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III. Gemeinschaftskartellrechtliche Bedeutung des Dissenses
Fraglich ist mithin, wie sich ein Dissens hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen
Maßnahme gemeinschaftskartellrechtlich auswirkt. Um diese Frage zu beantworten,
ist von Begriff und Rechtsnatur der Vereinbarung im Sinne von Art. 81 I EG auszugehen.
Erforderlich für eine Vereinbarung ist stets der Ausdruck eines gemeinsamen
Willens der Unternehmen, sich auf dem Binnenmarkt in einer bestimmten Weise zu
verhalten. Die beteiligten Unternehmen müssen sich dabei über eine wettbewerbsbeschränkende Praxis verständigen548. Daraus folgt, dass sich in einer laufenden Geschäftsverbindung der Konsens der Parteien auf deren wettbewerbswidrige Bestandteile erstrecken muss, soll im Rahmenvertrag (oder in den im Rahmen der
laufenden Geschäftsverbindung abgeschlossenen Einzelverträgen549) eine Vereinbarung erblickt werden. Zu unterscheiden sind folglich einerseits die wettbewerbskonforme laufende Geschäftsverbindung, in deren Rahmen normale Austauschverträge geschlossen werden, es jedoch außerdem zu einseitigen wettbewerbswidrigen
Maßnahmen kommt; sowie andererseits die laufende Geschäftsverbindung, in deren
Rahmen wettbewerbswidrige Maßnahmen getroffen werden, über welche jedoch mit
dem Partner ein Konsens hergestellt wird. Eine Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG
liegt nur im letztgenannten Fall vor.
Der Abschluss eines Rahmenvertrages (oder auch eines Einzelvertrages innerhalb
einer laufenden Geschäftsverbindung) ist somit a priori selbst dann
kartellrechtsneutral, wenn eine Partei dabei einseitig eine wettbewerbswidrige
allgemeine Geschäftsbedingung, etwa ein Ausfuhrverbot, aufstellt. Vielmehr ist in
derartigen Fällen genau zu prüfen, ob sich der Konsens der Parteien, der hinsichtlich
des Rahmenvertrages550 erzielt wurde, auf diese wettbewerbswidrige Maßnahme
erstreckt, oder ob diesbezüglich nicht ein Dissens vorliegt. Ein solcher lässt sich
auch als kartellrechtlicher Dissens bezeichnen. Im Falle eines versteckten Dissenses
über eine einseitige wettbewerbswidrige Maßnahme ist das Tatbestandsmerkmal
„Vereinbarung“ des europäischen Kartellverbots nicht erfüllt. Aber auch wenn die
Vertragsgegenseite der einseitigen wettbewerbswidrigen Maßnahme widerspricht,
mithin ein offener Dissens vorliegt, kommt keine Vereinbarung im Sinne des
Art. 81 I EG zustande.
Diese Erkenntnis bedeutet in methodischer Hinsicht keine Übertragung des zivilrechtlichen Dissenses ins Gemeinschaftskartellrecht und auch keine teleologische
Reduktion des Vereinbarungsmerkmals. Vielmehr folgt dieses Ergebnis aus Begriff
und Rechtsnatur des Koordinierungstatbestandes der Vereinbarung in Art. 81 I EG.
548 S.o. 1. Kap. A. I. 1.
549 Eine wettbewerbswidrige einseitige Maßnahme wie z.B. ein Ausfuhrverbot kann sowohl im
Rahmenvertrag als auch in den Einzelverträgen der laufenden Geschäftsverbindung
niedergelegt werden. Je nachdem stellen diese oder stellt jener im Falle eines Konsenses der
Parteien die Vereinbarung(en) im Sinne des Art. 81 I EG dar.
550 – bzw. hinsichtlich des Einzelvertrages, falls sich die wettbewerbswidrige allgemeine
Geschäftsverbindung in diesem befindet –
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Denn da eine Vereinbarung die Willensübereinstimmung zwischen den Parteien
voraussetzt, lässt sich bei fehlender Übereinstimmung als Gegenbegriff von einem
kartellrechtlichen Dissens sprechen. Das Vereinbarungsmerkmal weist damit keine
„verdeckte“ Lücke für den Fall des Dissenses auf, welche es im Wege einer teleologischen Reduktion zu schließen gälte551.
Dass der zivilrechtliche Dissens des Rahmenvertrages bzw. des Einzelvertrages in
einer laufenden Geschäftsverbindung zu unterscheiden ist vom kartellrechtlichen
Dissens über eine wettbewerbswidrige Maßnahme, wird durch die Tatsache
bestätigt, dass auch der umgekehrte Fall denkbar ist: Bei einem zivilrechtlichen
versteckten Dissens kann gleichzeitig dennoch eine Vereinbarung im Sinne des
Art. 81 I EG vorliegen, wenn über den wettbewerbswidrigen Teil des Vertrages
Übereinstimmung zwischen den Parteien erzielt wurde und sich der Dissens nur auf
einen kartellrechtlich irrelevanten Nebenpunkt des Vertrages bezieht.
Übertragen auf die Fallpraxis der Gemeinschaftsorgane bedeutet dieses Ergebnis,
dass die Kommission in ihren Entscheidungen Konica552 und Sandoz PF553 sowie
der EuGH in seinem Urteil Sandoz PF554 hätten prüfen müssen, ob ein
kartellrechtlicher Dissens zwischen den Parteien vorlag555. Eine solche Prüfung
wurde indes, ausweislich der Texte der Entscheidungen, nicht vorgenommen.
Dafür, dass im Fall Sandoz PF tatsächlich ein derartiger Dissens vorlag, spricht
ein Vergleich mit dem Handelsrecht. Danach trifft den Rechnungsempfänger keine
Pflicht, abredewidrigen Rechnungsvermerken nachzugehen; Vertragsänderungsangebote gehören (außer bei anders lautendem Geschäftsverbindungsbrauch) nicht in
die Rechnung556. Dies spricht dafür, dass hinsichtlich des wettbewerbswidrigen
Rechnungsvermerks „Ausfuhr verboten“ im Fall Sandoz PF kein kartellrechtlicher
Konsens zwischen Lieferant und Abnehmern hergestellt wurde.
IV. Fazit
Bei Vorliegen eines kartellrechtlichen Dissenses hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen Maßnahme, die von einer der beiden Parteien getroffen wurde, ist diese
551 Vgl. zur Ausfüllung „verdeckter“ Gesetzeslücken im Wege der teleologischen Reduktion
Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 480 f.
552 S.o. 2. Kap. C. II. 2.
553 S.o. 2. Kap. A. II. 2.
554 S.o. 2. Kap. A. II. 4.
555 In Bezug auf den Fall Sandoz PF ähnlich Bunte, Kartellrecht, S. 128; Lübbig, WuW 1991,
561, 568; diese Autoren deuten die Möglichkeit eines Dissenses jedoch lediglich kurz an,
ohne auf die gemeinschaftskartellrechtliche Funktion des Dissenses einzugehen. – Thompson
interpretiert den Sachverhalt des Sandoz PF-Falles dergestalt, dass die Abnehmer die
Ausfuhrverbotsklausel übersahen; s. CMLR 27 (1990), 589, 606. Dies erscheint jedoch
fraglich.
556 K. Schmidt, in: MüKo HGB, Bd. 5, § 346 Rn 138; s. dazu auch bereits o. 2. Kap. C. IV. 3. b)
bb).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.