Art. 81 EG – eine grundlegende Veränderung des
Verhältnisses zwischen europäischem und nationalem Kartellrecht1045.
Art. 3 VO 1/2003 stellt indessen keine in sich geschlossene Neuregelung dar, sondern – in den Worten Rehbinders – „ein schwer durchschaubares Mosaik an
speziellen Rangregeln, die zudem teilweise noch durch Anwendung von Ausprägungen der bisher anerkannten modifizierten Zweischrankentheorie ergänzt werden
müssen“1046. Im Folgenden soll den sich im Zusammenhang mit Art. 3 VO 1/2003
stellenden Rechtsproblemen nachgegangen werden. Zu klären wird hierbei
insbesondere die genaue Reichweite der Vorrangregel des Art. 3 II S. 1 VO 1/2003
sein.
1040 Vgl. Ministerrat, Protokoll der 2394. Tagung des Rates – Energie / Industrie – am 4./5.
Dezember 2001 in Brüssel, Pressemitteilung PRES/01/452, datiert auf den 4.12.2001.
1041 Vgl. Aicher/Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2, Art. 81 Rn 47 f.
1042 Über 90 Prozent der Wettbewerbsverfahren vor der Kommission wurden durch derartige
Verwaltungsschreiben erledigt (s. nur Emmerich, Kartellrecht, § 13 Rn 6).
1043 EuGH v. 10.07.1980, Procureur de la République/Giry und Guerlain, Rs. 253/78 u. 1-3/79,
Slg. 1980, 2327, Rn 18 f.; Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 20;
Wiedemann, in: ders., Handbuch, § 6 Rn 8.
1044 Abgesehen hiervon werden formlose Verwaltungsschreiben durch die Kommission heute
ohnehin nicht mehr erstellt (vgl. Gauer et al., Comp. Pol. Newsl. 2/2004, 1, 6).
1045 F. Immenga/Lange, RIW 2003, 889, 890; Böge, BB 20/2004, I; Schwarze/Weitbrecht,
Kartellverfahrensrecht, § 3 Rn 1; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 23;
vgl. auch Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Rn 103; Klees,
Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 14; Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 118, 120; Glöckner, WRP
2003, 1327, 1333.
1046 In: FS Immenga, 303, 318.
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III. Änderung der Tragweite des Art. 81 EG im Wege einer
Durchführungsverordnung?
Zunächst stellt sich allerdings die Vorfrage, ob durch die Neuordnung des Verhältnisses von Gemeinschaftskartellrecht zu nationalem Recht, die der Rat mittels Art. 3
VO 1/2003 vornahm, in zulässiger Weise auf das materielle Verständnis des Art. 81
EG eingewirkt wurde. Das hier zugrunde liegende Problem, ob und bis zu welchem
Grade Art. 83 I, II lit. e EG den Rat ermächtigt, auf das materielle Gemeinschaftskartellrecht einzuwirken, wird etwa von Schröter als ungeklärt angesehen1047.
Fraglich ist mithin, ob Art. 3 VO 1/2003 nur nachvollzieht, was sich ohnehin schon
aus dem (höherrangigen) Art. 81 EG ergibt, oder ob durch Art. 3 VO 1/2003 zulässigerweise die Tragweite des Art. 81 EG verändert wurde.
Art. 83 I, II lit. e EG stellte die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Art. 3
VO 1/2003 dar1048. Gemäß Art. 83 II lit. e EG bezwecken die in Art. 83 I EG
vorgesehenen Vorschriften insbesondere, das Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einerseits und den gemeinschaftskartellrechtlichen Bestimmungen andererseits „festzulegen“. Dem entspricht etwa in der englischen Sprachfassung des Vertrages „to determine“, in der französischen „définir“, in der
spanischen „definir“. Hieraus könnte man ableiten, Art. 83 I, II lit. e EG ermächtige
den Rat, auf die materielle Tragweite der Art. 81, 82 EG einzuwirken. In diese
Richtung geht auch Erwägungsgrund 8 S. 2 VO 1/2003, demzufolge es erforderlich
sei, auf der Grundlage von Art. 83 II lit. e EG das Verhältnis zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft zu „bestimmen“.
Zudem lässt sich auch der Wortlaut des Art. 83 I EG dergestalt interpretieren,
dass über Verordnungen und Richtlinien die Reichweite des Art. 81 EG verändert
werden kann. Denn gemäß Art. 83 I EG dienen die Verordnungen oder Richtlinien
des Rates der Verwirklichung der in den Art. 81 und 82 niedergelegten
„Grundsätze“1049.
Richtigerweise ist der Terminus „Grundsätze“ in Art. 83 I EG jedoch gleichbedeutend mit dem materiellrechtlichen Gehalt der Art. 81, 82 EG1050. Des Weiteren
spricht auch die systematische Auslegung dagegen, dass über Art. 83 I, II lit. e EG
dem Rat die Befugnis eingeräumt wird, den materiellen Gehalt der Art. 81, 82 EG
zu ändern. Denn auch Art. 83 II lit. c EG ist dergestalt zu interpretieren, dass er
keine rechtliche Handhabe bietet, um die Tragweite der Art. 81 I, 82 EG
einzuschränken1051. Gemäß Art. 83 I, II lit. c EG ist der Rat befugt,
Durchführungsbestimmungen zu erlassen, um „gegebenenfalls den Anwendungsbereich der Artikel 81 und 82 für die einzelnen Wirtschaftszweige näher zu bestim-
1047 In: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 52.
1048 Vgl. Erwägungsgrund 8 S. 2 VO 1/2003; s. dazu auch Pace, EuZW 2004, 301, 304.
1049 In der englischen Vertragsfassung „principles“, französisch „principes“, spanisch
„principios“.
1050 Reidlinger, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 83 Rn 5; Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV,
Art. 83 Rn 7.
1051 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 83 Rn 44.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.