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II. Rule of Reason im Gemeinschaftskartellrecht?
1. Fragestellung und Diskussion
Fraglich ist nun, ob eine derart verstandene Rule of Reason auch im Gemeinschaftskartellrecht, im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „Verhinderung, Einschränkung
oder Verfälschung des Wettbewerbs“ in Art. 81 I EG, zur Anwendung kommen
kann. Dies hätte zur Folge, dass auf überwiegend wettbewerbsfördernde Absprachen
das Kartellverbot keine Anwendung finden würde, mithin die Rule of Reason als
tatbestandsausschließendes Element fungieren würde838.
René Joliet als einer der Hauptbefürworter einer gemeinschaftskartellrechtlichen
Rule of Reason versprach sich von dieser, im Gegensatz zu per se-Verboten, die
gründliche Analyse jedes Einzelfalls, unter Berücksichtigung auch ökonomischer
Erkenntnisse. Nur diese Herangehensweise würde zu einer effizienten Umsetzung
der durch Art. 81 I (ex-Art. 85 I) EG verfolgten Wettbewerbspolitik führen839. Er
trat ein für eine kraftvolle, effiziente europäische Wettbewerbspolitik, um der
Verbraucherseite die Vorteile des Gemeinsamen Marktes zu sichern. Eine derartige
Wettbewerbspolitik sah er mit einer Rule of Reason gewährleistet840.
Zudem führte er als Argument für eine Rule of Reason die Arbeitsüberlastung der
Kommission, das so genannte Massenproblem, an. Eine Rule of Reason würde verhindern, dass die Kommission mit Freistellungsanträgen „überschwemmt“ würde
und würde es der Kommission infolgedessen ermöglichen, die wirklich ernsthaften
Wettbewerbsbeschränkungen effizienter zu bekämpfen841.
Das Argument der Arbeitsüberlastung der Kommission, so eine solche denn überhaupt existiert haben sollte, überzeugt indes heutzutage nicht mehr. Denn das Anmeldesystem der VO 17/62 wurde mit Inkrafttreten der VO 1/2003 durch das System der Legalausnahme ersetzt (vgl. Art. 1 II VO 1/2003)842. Da Vereinbarungen,
Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen somit nicht mehr anzumelden sind, kann es zu keiner Arbeitsüberlastung der Kommission kommen843. Es
ist folglich nicht erforderlich, die Kommission mittels einer einschränkenden Auslegung des Art. 81 I EG im Wege einer Rule of Reason zu entlasten.
Auch Joliets Argument, eine Rule of Reason stehe für gründliche Einzelfallanalysen unter Einbeziehung ökonomischer Erkenntnisse, ist nicht zwingend. Eine
derartige Vorgehensweise ist auch möglich, ohne eine Rule of Reason im Gemeinschaftskartellrecht zuzulassen.
838 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 720; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/
EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 92.
839 Joliet, Rule of Reason, S. 183-185.
840 Joliet, Rule of Reason, S. 188 f.
841 Joliet, Rule of Reason, S. 189.
842 S. zum System der Legalausnahme auch bereits o. 2. Kap. B. IV. 1. b).
843 Ebenso Lenk, Ausnahme standesrechtlicher Werbeverbote, S. 162; dies., Vortrag beim
Geburtstagskolloquium für Müller-Graff am 15.10.05 in Heidelberg.
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2. Anhaltspunkte für eine Rule of Reason in der Rechtsprechung zu selektiven
Vertriebssystemen
Das Hauptargument für eine Rule of Reason im Gemeinschaftskartellrecht ist indessen die Tatsache, dass sich einige Urteile des EuGH dergestalt interpretieren
lassen, dass sie Anwendungsfälle einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason darstellen. Hierzu zählen auch Leitentscheidungen bezüglich der Bewertung
selektiver Vertriebssysteme, welche im Kontext dieser Untersuchung näher interessieren. So hat der Gerichtshof in seiner Metro-Rechtsprechung selektive
Vertriebssysteme unter den bereits oben844 dargestellten Voraussetzungen für mit
Art. 81 I EG vereinbar erklärt. In diesem Zusammenhang stellte er zwar Beschränkungen des Preiswettbewerbs zwischen Händlern des selektiven Vertriebssystems
fest845; das Vorhandensein anderer Faktoren des intrabrand-Wettbewerbs sowie ein
wirksamer interbrand-Wettbewerb846 führten gleichwohl dem EuGH zufolge dazu,
dass insgesamt betrachtet dennoch keine Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 81 I
EG vorlag847. Der EuGH erkennt somit hinsichtlich selektiver Vertriebssysteme legitime Bedürfnisse an, die eine Einschränkung des Preiswettbewerbs zugunsten eines
andere Faktoren als die Preise betreffenden Wettbewerbs rechtfertigen848. Insbesondere ein wirksamer Wettbewerb zwischen den Vertriebshändlern im Bereich der
Qualität der Kundendienstleistungen kann demnach Beschränkungen des Preiswettbewerbs aufheben849.
Aufgrund insbesondere dieser Entscheidungspraxis lässt sich nun die Behauptung
aufstellen, der EuGH habe wettbewerbsbeschränkende und wettbewerbsfördernde
Elemente im Sinne einer Rule of Reason gegeneinander abgewogen. So sind etwa
für Ackermann zahlreiche Urteile des EuGH wie auch des EuG zum
Tatbestandsmerkmal der Wettbewerbsbeschränkung nur auf der Grundlage eines
Konzepts der wettbewerblichen Würdigung, welches wettbewerbliche Vor- und
Nachteile berücksichtigt, zu erklären. Er tritt demzufolge ein für die volle
Anerkennung einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason850. Auch
Tilmann sieht das EuGH-Urteil Metro I als ein Beispiel für die Existenz eines den
Tatbestand des Kartellverbots einschränkenden, wertenden Elementes an, welches
der US-amerikanischen Rule of Reason vergleichbar sei851.
844 S.o. 4. Kap. B. II. 1.
845 Der EuGH spricht von einer „gewissen Starrheit der Preisstruktur“; s. EuGH v. 25.10.1977,
Metro/Kommission (Metro I), Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875, Rn 22.
846 Näher zu diesen beiden Termini s.o. 1. Kap. B. I. a. E.
847 EuGH v. 25.10.1977, Metro/Kommission (Metro I), Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875, Rn 22;
bestätigt durch EuGH v. 25.10.1983, AEG-Telefunken/Kommission, Rs. 107/82, Slg. 1983,
3151, Rn 33-35; EuGH v. 22.10.1986, Metro/Kommission (Metro II), Rs. 75/84, Slg. 1986,
3021, Rn 34-47, insb. Rn 40, 45; s. zu dieser Rechtsprechung auch C. Mayer, Ziele und
Grenzen des Kartellverbots, S. 105 f.
848 EuGH v. 25.10.1983, AEG-Telefunken/Kommission, Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151, Rn 33.
849 EuGH v. 22.10.1986, Metro/Kommission (Metro II), Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021, Rn 45.
850 Ackermann, Rule of Reason, S. 207.
851 Tilmann, Wirtschaftsrecht, S. 294; vgl. zu dieser Argumentation auch Brinker, in: Schwarze,
EU-Kommentar, Art. 81 Rn 44.
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3. Kritik des Konzeptes einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason
Bei der Erörterung des Problems, ob bezüglich Art. 81 I EG eine Rule of Reason
anzuerkennen ist, darf indes die gemeinschaftskartellrechtliche Kompetenzverteilung
nicht außer Acht gelassen werden. Unter Geltung der alten VO 17/62 besaß die
Kommission die ausschließliche Zuständigkeit, Vereinbarungen, Beschlüsse oder
abgestimmte Verhaltensweisen gemäß Art. 81 III EG freizustellen (Art. 9 I VO
17/62). Hinsichtlich der Anwendung des Art. 81 I EG bestanden hingegen
konkurrierende Zuständigkeiten der Kommission, der nationalen Gerichte852 sowie,
solange die Kommission kein Verfahren einleitete (vgl. Art. 9 III VO 17/62), auch
von nationalen Kartellbehörden853. Eine Rule of Reason hätte es nationalen Gerichten und Behörden folglich ermöglicht, das Freistellungsmonopol der Kommission zu
umgehen, indem sie bereits bei Prüfung des Art. 81 I EG Absprachen aus dem
Anwendungsbereich des Kartellverbots herausnehmen hätten können. Des Weiteren
bestand auch für den EuGH – vor allem in Vorabentscheidungsverfahren, parallel zu
denen keine Möglichkeit einer Freistellung der Vereinbarung durch die Kommission
gemäß Art. 81 III EG bestand – die Versuchung, die Gesichtspunkte, die an sich im
Freistellungsverfahren zu berücksichtigen wären, bereits in die Prüfung der Tatbestandsmerkmale des Art. 81 I EG einzubeziehen854.
Aufgrund dieser Problematik vermuteten manche Autoren gar, die Bestrebungen
zur Durchsetzung einer Rule of Reason beruhten auf dem Wunsch, das Freistellungsmonopol der Kommission auf genau diese Art und Weise zu umgehen855.
Unabhängig davon, ob ein derartiger Wunsch bei allen Befürwortern einer
gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason tatsächlich bestand856, ist daran
jedenfalls richtig, dass eine solche Umgehung des Freistellungsmonopols gegen die
differenzierte Anwendungszuständigkeit für Art. 81 EG verstoßen hätte und daher
abzulehnen war857. Eine einheitliche europäische Wettbewerbspolitik wäre durch
eine derartige Anwendung einer Rule of Reason erschwert worden858. Bereits unter
Geltung der VO 17/62 überzeugte das Konzept der gemeinschaftskartellrechtlichen
Rule of Reason folglich nicht.
Durch die neue Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 wurde indes das System
der Legalausnahme geschaffen (vgl. Art. 1 II VO 1/2003), das Freistellungsmonopol
852 S. nur Ritter, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. II (1. Aufl.), Art. 9
VO 17 Rn 8.
853 Vgl. hierzu Ritter, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. II (1. Aufl.), Art. 9
VO 17 Rn 13 f.
854 Vgl. Everling, WuW 1990, 995, 999.
855 Emmerich spricht in diesem Zusammenhang pointiert von „Bestrebungen zur
Renationalisierung der Wettbewerbspolitik“, denen unter keinen Umständen Vorschub
geleistet werden sollte; in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.),
Art. 85 Abs. 1 A. Rn 259.
856 Für Ackermann etwa ist die Rule of Reason „kein Notbehelf zum Ausgleich institutioneller
oder verfahrenstechnischer Schwächen“ (s. Rule of Reason, S. 111).
857 Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 84.
858 Vgl. Müller-Graff, EuR 1992, 1, 3; gute Darstellung dieses Argumentes, jedoch a.A. Joliet,
Rule of Reason, S. 190.
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der Kommission besteht nun nicht mehr. Selbst wenn man in der Vergangenheit ein
praktisches Bedürfnis dafür anerkannt hätte, Art. 81 I EG mittels einer Rule of Reason einzuschränken, um nicht auf eine Freistellungsentscheidung der Kommission
angewiesen zu sein, so existiert ein derartiges Bedürfnis heutzutage somit nicht länger. Denn es trifft zwar zu, dass die Beantwortung der Frage, ob wettbewerbsfördernde Gesichtspunkte bereits im Rahmen von Art. 81 I EG oder erst bei Art. 81 III
EG zu berücksichtigen sind, weiterhin Auswirkungen auf die Beweislast hat859.
Entscheidend ist jedoch, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission zur
Anwendung des Art. 81 III EG entfallen ist. Dieses wichtige Motiv für die Praxis,
Art. 81 I EG einschränkend auszulegen, besteht mithin nicht mehr.
Des Weiteren sprechen auch wettbewerbstheoretische Erwägungen gegen die Anerkennung einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason. Es wurde bereits
dargelegt, dass in dieser Untersuchung systemtheoretische Wettbewerbskonzepte
wie dasjenige des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit und dasjenige des
Ordoliberalismus favorisiert werden860. Diese Wettbewerbskonzepte freilich lehnen
die Rule of Reason ab und treten vielmehr für per se-Verbote zur Sicherung des
Wettbewerbssystems ein861. Denn vom systemtheoretischen Ansatz aus erscheint es
verfehlt, das Kartellrecht so auszugestalten, dass in jedem konkreten Einzelfall die
wahrscheinlichen positiven und negativen Folgen abgeschätzt werden müssen862.
Gegen eine Übernahme der Rule of Reason in das Gemeinschaftskartellrecht werden zudem auch allgemeine methodische Bedenken aus dem Grunde geäußert, dass
diese Regel dem US-amerikanischen Recht und damit dem angelsächsischen
Rechtskreis entstammt863. In der Tat gelten in diesem andere Anwendungsprinzipien
als im Europarecht.
Die Überzeugungskraft des Postulats einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of
Reason ist außerdem anhand einer systematisch-teleologischen Auslegung des
Art. 81 EG, unter rechtsvergleichender Heranziehung des US-Antitrustrechts, zu
überprüfen. In den USA enthält Sec. 1 Sherman Act keinen Art. 81 III EG entsprechenden Freistellungstatbestand; Ausnahmen vom Kartellverbot bestehen lediglich
in Spezialgesetzen864. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, Sec. 1 Sherman Act im
Wege einer Rule of Reason einschränkend auszulegen.
Im Gegensatz dazu ist Norminhalt des Art. 81 EG ein grundsätzliches Verbot
(Abs. 1) mit Legalausnahme (Abs. 3)865. Aus dieser Art. 81 EG innewohnenden
Systematik aber folgt, dass für die Bilanzierung der Vorteile und Nachteile
wettbewerbsbeschränkender Absprachen allein Art. 81 III EG eine Rechtsgrundlage
859 Vgl. Art. 2 VO 1/2003; dazu Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 172.
860 S.o. 1. Kap. B. V. 5. u. VII.
861 Clapham, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 129, 139; s. auch bereits o. 1. Kap. B. IV.
1. sowie 1. Kap. B. V. 4.
862 Hoppmann, in: ders./Mestmäcker, Normenzwecke und Systemfunktionen, 5, 14.
863 S. Gayk, Restriktionen des Tatbestandes, S. 175 f.
864 S. zu diesen Ausnahmen nur I. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 256 f.
865 Vgl. dazu allg. Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 7 Rn 27, 29.
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bietet. Der Regelungsmechanismus des Art. 81 EG erfasst somit in Absatz 1 grundsätzlich alle wettbewerbsbeschränkenden Absprachen, welche aber eventuell nach
Absatz 3 freigestellt sein können866.
Unabhängig von dieser ohnehin vorgegebenen Systematik des Art. 81 EG
erscheint es auch juristisch präziser, die wettbewerbsfördernden Auswirkungen einer
Absprache nicht am Tatbestandsmerkmal „Wettbewerbsbeschränkung“ in Absatz 1,
sondern vielmehr an der ausdifferenzierten Vorschrift des Absatzes 3 zu messen.
Eine – zusätzlich zur Prüfung nach Absatz 3 vorzunehmende – Anwendung der
Rule of Reason bereits im Rahmen des Absatzes 1 würde den Anwendungsbereich
des Absatzes 3 in nicht überzeugender Weise einschränken. Denn die letzten beiden
Tatbestandsmerkmale des Art. 81 III EG, „Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung“ und „keine Möglichkeiten zur Ausschaltung des Restwettbewerbs“,
gingen in einer derartigen Rule of Reason-Prüfung auf867.
Diese Argumentation weist jedoch Caspar zurück, derzufolge auch bei einer umfassenden wettbewerblichen Würdigung von Vereinbarungen im Rahmen von
Art. 81 I EG dennoch Art. 81 III EG einen eigenständigen Anwendungsbereich
behält. Denn zum einen würde Art. 81 III EG ohne Weiteres auch die
Berücksichtigung außerwettbewerblicher Wirkungen, wie etwa industriepolitischer
Umstände, ermöglichen868. Zum anderen würde Absatz 3 „besonders schwierige
Fälle“ erfassen, deren Bewertung besonders sorgfältige Abwägungsprozesse –
häufig politischer Art – erfordere869.
Selbst wenn man Caspar zugestünde, dass Art. 81 III EG auch dann einen eigenständigen Anwendungsbereich behielte, wenn wettbewerbsfördernde Gesichtspunkte
bereits im Rahmen des Absatzes 1 zum Tragen kämen: Dieses Argument ändert
nichts an der vom Primärrecht vorgegebenen Systematik des Art. 81 EG. Diese aber
schließt es, wie soeben dargelegt, aus, wettbewerbsfördernde Gesichtspunkte bereits
bei Prüfung des Tatbestandsmerkmals „Wettbewerbsbeschränkung“ mit wettbewerbsbeschränkenden Aspekten zu saldieren.
Die systematisch-teleologische Auslegung ergibt somit, dass das Konzept einer
gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason nicht überzeugt.
Auch der EuGH selbst hat sich in seiner Rechtsprechung nie zu einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason bekannt, obwohl Gelegenheit dazu bestanden
866 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 92; Brinker, in:
Schwarze, EU-Kommentar, Art. 81 Rn 43; Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren,
S. 170; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.) Art. 85
Abs. 1 A. Rn 259; ähnlich auch EuG v. 18.09.2001, M 6 u.a./Kommission, Rs. T-112/99, Slg.
2001, II-2459, Rn 73 f.
867 Brinker, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 81 Rn 45; ähnlich auch Reymann, demzufolge
eine Rule of Reason Art. 81 III EG „aushöhlen“ würde (s. Immanente Schranken, S. 261).
868 Caspar, Wettbewerbliche Gesamtwürdigung, S. 33. – Der Autorin zufolge würde eine
wettbewerbliche Gesamtwürdigung im Rahmen von Art. 81 I EG aber auch im Bereich rein
wettbewerblicher Erwägungen den Absatz 3 „keineswegs leer laufen lassen“; s. ebenda,
S. 36.
869 Caspar, Wettbewerbliche Gesamtwürdigung, S. 34 f.; beachtliche Kritik an dieser
Argumentation äußert Wagner-von Papp (s. Marktinformationsverfahren, S. 170 Fn. 618).
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hätte870. Zudem darf nicht übersehen werden, dass den oben erörterten Urteilen eine
Reihe von anderen Fällen gegenüberstehen, in denen der EuGH recht streng geurteilt
hat871. Hinzu kommt, dass die Vorgehensweise des EuGH eine andere ist als diejenige amerikanischer Gerichte. Der EuGH nimmt keine Abwägung vor, sondern ihm
geht es vielmehr um die Feststellung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen
einer Vereinbarung im Markt872. Die oben erörterten Urteile, die in Richtung auf
eine Rule of Reason interpretiert wurden, betreffen letztlich Sonderfälle873; sie sind
daher nicht Ausfluss einer allgemeinen Rule of Reason im EG-Kartellrecht.
Gegen eine derartige Regel spricht zudem ein Weiteres: Die Wettbewerbsregeln
des EG-Vertrages haben ihre geistigen Wurzeln letztlich in den Grundprinzipien der
Freiheit und der Gleichheit, welche in den Zielbestimmungen des Vertrages verankert sind und zu deren Durchsetzung, neben anderen Vorschriften, auch die
Wettbewerbsregeln berufen sind874. Diese dienen außerdem dem Ziel, auf
wirtschaftliche Gerechtigkeit hinzuwirken. Dies zeigt sich positiv-rechtlich etwa
darin, dass in Art. 81 III EG die „angemessene Beteiligung der Verbraucher an dem
entstehenden Gewinn“ verlangt wird875.
Die Rule of Reason hingegen nimmt, wie oben aufgezeigt, eine ausschließlich
ökonomische Sichtweise ein und fragt nach den Auswirkungen einer Vereinbarung
auf die Wettbewerbsbedingungen. Ein derartiger reiner bilan économique aber steht
im Widerspruch zur freiheits- und gleichheitssichernden Funktion der Wettbewerbsregeln876.
Aus alldem ergibt sich, dass für das Gemeinschaftsrecht das Konzept der Rule of
Reason abzulehnen ist.
Außer Frage steht gleichwohl, dass nur bei sinngemäßer Anwendung der Voraussetzungen des Art. 81 I EG angemessene Ergebnisse erzielt werden können877. Zur
Beurteilung, ob eine Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 81 I EG vorliegt, bedarf
870 So etwa bereits in der Rechtssache Consten und Grundig, in der die Klägerin Consten und die
deutsche Regierung sich auf eine Rule of Reason berufen hatten (s. EuGH v. 13.07.1966,
Consten und Grundig, Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 322, 366); vgl. auch Frenz, Handbuch
Europarecht, Bd. 2, Rn 721.
871 So beispielsweise in der Rechtssache Binon, in welcher der EuGH eine Preisbindung im
Rahmen eines selektiven Vertriebssystems für Presseerzeugnisse kategorisch als Verstoß
gegen Art. 81 I EG wertete und lediglich auf die Möglichkeit einer Freistellung nach
Art. 81 III EG verwies (s. EuGH v. 03.07.1985, Binon, Rs. 243/83, Slg. 1985, 2034, Rn 44-
47; vgl. dazu auch Everling, WuW 1990, 995, 1002 f.).
872 Everling, WuW 1990, 995, 1003.
873 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 92; Brinker, in:
Schwarze, EU-Kommentar, Art. 81 Rn 45; ähnlich auch Gayk, Restriktionen des
Tatbestandes, S. 178.
874 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 31 Rn 4; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze,
EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 92.
875 Drexl, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 747, 769; s. zu diesem
Freistellungskriterium allg. Müller-Graff, EuR 1992, 1, 25 f.
876 Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV, Art. 85 Rn 84; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2,
Rn 722; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn 92.
877 Vgl. Everling, WuW 1990, 995, 1004.
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es daher der Betrachtung des Marktes und der jeweiligen Situation, in der die Wettbewerbsbeschränkung auftritt878. Eine derartige Vorgehensweise lässt sich auch als
„flexible Auslegung“ des Art. 81 I EG bezeichnen; diese wird auch vom EuG als
zulässig angesehen879. Demnach ist der wettbewerbsbeschränkende Charakter von
Vereinbarungen in deren wirtschaftlichem und rechtlichem Kontext zu bewerten880.
Die Voraussetzungen, unter denen EuGH und EuG selektive Vertriebssysteme für
mit Art. 81 I EG vereinbar halten881, ergeben sich aus einer derartigen „flexiblen
Auslegung“ des Kartellverbots. Diesen Rechtsprechungsvoraussetzungen ist aus diesem Grunde zuzustimmen – ohne dass es der Anerkennung einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason bedürfte.
D. Die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu einseitigen Maßnahmen in
selektiven Vertriebssystemen
I. Vorbemerkung
Das Zustandekommen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen richtet sich auch in selektiven Vertriebssystemen grundsätzlich nach
den allgemeinen, in dieser Untersuchung bereits ermittelten Prinzipien. Aus der
Rechtsnatur selektiver Vertriebssysteme könnten sich teilweise jedoch Besonderheiten hinsichtlich der rechtlichen Bewertung einseitiger Maßnahmen, die in diesen
vorgenommen werden, ergeben. Dieser Fragestellung ist im Folgenden nachzugehen. Als Ausgangspunkt sind hierfür zunächst die Leitentscheidungen zur Bewertung einseitiger Maßnahmen in selektiven Vertriebssystemen näher darzustellen,
welche in den Rechtssachen AEG-Telefunken und Ford ergingen. Im Anschluss
daran erscheint speziell zum Fall Ford eine kurze Stellungnahme angebracht.
II. Die Rechtssache AEG-Telefunken
1. Sachverhalt
Die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Telefunken AG“882 hatte ein selektives
Vertriebssystem für hochwertige Produkte der Unterhaltungselektronik, wie z.B.
Fernsehgeräte, bei der Kommission zur gemeinschaftskartellrechtlichen Freistellung
angemeldet. Dieses selektive Vertriebssystem war von der Kommission
878 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 2, Rn 724.
879 Vgl. EuG v. 18.09.2001, M 6 u.a./Kommission, Rs. T-112/99, Slg. 2001, II-2459, Rn 75 f.;
dazu auch Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 171.
880 Vgl. EuG v. 18.09.2001, M 6 u.a./Kommission, Rs. T-112/99, Slg. 2001, II-2459, Rn 76, 79.
881 S.o. 4. Kap. B. II. 1.
882 - im Folgenden: AEG-Telefunken -
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.