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II. Zulässigkeitsvoraussetzungen
1. Voraussetzungen der Vereinbarkeit eines selektiven Vertriebssystems mit
Art. 81 I EG
Dadurch, dass Händler von der Belieferung ausgeschlossen werden, die bestimmte
qualitative oder quantitative Merkmale nicht erfüllen, wird der Wettbewerb durch
selektive Vertriebssysteme in gewisser Weise beeinträchtigt812. Insbesondere der
markeninterne Wettbewerb (intra-brand-Wettbewerb) zwischen den Händlern wird
tendenziell eingeschränkt813.
Dennoch fallen geschlossene selektive Vertriebssysteme dem EuGH zufolge
mangels Wettbewerbsbeschränkung regelmäßig dann nicht unter Art. 81 I EG, wenn
sie durch die Beschaffenheit der Waren oder Dienstleistungen gerechtfertigt sind,
die Wiederverkäufer aufgrund objektiver Kriterien qualitativer Art ausgewählt
werden, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals
und seiner sachlichen Ausstattung beziehen, wenn diese Kriterien einheitlich
festgelegt sind und diskriminierungsfrei gehandhabt werden (Grundsatz der
Nichtdiskriminierung) und die aufgestellten Selektionskriterien nicht über das
erforderliche Maß hinausgehen814. Da Art. 81 I EG auf Selektivvertriebssysteme, die
diese Voraussetzungen erfüllen, keine Anwendung findet, bedürfen diese somit
keiner Freistellung gemäß Art. 81 III EG. Der Grund für die Vereinbarkeit derartiger
Selektivvertriebssysteme mit Art. 81 I EG liegt darin, dass die mit ihnen
einhergehenden Beschränkungen auf eine Verbesserung des Wettbewerbs abzielen,
da die Einschränkung des Preiswettbewerbs unter den Händlern zugunsten eines
andere Faktoren als die Preise betreffenden Wettbewerbs (z.B. Serviceleistungen)
gerechtfertigt ist815, 816.
812 Vgl. Glöckner, WRP 2003, 1327, 1328; Kommission, Leitlinien für vertikale
Beschränkungen, Rn 185.
813 Baron, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Vertikal-GVO Rn 209;
vgl. auch Bergmann, ZWeR 2004, 28, 31; Harte-Bavendamm, in: FS Erdmann, 571, 578.
814 EuGH v. 25.10.1977, Metro/Kommission (Metro I), Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875, Rn 20 f.;
bestätigt durch EuGH v. 11.12.1980, L’Oréal/De Nieuwe Amck, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775,
Rn 15 f.; EuGH v. 25.10.1983, AEG-Telefunken /Kommission, Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151,
Rn 35; EuGH v. 22.10.1986, Metro/Kommission (Metro II), Rs. 75/84, Slg. 1986, 3021,
Rn 34-47; vgl. auch, teilweise jedoch mit terminologischen Unterschieden, Beutelmann,
Selektive Vertriebssysteme, S. 59 f.; Bechtold, NJW 2003, 3729, 3731; Harte-Bavendamm,
in: FS Erdmann, 571, 574; Kirchhoff, in: Wiedemann, Handbuch, § 10 Rn 43; Lübbert, in:
Wiedemann, Handbuch, § 28 Rn 21; Klotz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag,
Bd. 2, nach Art. 81-Fallgruppen IV. Rn 177; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 81
Rn 198; Nolte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Fallgruppen Rn 617 f.; BGH v.
12.05.1998, Depotkosmetik, KZR 23/96, WuW/E DE-R 206 = WuW 1998, 1202, 1203 f.
815 Vgl. EuGH v. 25.10.1983, AEG-Telefunken/Kommission, Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151, Rn 33-
35 (Hervorhebung nur hier); EuGH v. 25.10.1977, Metro/Kommission (Metro I), Rs. 26/76,
Slg. 1977, 1875, Rn 21 f.; zustimmend Beutelmann, Selektive Vertriebssysteme, S. 206.
816 Ein derartiges selektives Vertriebssystem kann allerdings dennoch gegen Art. 81 I EG
verstoßen, wenn die Zahl derartiger Systeme auf einem Markt „keinen Raum mehr für
Vertriebsformen lässt, denen eine andere Wettbewerbspolitik zugrunde liegt, oder wenn sie
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Diese soeben aufgezählten Zulässigkeitsvoraussetzungen selektiver Vertriebssysteme, welche auch dieser Untersuchung zugrunde zu legen sind, werden
typischerweise von selektiven Vertriebssystemen erfüllt, die als einfache Fachhandelsbindung ausgestaltet sind817.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen behalten auch unter der heutigen Geltung der
Vertikal-GVO ihre Bedeutung. Insbesondere hat die Kommission in den die
Vertikal-GVO ergänzenden Leitlinien für vertikale Beschränkungen auf die
dargestellten Grundsätze der Rechtsprechung ausdrücklich Bezug genommen und
diese damit bestätigt818. Die Frage, ob ein selektives Vertriebssystem dem
Anwendungsbereich des Art. 81 I EG unterfällt, ist somit auch heute noch auf der
Grundlage der bisherigen Entscheidungspraxis zu prüfen819. Falls demnach ein
selektives Vertriebssystem bereits gemäß Art. 81 I EG den Wettbewerb nicht
spürbar beschränkt, hat die Vertikal-GVO keine Bedeutung820; diese kann erst
eingreifen, wenn der Tatbestand des Art. 81 I EG erfüllt ist.
2. Voraussetzung der Lückenlosigkeit des selektiven Vertriebssystems?
Fraglich ist, ob ein selektives Vertriebssystem als weitere Voraussetzung für seine
Vereinbarkeit mit Art. 81 I EG Lückenlosigkeit aufweisen muss. Lückenlosigkeit
liegt vor, wenn sich ein nicht zum selektiven Vertriebssystem zugelassener Händler
vertriebsgebundene Waren nur durch Beteiligung an einem Vertragsbruch eines zum
System gehörenden Händlers beschaffen kann821.
Die im deutschen Recht entwickelte Voraussetzung der Lückenlosigkeit ist indes
den Rechtsordnungen fast aller übrigen Mitgliedsstaaten fremd822. Zudem hätte ein
Erfordernis der Lückenlosigkeit die paradoxe Folge, dass die starrsten und geschloszu einer Starrheit der Preisstruktur führt, die nicht durch andere Faktoren des Wettbewerbs
[...] aufgewogen wird“ (EuGH v. 22.10.1986, Metro/Kommission (Metro II), Rs. 75/84, Slg.
1986, 3021 = WuW/E EWG/MUV 777 = WuW 1988, 243, Rn 40; s. hierzu auch Reinhardt,
Paradigmenwechsel?, S. 170-174). – In der Rechtssache JCB/Kommission hat das EuG die
soeben dargestellten Grundsätze auch auf ein „atypisches, einem selektiven Vertriebssystem
jedoch sehr ähnliches Vertriebssystem“ angewandt (EuG v. 13.01.2004, JCB/Kommission,
Rs. T-67/01, Slg. 2004, II-49, Rn 131 f.; s. hierzu Völcker, CMLR 42 (2005), 1691, 1706 f.).
817 Bei einer einfachen Fachhandelsbindung sind die Händler und u. U. auch der Lieferant selbst
verpflichtet, die Vertragswaren nur an Endkunden oder Wiederverkäufer, die zum selektiven
Vertriebssystem zugelassen sind, zu veräußern (s. z.B. Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-
GVO, Rn 91 a; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 81 Rn 197).
818 Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Abl. C 291 v. 13.10.2000, 1, Rn 185; s.
dazu auch Schuhmacher, in: Liebscher/Flohr/Petsche, Gruppenfreistellungsverordnungen, § 9
Rn 45.
819 Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rn 105 f.; vgl. auch Klotz, in: von der
Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, nach Art. 81-Fallgruppen IV. Rn 177.
820 Baron, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Vertikal-GVO Rn 203.
821 EuGH v. 13.01.1994, Metro/Cartier, Rs. C-376/92, Slg. 1994, I-30, Rn 21.
822 EuGH v. 13.01.1994, Metro/Cartier, Rs. C-376/92, Slg. 1994, I-30, Rn 25.
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sensten Vertriebssysteme günstiger behandelt würden als die flexibleren, welche
dem Parallelhandel stärker geöffnet sind823. Ob ein selektives Vertriebssystem
theoretische Lückenlosigkeit aufweist oder praktisch lückenlos gehandhabt wird,
stellte daher nach Gemeinschaftskartellrecht, anders als im deutschen Recht, zu
Recht niemals eine Tatbestandsvoraussetzung für seine Rechtswirksamkeit dar824.
Auch für die Frage, ob ein selektives Vertriebssystem unter die speziellen Vorschriften bezüglich selektiver Vertriebssysteme fällt, die in der Vertikal-GVO niedergelegt sind, ist seine Lückenlosigkeit unerheblich825.
C. Rule of Reason bei selektiven Vertriebssystemen?
Selektive Vertriebssysteme fallen mithin bereits nicht unter Art. 81 I EG, wenn die
soeben dargestellten Voraussetzungen erfüllt sind; eine Prüfung des Freistellungstatbestandes des Art. 81 III EG erübrigt sich dann. Diese Entscheidungspraxis von
Kommission und Gemeinschaftsgerichten aber wirft die Frage auf, ob in dieser Bewertung selektiver Vertriebssysteme ein Anwendungsfall einer gemeinschaftskartellrechtlichen Rule of Reason zu erblicken ist.
I. Ursprung und Inhalt der Rule of Reason
Die Rule of Reason entstammt dem US-amerikanischen Antitrustrecht. Dieses verbietet zwar in Sec. 1 Sherman Act in kategorischer Weise horizontale und vertikale
wettbewerbsbeschränkende Kooperationsformen. Der U.S. Supreme Court826 entwickelte jedoch die Rule of Reason als allgemeine Auslegungsregel der Sec. 1
Sherman Act. Demnach sind lediglich solche Absprachen gemäß Sec. 1 Sherman
Act verboten, die die wirtschaftliche Handlungsfreiheit unangemessen
beeinträchtigen und daher als „unreasonable“ einzustufen sind827. Die Rule of
Reason stellt somit eine teleologische Reduktion der Sec. 1 Sherman Act dar828.
823 EuGH v. 13.01.1994, Metro/Cartier, Rs. C-376/92, Slg. 1994, I-30, Rn 26.
824 Vgl. Smid, RIW 1995, 191, 192; Bergmann, ZWeR 2004, 28, 33; Büttner,
Vertriebsbindungen, Rn 172; Klotz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2,
nach Art. 81-Fallgruppen IV. Rn 173; EuGH v. 13.01.1994, Metro/Cartier, Rs. C-376/92,
Slg. 1994, I-30, Rn 28; Nolte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Fallgruppen
Rn 628 a.E.; Harte-Bavendamm, in: FS Erdmann, 571, 574 f.
825 Veelken, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Vertikal-VO Rn 227;
Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rn 114.
826 Seit der Entscheidung Standard Oil Co. of New Jersey v. U.S., 221 U.S. 1 (1911).
827 I. Schmidt, in: Cox/Jens/Markert (Hrsg.), Handbuch, 533, 538; ders., Wettbewerbspolitik,
S. 256; Ackermann, Rule of Reason, S. 50; Brinker, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 81
Rn 42.
828 Wagner-von Papp, Marktinformationsverfahren, S. 170.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.