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Sechstes Kapitel: Lückenfüllung durch nationales Recht: Die Behandlung
einseitiger Maßnahmen im Vertikalverhältnis nach deutschem
Kartellrecht
A. Einführung in die Problematik
Es stellt sich die Frage, ob einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen im Vertikalverhältnis, die von nicht marktbeherrschenden Unternehmen getroffen werden,
durch nationales Kartellrecht wirkungsvoll unterbunden werden können. Träfe dies
zu, so wäre die planmäßige Regelungslücke, die zwischen Art. 81 EG und Art. 82
EG hinsichtlich solcherlei Maßnahmen besteht, wettbewerbspolitisch unbedenklich;
denn diese Lücke könnte durch nationales Recht gefüllt werden.
Die dargestellte Problematik wird im Folgenden anhand des deutschen Kartellrechts untersucht werden. Hinsichtlich dessen sind grundsätzlich zwei Wege der
Lückenfüllung denkbar: Erstens könnte in Fällen, in denen auf gemeinschaftskartellrechtlicher Ebene eine einseitige Maßnahme vorliegt, das fragliche Verhalten auf
nationaler Ebene als Absprache im Sinne des § 1 GWB zu qualifizieren sein; dann
könnte die Regelungslücke mittels dieser Norm (teilweise) gefüllt werden. Zweitens
kommt eine Lückenfüllung durch §§ 19-21 GWB, die sich (auch) gegen einseitige
Maßnahmen richten, in Betracht.
Voraussetzung für eine derartige Lückenfüllung ist indes in beiden Fällen, dass
das GWB materiellrechtlich eigenständig neben dem Gemeinschaftskartellrecht anwendbar ist. Um zu klären, inwieweit diese Voraussetzung erfüllt ist, ist zunächst
das Verhältnis des reformierten europäischen zum nationalen Kartellrecht vertieft zu
untersuchen.
B. Das Verhältnis des reformierten europäischen zum nationalen Kartellrecht
I. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel als Abgrenzungskriterium des
Anwendungsbereichs des Gemeinschaftskartellrechts
Das Verhältnis zwischen gemeinschaftskartellrechtlichen und innerstaatlichen Regeln zählt zu den grundlegenden Problemen des Kartellrechts1009. Bei seiner
Untersuchung rückt zunächst die Zwischenstaatlichkeitsklausel ins Blickfeld: Gemäß Art. 81 I EG sind nur solche Koordinierungstatbestände verboten, „welche den
Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind“; eine entspre-
1009 Vgl. Schröter, in: ders./Jakob/Mederer, Wettbewerbsrecht, Vorbemerkung zu den Artikeln 81
bis 85 Rn 118.
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chende Formulierung findet sich auch in Art. 82 S. 1 EG1010. Wichtigste Funktion
der Zwischenstaatlichkeitsklausel ist es, den sachlichen Anwendungsbereich des
Gemeinschaftskartellrechts von demjenigen des nationalen Rechts abzugrenzen1011.
Zwischenstaatlichkeitsbezug liegt dann vor, wenn sich anhand einer Gesamtheit
objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die Vereinbarung, der Beschluss oder die
abgestimmte Verhaltensweise unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach den Warenverkehr zwischen Mitgliedsstaaten beeinflussen kann1012.
Zudem muss die Koordinierung zu einer spürbaren Beeinträchtigung des Handels
zwischen Mitgliedsstaaten geeignet sein1013.
Die Zwischenstaatlichkeitsklausel schließt freilich in ihrem Geltungsbereich die
parallele Anwendung mitgliedsstaatlichen Rechts nicht aus1014. Das Kriterium des
Zwischenstaatlichkeitsbezugs bestimmt auch den Anwendungsbereich des Art. 3
VO 1/20031015; dessen Absatz 1 Satz 1 schreibt nunmehr den Wettbewerbsbehörden
der Mitgliedsstaaten und den einzelstaatlichen Gerichten die parallele Anwendung
von nationalem und EG-Kartellrecht vor, falls diese das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen, Beschlüsse oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen anwenden, die Zwischenstaatlichkeitsbezug aufweisen.
Von der Frage nach dem sachlichen Anwendungsbereich zu unterscheiden ist indes die Frage, welches Recht sich im Konfliktfall, bei unterschiedlichen Ergebnissen
des nationalen und des europäischen Kartellrechts, durchsetzt. Auf diese Frage nach
der Lösung derartiger Konfliktfälle soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gelegt
werden.
1010 Vgl. zu Letzterer nur Meessen, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1,
Einführung Rn 73.
1011 Grundlegend EuGH v. 30.06.1966, Société technique minière/Machinenbau Ulm, Rs. 56/65,
Slg. 1966, 281, 303; ebenso Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung
des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, Abl. C 101 v.
27.04.2004, 81, Rn 12; s. aus der Literatur nur Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches
Wettbewerbsrecht, § 4 Rn 1; Aicher/Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2,
Art. 81 Rn 46; Emmerich, Kartellrecht, § 3 Rn 18; Meessen, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung Rn 71.
1012 EuGH v. 30.06.1966, Société technique minière/Machinenbau Ulm, Rs. 56/65, Slg. 1966,
281, 303; EuGH v. 13.07.1966, Consten und Grundig, Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 322, 389; s.
auch Immenga, in: MüKo BGB, Bd. 11, IntWettbR/IntKartR Rn 2.
1013 S. nur Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen
Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, Abl. C 101 v. 27.04.2004, 81, Rn 13, 44 ff.
1014 Vgl. EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 3;
Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 4 Rn 3.
1015 Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen
Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, Abl. C 101 v. 27.04.2004, 81, Rn 8.
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II. Die Behandlung von Konfliktfällen zwischen europäischem und nationalem
Kartellrecht
1. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt für die Lösung von Normenkonflikten zwischen Gemeinschaftskartellrecht und innerstaatlichem Recht hat der allgemeine Grundsatz des Vorrangs
des Gemeinschaftsrechts zu sein. Dem vom EG-Vertrag geschaffenen, somit aus
einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie auch immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften
vorgehen; das Gemeinschaftsrecht hat vielmehr Anwendungsvorrang1016. Dieser
Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wurde durch den EuGH im Urteil
Walt Wilhelm speziell für das Verhältnis von Gemeinschaftskartellrecht zu innerstaatlichem Kartellrecht bestätigt1017.
Daraus folgt, dass in Fällen, in denen das Gemeinschaftskartellrecht verbietet,
was das nationale Kartellrecht zulässt, sich Ersteres gegenüber Letzterem durchsetzt1018. Diese Konstellation wird durch die VO 1/2003 nicht erfasst; ihre Behandlung richtet sich jedoch auch unter der Geltung der VO 1/2003 weiterhin nach den
soeben dargestellten, durch den EuGH entwickelten Grundsätzen1019. Dies wird für
das deutsche Kartellrecht durch § 22 II S. 3 GWB n. F. bestätigt, welcher deklaratorisch festhält, dass sich in derartigen Fällen der Vorrang des Art. 81 EG „nach dem
insoweit maßgeblichen europäischen Gemeinschaftsrecht“ richtet.
Hinsichtlich einseitigen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen gilt aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, dass ein Verhalten, das gegen Art. 82
EG verstößt, nicht durch nationales Kartellrecht erlaubt werden kann1020.
Problematisch ist indes seit jeher der umgekehrte Fall, in dem das Gemeinschaftskartellrecht einen Sachverhalt liberaler bewertet als das nationale Kartellrecht. Die
Lösung derartiger Normenkonflikte hat durch Art. 3 II S. 1 VO 1/2003 eine fundamentale Änderung erfahren. Um die Tragweite dieser Änderung zu verdeutlichen, ist
zunächst in allgemeiner Form auf das Verhältnis des Gemeinschaftskartellrechts
zum innerstaatlichen Kartellrecht vor Inkrafttreten der VO 1/2003 einzugehen.
1016 Grundlegend EuGH v. 15.07.1964, Costa/ENEL, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269-1271; s.
dazu z.B. Streinz, Europarecht, Rn 216 ff.; Hummer/Vedder, Europarecht, S. 33 ff.; instruktiv
zur Thematik auch Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 59 f.
1017 EuGH v. 13.02.1969, Walt Wilhelm, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn 6; s. dazu
Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 21; Meessen, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Einführung Rn 70; Immenga, in:
MüKo BGB, Bd. 11, IntWettbR/IntKartR Rn 1; Sura, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2,
Art. 3 VO 1/2003 Rn 2.
1018 Vgl. auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn 17; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 3
Rn 4.
1019 Vgl. Rehbinder, in: FS Immenga, 303, 309.
1020 Vgl. z. B. Schröter, in: ders./Jakob/Mederer, Wettbewerbsrecht, Vorbemerkung zu den
Artikeln 81 bis 85, Rn 122; Emmerich, Kartellrecht, § 3 Rn 67; de Bronett,
Kartellverfahrensrecht, Art. 3 Rn 5; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Einleitung Rn 24.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.