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Da der EuGH die Lieferverweigerungen aber als von einer Ford eingeräumten,
vertraglichen Konkretisierungsbefugnis gedeckt ansah, lag ihm zufolge die ausdrückliche und antizipierte Zustimmung der Händler vor. Die Problematik, wann
sich spätere einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen auf eine vertragliche Konkretisierungsbefugnis hinsichtlich des Vertragsinhalts stützen lassen, stellt sich
indessen nicht speziell in selektiven Vertriebssystemen. Sie wurde daher bereits an
anderer Stelle dieser Untersuchung erörtert902. Dabei wurde ermittelt, dass das vom
EuGH gefundene Ergebnis im Ford-Fall nicht überzeugt. Vielmehr lagen in diesem
Fall einseitige Maßnahmen vor.
E. Zustimmung zu einseitigen Maßnahmen durch Beitritt zu einem selektiven
Vertriebssystem?
I. Einseitige Maßnahmen des Herstellers als vom Händler gebilligte
Vertriebspolitik?
Näherer Überprüfung bedarf die soeben dargestellte, insbesondere vom EuGH in
den Urteilen AEG-Telefunken und Ford vorgetragene Argumentation, der bloße Beitritt eines Händlers zu einem selektiven Vertriebssystem beinhalte seine
Zustimmung zur gesamten Vertriebspolitik des Lieferanten bzw. Herstellers und
damit auch die antizipierte Zustimmung zu späteren einseitigen,
wettbewerbswidrigen Maßnahmen.
Hierzu lässt sich die Ansicht vertreten, dass diese Argumentation zutrifft. Folgte
man dieser Ansicht, könnte man beispielsweise die einseitige Verweigerung von
Hersteller-Garantieleistungen gegenüber Abnehmern, die die Ware bei einem nicht
zum selektiven Vertriebssystem gehörigen Außenseiter erworben haben, als
Handlung qualifizieren, die den Vertragsverhältnissen mit den zugelassenen
Händlern zuzuordnen ist903.
Ein weiteres Beispiel stellt die Nichtzulassung eines Außenseiters zum selektiven
Vertriebssystem durch den Hersteller dar. Diese wird von manchen Autoren jedenwurde, wird vom EuG in seinem Urteil VW II verkannt (s. EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-
208/01, Slg. 2003, II-5141, Rn 51).
902 S.o. 2. Kap. E. II. 2. – J. Hoffmann allerdings differenziert nicht zwischen der Frage, ob sich
eine spätere einseitige Maßnahme auf eine vertragliche Konkretisierungsbefugnis stützen
lässt, und der Frage, ob im bloßen Beitritt eines Händlers zu einem selektiven
Vertriebssystem die Zustimmung zu späteren einseitigen Maßnahmen liegt. Folgerichtig
krankt seine Analyse der EuGH-Rechtsprechung daran, dass er innerhalb selektiver
Vertriebssysteme ganz andere Maßstäbe an das Zustandekommen einer Vereinbarung anlegen
möchte als außerhalb (s. WRP 2004, 994, 996 f.).
903 Vgl. dazu auch Eilmansberger, ZWeR 2004, 285, 292. – Falls das selektive Vertriebssystem
jedoch die oben genannten Voraussetzungen der Vereinbarkeit mit Art. 81 I EG erfüllt, ist
eine Beschränkung der Herstellergarantie auf bei zugelassenen Händlern erworbene Produkte
ohne weiteres zulässig (s. EuGH v. 13.01.1994, Metro/Cartier, Rs. C-376/92, Slg. 1994, I-30,
Rn 34).
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falls dann den Händlerverträgen zugeordnet, wenn die Nichtzulassung darauf beruht,
dass der Außenseiter vertriebspolitische Bedingungen (wie etwa eine Hochpreispolitik) nicht akzeptiert, welche von den zugelassenen Händlern hingegen akzeptiert
wurden904. Da die zum selektiven Vertriebssystem gehörenden Händler in die vom
Hersteller verfolgte Vertriebspolitik eingewilligt hätten, würde sich eine derartige
Nichtzulassung eines Außenseiters in die vertraglichen Beziehungen mit den zugelassenen Händlern einfügen905. Die einseitigen Maßnahmen seien somit Teil des
gesamten selektiven Vertriebssystems906.
Eine zweite Ansicht geht noch darüber hinaus und sieht auch dann, wenn die Vertriebspolitik des Herstellers im Einzelnen erst nach dem Beitritt des Händlers zum
selektiven Vertriebssystem festgelegt wird, diese späteren Ausgestaltungen der Vertriebspolitik als von einer Zustimmung der Händler getragen an. Denn die Zulassung
zum Händlernetz beinhalte ganz allgemein, dass die Händler die Vertriebspolitik des
Herstellers ausdrücklich oder stillschweigend akzeptierten907. Diese Auffassung hat
zur Konsequenz, dass es, um eine Zustimmung der Händler zu bejahen, keiner
spezifischen Klausel im Vertriebsvertrag bedarf, an welche die spätere einseitige
Maßnahme anknüpft bzw. auf die sich die spätere Maßnahme zurückführen lässt908.
Auch Walz zufolge ist es für das Vorliegen einer Vereinbarung ausreichend, dass
ein Händler Teil eines Vertriebsnetzes ist, innerhalb dessen er sich mit der grundsätzlichen Unternehmenspolitik des Herstellers einverstanden erklärt hat909. Die für
einen Händler nachteilige, scheinbar einseitig vorgenommene Maßnahme des Herstellers stelle dann eine Konkretisierung der Pflichten aus dem Vertriebsvertrag dar.
Diese Sichtweise trage auch der zivilrechtlichen Qualifikation der (Automobil-)Vertriebsverträge als Rahmenverträge Rechnung910.
Dieses Argument geht indes methodisch fehl. Denn für die gemeinschaftskartellrechtliche Frage, wann eine Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG vorliegt, ist die
zivilrechtliche Qualifikation der Vertriebsverträge nicht maßgeblich.
Walz fährt fort, eine derartige weite Auslegung des Vereinbarungsbegriffs sei
auch vom Ergebnis her zu begrüßen, da anderenfalls weite Bereiche unternehmerischen Verhaltens mangels einer Kontrolle relativer Marktmacht durch Art. 82 EG
auf europäischer Ebene nicht überprüft werden könnten; eine kartellrechtliche
904 Vgl. Papadimitriou, Belieferungsanspruch, S. 82 f.; ähnlich Enchelmaier, in:
Hailbronner/Wilms, EU/EG, Bd. III, Art. 81 Rn 15.
905 Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 81 Rn 51; Klotz, in: von der Groeben/Schwarze,
EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, nach Art. 81–Fallgruppen IV. Rn 185; ähnlich Gippini-Fournier, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 81 Rn 92; s. dazu auch
Eilmansberger, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 81 Rn 5.
906 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 9 Rn 6 a. E.
907 So die Kommission in ihrer Entscheidung VW II; s. Abl. L 262 v. 02.10.2001, 14, Rn 57; s.
hierzu auch EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-208/01, Slg. 2003, II-5141, Rn 25 f., 29, 40;
ähnlich wie die Kommission auch Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 81 Rn 54.
908 Vgl. Kommission, Entscheidung v. 29.06.2001, VW II, Abl. L 262 v. 02.10.2001, 14,
Rn 62 a. E.
909 A. Walz, Automobilvertrieb, S. 118.
910 A. Walz, Automobilvertrieb, S. 118 (Hervorhebungen nicht im Original).
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Unterbindung des Verhaltens auf der Basis nationaler Kartellgesetze wäre dagegen
angesichts der internationalen Verflechtung der wirtschaftlichen Strukturen (insbesondere im Automobilbereich) nur wenig effektiv und daher rechtspolitisch nicht
erstrebenswert911.
Dass eine derart ergebnisorientierte Lesart des Art. 81 I EG nicht überzeugt und
abzulehnen ist, wurde bereits dargelegt912. Gegen die Behauptung, eine Unterbindung mittels nationalen Kartellrechts wäre nur wenig effektiv, spricht zudem, dass
nach der neuen Kartellverfahrensverordnung die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten ohnehin für die Anwendung der Art. 81 und 82 EG in Einzelfällen
zuständig sind (Art. 5 S. 1 VO 1/2003)913. Bei der Prüfung des Anwendungsbereichs
dieser Normen aber ist es einer nationalen Kartellbehörde ohne Weiteres möglich,
parallel dazu nationales Kartellrecht, das sich gegen einseitige Maßnahmen richtet,
anzuwenden914. Der internationalen Verflechtung wirtschaftlicher Strukturen
möchten die nationalen Kartellbehörden mittels des neu geschaffenen Netzes
europäischer Wettbewerbsbehörden (ECN) beikommen915. All dies zeigt, dass
entgegen der Auffassung von Walz rechtspolitisch gesehen nichts für eine weite
Auslegung des Vereinbarungsbegriffs spricht.
Gegen die Auffassung, der Beitritt zu einem selektiven Vertriebssystem beinhalte
die antizipierte Zustimmung des Händlers zu einseitigen wettbewerbswidrigen Maßnahmen, spricht des Weiteren, dass ein Händler im Moment seines Beitritts zu
einem selektiven Vertriebsnetz einer Vertriebspolitik nur so weit zustimmen kann,
wie diese bereits festgelegt ist916. Allein aus der engen Bindung eines Vertriebshändlers an den Hersteller kann jedenfalls keine stillschweigende Zustimmung zu einseitigen Maßnahmen hergeleitet werden917.
Zudem erscheint insbesondere bei vertriebspolitischen Maßnahmen, die den Interessen der Vertriebshändler zuwiderlaufen – wie etwa im Ford-Fall die Nichtbelieferung mit rechtsgelenkten Fahrzeugen – äußerst fraglich, ob der bloße Beitritt zum
Vertriebssystem trotz dieser gegenläufigen Interessen bereits die Zustimmung zu
derartigen Maßnahmen beinhaltet918.
Eine zu weitreichende Einbeziehung einseitiger Maßnahmen, die in selektiven
Vertriebssystemen erfolgen, in den Koordinierungstatbestand Vereinbarung würde
911 A. Walz, Automobilvertrieb, S. 118 f.
912 S.o. 2. Kap. E. III. 2. c).
913 S. dazu z.B. Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 5 VO 1/2003 Rn 1, 10; Klees,
Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn 5.
914 Zu den genauen Voraussetzungen einer derartigen Anwendung nationalen Kartellrechts s.u. 6.
Kap. C.
915 S. hierzu die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des
Netzes der Wettbewerbsbehörden, Abl. C 101 v. 27.04.2004, 43; instruktiv dazu Klees,
Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn 63 ff.
916 Vgl. EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-208/01, Slg. 2003, II-5141, Rn 21.
917 Kritisch auch Hirsbrunner, EWS 2001, 129, 130.
918 Vgl. Lübbig, WuW 1991, 561, 568.
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die begrifflich klare Abgrenzung zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten
im Sinne des Art. 81 I EG verwischen und damit zu Rechtsunsicherheit führen919.
In Fällen, in denen der Vertriebsvertrag für sich genommen
wettbewerbsrechtskonform ist, kann zudem nicht angenommen werden, dass ein
Vertriebshändler durch Abschluss des Vertrages bereits einer späteren
wettbewerbswidrigen Vertragsentwicklung durch einseitige Maßnahmen des
Herstellers zugestimmt hat920.
II. Stellungnahme
Richtigerweise ist zu differenzieren: Eine dem Anschein nach einseitige Maßnahme
eines Lieferanten bzw. Herstellers gegenüber einem Außenseiter eines selektiven
Vertriebssystems lässt sich dann den Vertriebsverträgen mit den zugelassenen
Händlern zuordnen, wenn Hersteller und Händler bei Vertragsschluss vereinbart
haben, dass in Zukunft wettbewerbswidrige Maßnahmen gegenüber Außenseitern
des Systems angewendet werden sollen. In derartigen Fällen stellen die
Vertriebsverträge Vereinbarungen gemäß Art. 81 I EG dar. Denkbar ist auch, dass
Hersteller und zugelassene Händler sich im Wege aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen darauf verständigt haben, dass der Hersteller gegenüber Außenseitern
des Systems wettbewerbswidrige Maßnahmen ergreift921.
Hingegen bedeutet der bloße Beitritt eines Händlers zu einem selektiven Vertriebssystem nicht dessen Zustimmung zur gesamten zukünftigen Vertriebspolitik des
Herstellers und zu dessen späteren einseitigen Maßnahmen. Denn im Moment der
Unterzeichnung des Vertriebsvertrages, der meist auf eine langfristige Zusammenarbeit angelegt ist, ist es einem Händler nicht möglich, die zukünftige Entwicklung der
Vertriebspolitik seines Vertragspartners vorherzusehen. Würde man spätere einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen des Herstellers als Vereinbarung qualifizieren,
so träfe der Vorwurf des Wettbewerbsverstoßes auch den Händler.
Eine derart weitgehende Auslegung des Koordinierungstatbestandes
Vereinbarung würde dazu führen, dass sämtliche einseitige Maßnahmen in
selektiven Vertriebssystemen, wie etwa auch Boykott-Aufrufe oder Empfehlungen
des Herstellers, durch Art. 81 I EG erfasst würden922. Insbesondere hinsichtlich
unverbindlicher Preisempfehlungen stünde dies im Widerspruch zur gesetzlichen
919 Kritisch zu den EuGH-Urteilen AEG-Telefunken und Ford daher Wiedemann,
Gruppenfreistellungsverordnungen, Bd. I, AT Rn 180.
920 EuG v. 03.12.2003, VW II, Rs. T-208/01, Slg. 2003, II-5141, Rn 43-45; zustimmend Nolte,
in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Fallgruppen Rn 451.
921 Ähnlich Deselaers, Kontrahierungszwang, S. 32 f.
922 Zutreffende Analyse von J. Hoffmann, WRP 2004, 994, 995; dieser sieht hierin indes kein
Problem, sondern begrüßt ein derartiges Ergebnis (s. ebenda, S. 999).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.