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die begrifflich klare Abgrenzung zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten
im Sinne des Art. 81 I EG verwischen und damit zu Rechtsunsicherheit führen919.
In Fällen, in denen der Vertriebsvertrag für sich genommen
wettbewerbsrechtskonform ist, kann zudem nicht angenommen werden, dass ein
Vertriebshändler durch Abschluss des Vertrages bereits einer späteren
wettbewerbswidrigen Vertragsentwicklung durch einseitige Maßnahmen des
Herstellers zugestimmt hat920.
II. Stellungnahme
Richtigerweise ist zu differenzieren: Eine dem Anschein nach einseitige Maßnahme
eines Lieferanten bzw. Herstellers gegenüber einem Außenseiter eines selektiven
Vertriebssystems lässt sich dann den Vertriebsverträgen mit den zugelassenen
Händlern zuordnen, wenn Hersteller und Händler bei Vertragsschluss vereinbart
haben, dass in Zukunft wettbewerbswidrige Maßnahmen gegenüber Außenseitern
des Systems angewendet werden sollen. In derartigen Fällen stellen die
Vertriebsverträge Vereinbarungen gemäß Art. 81 I EG dar. Denkbar ist auch, dass
Hersteller und zugelassene Händler sich im Wege aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen darauf verständigt haben, dass der Hersteller gegenüber Außenseitern
des Systems wettbewerbswidrige Maßnahmen ergreift921.
Hingegen bedeutet der bloße Beitritt eines Händlers zu einem selektiven Vertriebssystem nicht dessen Zustimmung zur gesamten zukünftigen Vertriebspolitik des
Herstellers und zu dessen späteren einseitigen Maßnahmen. Denn im Moment der
Unterzeichnung des Vertriebsvertrages, der meist auf eine langfristige Zusammenarbeit angelegt ist, ist es einem Händler nicht möglich, die zukünftige Entwicklung der
Vertriebspolitik seines Vertragspartners vorherzusehen. Würde man spätere einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen des Herstellers als Vereinbarung qualifizieren,
so träfe der Vorwurf des Wettbewerbsverstoßes auch den Händler.
Eine derart weitgehende Auslegung des Koordinierungstatbestandes
Vereinbarung würde dazu führen, dass sämtliche einseitige Maßnahmen in
selektiven Vertriebssystemen, wie etwa auch Boykott-Aufrufe oder Empfehlungen
des Herstellers, durch Art. 81 I EG erfasst würden922. Insbesondere hinsichtlich
unverbindlicher Preisempfehlungen stünde dies im Widerspruch zur gesetzlichen
919 Kritisch zu den EuGH-Urteilen AEG-Telefunken und Ford daher Wiedemann,
Gruppenfreistellungsverordnungen, Bd. I, AT Rn 180.
920 EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-208/01, Slg. 2003, II-5141, Rn 43-45; zustimmend Nolte,
in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Fallgruppen Rn 451.
921 Ähnlich Deselaers, Kontrahierungszwang, S. 32 f.
922 Zutreffende Analyse von J. Hoffmann, WRP 2004, 994, 995; dieser sieht hierin indes kein
Problem, sondern begrüßt ein derartiges Ergebnis (s. ebenda, S. 999).
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Wertung des Art. 4 lit. a 2. Halbsatz Vertikal-GVO, derzufolge unverbindliche
Preisempfehlungen ausdrücklich zulässig sind923.
In Fällen, in denen die Nichtzulassung von Außenseitern durch einen Hersteller
nicht in oben dargestellter Weise auf den Händlerverträgen beruht, liegt daher eine
einseitige Maßnahme vor. Der Hersteller handelt dann ausschließlich gegenüber
dem Außenseiter, ohne dass ein Bezug zu den Verträgen mit den bereits
zugelassenen Händlern bestünde924; diese werden häufig nicht einmal Kenntnis von
der Nichtzulassung des Außenseiters haben. Derartige Diskriminierungen von
Außenseitern sind unterhalb der Schwelle einer marktbeherrschenden Stellung gemeinschaftskartellrechtlich grundsätzlich zulässig925.
Betrachtet man die Rechtssache AEG-Telefunken926 im Lichte dieser Grundsätze, so
erscheint fraglich, ob Kommission und EuGH die Zustimmung der Vertriebshändler
zum Verhalten von AEG-Telefunken zu Recht annahmen. Dies hängt indessen letztlich auch von Sachverhaltsumständen ab und kann hier daher nicht abschließend
beantwortet werden927.
Die Zustimmung der Vertriebshändler könnte jedoch auch entbehrlich gewesen
sein, wenn die einseitigen Maßnahmen von AEG-Telefunken zu einem Verstoß gegen die Zulässigkeitsvoraussetzungen des selektiven Vertriebssystems geführt
hätten.
F. Einseitige Maßnahmen als Verstoß gegen die Zulässigkeitsvoraussetzungen
selektiver Vertriebssysteme
I. Sondersituation hinsichtlich einseitiger Maßnahmen in mit Art. 81 I EG
vereinbaren selektiven Vertriebssystemen
1. Vorbemerkung
Im vorangegangenen Unterkapitel wurde ermittelt, dass der Beitritt eines Händlers
zu einem selektiven Vertriebssystem nicht dessen antizipierte Zustimmung zu späte-
923 S. hierzu nur Veelken, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Vertikal-VO
Rn 182.
924 Zu der Sondersituation bzgl. einfacher Fachhandelsbindungen s. jedoch sogleich 4. Kap. F.
925 S. nur Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 9 Rn 6. – Auch in offenen
selektiven Vertriebssystemen sind einseitige Diskriminierungen des Herstellers unterhalb der
Marktbeherrschungsschwelle gemeinschaftskartellrechtlich erlaubt (s. nur Bechtold, NJW
2003, 3729, 3729).
926 S.o. 4. Kap. D. II.
927 Zumindest in den Fällen, in denen der Anstoß zu den Diskriminierungen durch AEG-
Telefunken von zugelassenen Händlern ausging, dürften jedoch aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen zwischen diesen Händlern und AEG-Telefunken zustande gekommen sein,
welche parallel zu den Vertriebsverträgen existierten (vgl. dazu Kommission, Entscheidung v.
06.01.1982, AEG-Telefunken, Abl. L 117 v. 30.04.1982, 15, Rn 78).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.