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Viertes Kapitel: Einseitige Maßnahmen speziell in selektiven
Vertriebssystemen
A. Einführung in die Problematik
Im bisherigen Verlauf dieser Untersuchung wurden rechtliche Kriterien der Abgrenzung einseitiger wettbewerbswidriger Maßnahmen von Vereinbarungen sowie
von aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Vertikalverhältnis ermittelt; die
einschlägige Entscheidungspraxis wurde im Hinblick auf diese Kriterien aufgearbeitet. Die bisherigen Ergebnisse dieser Untersuchung betreffen laufende Geschäftsverbindungen, welche regelmäßig auf einem – mündlich oder schriftlich geschlossenen
– Rahmenvertrag beruhen; sie gelten grundsätzlich auch für selektive Vertriebssysteme.
In der Folge bedürfen gleichwohl einseitige Maßnahmen in selektiven Vertriebssystemen noch gesonderter Untersuchung, dies vor allem aus zwei Gründen: Zum
einen stellt in einem selektiven Vertriebssystem der Lieferant bzw. Hersteller regelmäßig besondere Kriterien auf, von deren Erfüllung die Aufnahme jedes
Vertriebshändlers ins System abhängt802. Aufgrund dieser besonderen Anforderungen, die an jeden Händler gestellt werden, ist denkbar, dass bereits der Beitritt eines
Händlers zum selektiven Vertriebssystem als antizipierte Zustimmung zu späteren
einseitigen Maßnahmen des Herstellers zu werten ist. Wäre dies der Fall, so führten
einseitige Maßnahmen in einem selektiven Vertriebssystem stets zu einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise; dies wird zu überprüfen sein (E.).
Zum anderen sind hinsichtlich selektiver Vertriebssysteme besondere,
ursprünglich vom EuGH entwickelte Voraussetzungen zu beachten, unter denen ein
selektives Vertriebssystem als mit Art. 81 I EG vereinbar anzusehen ist803. Damit
aber stellt sich die Frage, ob diese Zulässigkeitsvoraussetzungen selektiver
Vertriebssysteme auch zu anderen Maßstäben für die Bewertung einseitiger
Maßnahmen führen, als sonst im Vertikalverhältnis gelten (F.).
Um einseitige Maßnahmen in selektiven Vertriebssystemen untersuchen zu können, ist zunächst näher auf Begriff und gemeinschaftskartellrechtliche
Zulässigkeitsvoraussetzungen selektiver Vertriebssysteme einzugehen.
802 Näher zu Begriff und Rechtsnatur selektiver Vertriebssysteme sogleich.
803 Näher zu diesen Voraussetzungen sogleich.
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B. Begriff und Zulässigkeitsvoraussetzungen selektiver Vertriebssysteme
I. Begriff
Selektive Vertriebssysteme sind Vertriebsvereinbarungen zwischen Angehörigen
verschiedener Wirtschaftsstufen, deren wesentliches Merkmal darin besteht, dass auf
den Zwischenhandelsstufen eine Beschränkung der Absatzmittler durch Ausschluss
von Händlern erfolgt, die bestimmte qualitative Merkmale und/oder quantitative
Merkmale (z.B. Anzahl, Absatzgebiete) nicht erfüllen804. Hinzu tritt in der Regel die
Pflicht der ausgewählten Absatzmittler, bestimmte Vertriebswege einzuhalten und
Lieferungen an nicht zum System zugelassene Händler zu unterlassen805. Diese Vertriebsform wird in praxi regelmäßig für den Absatz hochwertiger Produkte, wie etwa
Automobile oder Luxus-Kosmetika, gewählt806.
Eine Legaldefinition, die für die Anwendung der Vertikal-GVO maßgeblich ist,
findet sich in Art. 1 lit. d Vertikal-GVO. Demnach sind selektive Vertriebssysteme
solche Vertriebssysteme, in denen sich der Lieferant verpflichtet, die Vertragswaren
oder –dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die
aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und807 in denen sich diese
Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die nicht zum Vertrieb zugelassen sind. Von dieser Definition
werden somit ausschließlich selektive Vertriebssysteme erfasst, die sowohl herstellerseitig als auch händlerseitig geschlossen sind. Es existieren – neben den offenen
selektiven Vertriebssystemen808 – indes auch lediglich händlerseitig geschlossene
Systeme, in denen den Händlern Vertriebsbindungen auferlegt werden, ohne dass
sich die Hersteller in ihrer Freiheit, weitere Händler zu beliefern, einschränken.
Umgekehrt sind auch Systeme denkbar, in denen nur die Herstellerseite, nicht jedoch die Händlerseite beschränkt wird809. Derartige lediglich herstellerseitig oder
händlerseitig geschlossene Systeme lassen sich nicht unter die Legaldefinition des
Art. 1 lit. d Vertikal-GVO subsumieren810. Diese Definition greift folglich zu kurz,
als dass sie über den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO hinaus allgemeine Bedeutung beanspruchen könnte811.
804 Bergmann, ZWeR 2004, 28, 30; vgl. auch Kirchhoff, in: Wiedemann, Handbuch, § 10 Rn 34;
Lübbert, in: Wiedemann, Handbuch, § 28 Rn 6; Emmerich, Kartellrecht, § 29 Rn 61;
Glöckner, WRP 2003, 1327, 1327 f.; Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen,
Rn 184.
805 Emmerich, in: Dauses, Handbuch, Bd. 2, H. I. § 1 (Voraufl.), Rn 273.
806 Vgl. nur Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 12 Rn 7.
807 Hervorhebung nur hier.
808 S. hierzu nur Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rn 92.
809 Vgl. Kirchhoff, in: Wiedemann, Handbuch, § 10 Rn 40 f.
810 Bezüglich Anwendungsfragen, die ausschließlich die Vertikal-GVO betreffen, ist dies strittig;
wie hier Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rn 94; a.A. Veelken, in:
Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Vertikal-VO Rn 222.
811 S. zur spezifischen Funktion, die der Legaldefinition selektiver Vertriebssysteme in Art. 1
lit. d Vertikal-GVO bei der Anwendung der Vertikal-GVO zukommt, auch Beutelmann,
Selektive Vertriebssysteme, S. 85 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.