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es daher der Betrachtung des Marktes und der jeweiligen Situation, in der die Wettbewerbsbeschränkung auftritt878. Eine derartige Vorgehensweise lässt sich auch als
„flexible Auslegung“ des Art. 81 I EG bezeichnen; diese wird auch vom EuG als
zulässig angesehen879. Demnach ist der wettbewerbsbeschränkende Charakter von
Vereinbarungen in deren wirtschaftlichem und rechtlichem Kontext zu bewerten880.
Die Voraussetzungen, unter denen EuGH und EuG selektive Vertriebssysteme für
mit Art. 81 I EG vereinbar halten881, ergeben sich aus einer derartigen „flexiblen
Auslegung“ des Kartellverbots. Diesen Rechtsprechungsvoraussetzungen ist aus diesem Grunde zuzustimmen – ohne dass es der Anerkennung einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason bedürfte.
D. Die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu einseitigen Maßnahmen in
selektiven Vertriebssystemen
I. Vorbemerkung
Das Zustandekommen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen richtet sich auch in selektiven Vertriebssystemen grundsätzlich nach
den allgemeinen, in dieser Untersuchung bereits ermittelten Prinzipien. Aus der
Rechtsnatur selektiver Vertriebssysteme könnten sich teilweise jedoch Besonderheiten hinsichtlich der rechtlichen Bewertung einseitiger Maßnahmen, die in diesen
vorgenommen werden, ergeben. Dieser Fragestellung ist im Folgenden nachzugehen. Als Ausgangspunkt sind hierfür zunächst die Leitentscheidungen zur Bewertung einseitiger Maßnahmen in selektiven Vertriebssystemen näher darzustellen,
welche in den Rechtssachen AEG-Telefunken und Ford ergingen. Im Anschluss
daran erscheint speziell zum Fall Ford eine kurze Stellungnahme angebracht.
II. Die Rechtssache AEG-Telefunken
1. Sachverhalt
Die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Telefunken AG“882 hatte ein selektives
Vertriebssystem für hochwertige Produkte der Unterhaltungselektronik, wie z.B.
Fernsehgeräte, bei der Kommission zur gemeinschaftskartellrechtlichen Freistellung
angemeldet. Dieses selektive Vertriebssystem war von der Kommission
878 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 724.
879 Vgl. EuG v. 18.09.2001, M 6 u.a./Kommission, Rs. T-112/99, Slg. 2001, II-2459, Rn 75 f.;
dazu auch Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 171.
880 Vgl. EuG v. 18.09.2001, M 6 u.a./Kommission, Rs. T-112/99, Slg. 2001, II-2459, Rn 76, 79.
881 S.o. 4. Kap. B. II. 1.
882 - im Folgenden: AEG-Telefunken -
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References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.