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Denn da eine Vereinbarung die Willensübereinstimmung zwischen den Parteien
voraussetzt, lässt sich bei fehlender Übereinstimmung als Gegenbegriff von einem
kartellrechtlichen Dissens sprechen. Das Vereinbarungsmerkmal weist damit keine
„verdeckte“ Lücke für den Fall des Dissenses auf, welche es im Wege einer teleologischen Reduktion zu schließen gälte551.
Dass der zivilrechtliche Dissens des Rahmenvertrages bzw. des Einzelvertrages in
einer laufenden Geschäftsverbindung zu unterscheiden ist vom kartellrechtlichen
Dissens über eine wettbewerbswidrige Maßnahme, wird durch die Tatsache
bestätigt, dass auch der umgekehrte Fall denkbar ist: Bei einem zivilrechtlichen
versteckten Dissens kann gleichzeitig dennoch eine Vereinbarung im Sinne des
Art. 81 I EG vorliegen, wenn über den wettbewerbswidrigen Teil des Vertrages
Übereinstimmung zwischen den Parteien erzielt wurde und sich der Dissens nur auf
einen kartellrechtlich irrelevanten Nebenpunkt des Vertrages bezieht.
Übertragen auf die Fallpraxis der Gemeinschaftsorgane bedeutet dieses Ergebnis,
dass die Kommission in ihren Entscheidungen Konica552 und Sandoz PF553 sowie
der EuGH in seinem Urteil Sandoz PF554 hätten prüfen müssen, ob ein
kartellrechtlicher Dissens zwischen den Parteien vorlag555. Eine solche Prüfung
wurde indes, ausweislich der Texte der Entscheidungen, nicht vorgenommen.
Dafür, dass im Fall Sandoz PF tatsächlich ein derartiger Dissens vorlag, spricht
ein Vergleich mit dem Handelsrecht. Danach trifft den Rechnungsempfänger keine
Pflicht, abredewidrigen Rechnungsvermerken nachzugehen; Vertragsänderungsangebote gehören (außer bei anders lautendem Geschäftsverbindungsbrauch) nicht in
die Rechnung556. Dies spricht dafür, dass hinsichtlich des wettbewerbswidrigen
Rechnungsvermerks „Ausfuhr verboten“ im Fall Sandoz PF kein kartellrechtlicher
Konsens zwischen Lieferant und Abnehmern hergestellt wurde.
IV. Fazit
Bei Vorliegen eines kartellrechtlichen Dissenses hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen Maßnahme, die von einer der beiden Parteien getroffen wurde, ist diese
551 Vgl. zur Ausfüllung „verdeckter“ Gesetzeslücken im Wege der teleologischen Reduktion
Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 480 f.
552 S.o. 2. Kap. C. II. 2.
553 S.o. 2. Kap. A. II. 2.
554 S.o. 2. Kap. A. II. 4.
555 In Bezug auf den Fall Sandoz PF ähnlich Bunte, Kartellrecht, S. 128; Lübbig, WuW 1991,
561, 568; diese Autoren deuten die Möglichkeit eines Dissenses jedoch lediglich kurz an,
ohne auf die gemeinschaftskartellrechtliche Funktion des Dissenses einzugehen. – Thompson
interpretiert den Sachverhalt des Sandoz PF-Falles dergestalt, dass die Abnehmer die
Ausfuhrverbotsklausel übersahen; s. CMLR 27 (1990), 589, 606. Dies erscheint jedoch
fraglich.
556 K. Schmidt, in: MüKo HGB, Bd. 5, § 346 Rn 138; s. dazu auch bereits o. 2. Kap. C. IV. 3. b)
bb).
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Maßnahme als einseitig zu qualifizieren. Eine Vereinbarung im Sinne des Art. 81 I
EG kommt zwischen den Parteien in diesem Fall somit nicht zustande.
E. Vereinbarung und einseitige Maßnahmen – Kriterien der Abgrenzung
I. Vorbemerkung
In den vorangegangenen Unterkapiteln wurden Gesichtspunkte aufgezeigt, aufgrund
derer einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen, nicht aber Vereinbarungen im
Sinne des Art. 81 I EG zu bejahen sind. Dabei wurde bereits deutlich, dass die
Gemeinschaftsorgane das Vereinbarungsmerkmal in der Vergangenheit zu weit ausgelegt haben. Diese bereits gewonnenen Erkenntnisse führen nun zu der allgemeinen
Frage, unter welchen Voraussetzungen der Konsens zwischen zwei Parteien eines
Vertikalverhältnisses über eine wettbewerbswidrige Maßnahme bejaht werden kann,
und wann hingegen lediglich einseitiges Handeln gegeben ist. Zu untersuchen ist der
Randbereich des Vereinbarungsmerkmals, zu erörtern sind somit nunmehr in allgemeiner Form die Kriterien der Abgrenzung einseitiger Maßnahmen von
Vereinbarungen in Zweifelsfällen. Hierbei wird vom bereits dargelegten Grundverständnis der Vereinbarung557 ausgegangen werden.
II. Ausdrückliche Zustimmung des Partners
1. Allgemeines
Als „Normalfall“ des Konsenses lässt sich die ausdrückliche Zustimmung des Partners einer vertikalen laufenden Geschäftsverbindung zur wettbewerbswidrigen
Maßnahme des Anderen bezeichnen. Jene kann etwa erfolgen, indem Händler ein
Rundschreiben des Herstellers, das wettbewerbswidrige Maßnahmen enthält, zum
Zeichen ihres Einverständnisses unterzeichnen und zurücksenden.
Ein Beispiel hierfür stellen die Kommissionsentscheidung und das EuGH-Urteil
im Fall BMW Belgium dar, in dem belgische BMW-Vertragshändler ein
Rundschreiben, das ein wettbewerbswidriges Ausfuhrverbot enthielt, zum Zeichen
ihres Einverständnisses unterzeichneten558. Die Gemeinschaftsorgane sahen
aufgrund dieser Unterzeichnung einen Konsens zu Recht als gegeben an559.
557 S.o. 1. Kap. A. I. 1. und III.
558 Vgl. Kommission, Entscheidung v. 23.12.1977, BMW Belgium, Abl. L 46 v. 17.02.1978, 33,
Rn 4; EuGH v. 12.07.1979, BMW Belgium, Rs. 32/78 u. 36-82/78, Slg. 1979, 2435, Rn 9 f.
559 Kommission, Entscheidung v. 23.12.1977, BMW Belgium, Abl. L 46 v. 17.02.1978, 33,
Rn 18; EuGH v. 12.07.1979, BMW Belgium, Rs. 32/78 u. 36-82/78, Slg. 1979, 2435, Rn 29 f.;
zustimmend Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 9 Rn 6; Bunte, in:
Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 25.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.