113
Um das Problem der gemeinschaftskartellrechtlichen Bedeutung des Dissenses
erörtern zu können, ist zunächst in allgemeiner Form auf dessen Begriff und Rechtsnatur einzugehen.
II. Begriff und Rechtsnatur des Dissenses
Als Dissens bezeichnet man die Nichtübereinstimmung der beiderseitigen Willen
und Erklärungen der Parteien bei einem Vertragsschluss534. Ein Dissens liegt somit
vor, „wenn die Parteien ihre jeweiligen Erklärungen in unterschiedlichem Sinne verstanden haben und sich dieses Missverständnis auch nicht im Wege der normativen
Auslegung der Erklärungen ausräumen lässt“535. Im Unterfall eines versteckten
Dissenses liegt eine derartige Nichtübereinstimmung der beiderseitigen Willen und
Erklärungen vor, die Parteien glauben jedoch irrig, sie hätten sich bereits vollständig
geeinigt536. Beim offenen Dissens hingegen sind sich die Parteien der fehlenden vollständigen Einigung bewusst537.
Im deutschen Zivilrecht existiert keine allgemeine Regelung für den Dissens. Jedoch normieren §§ 154 BGB für den offenen und § 155 BGB für den versteckten
Dissens, was gilt, wenn lediglich hinsichtlich eines Teils eines Vertrages Einverständnis erzielt wurde538, 539. §§ 154 I, 155 BGB stellen Auslegungsregeln für Fälle
auf, in denen eine Vertragspartei die Regelung von Nebenpunkten gefordert hat, dabei jedoch nicht klar zum Ausdruck gebracht hat, ob ihr rechtsgeschäftlicher Wille
hinsichtlich der essentialia negotii von der Regelung dieser Punkte abhängig sein
soll540. Ein Vertrag ist dagegen gar nicht erst zustande gekommen, wenn die Parteien
über die essentialia negotii keinen Konsens hergestellt haben541, oder wenn eine
Vertragspartei ihren rechtsgeschäftlichen Willen hinsichtlich der essentialia negotii
eindeutig von Nebenpunkten des Vertrages abhängig gemacht hat und über diese
534 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, § 29 Rn 74; Medicus, BGB AT, Rn 434; Flume, BGB AT II,
§ 34 1.
535 Leenen, AcP 188 (1988), 381, 382.
536 Vgl. Bork, in: Staudinger, BGB, § 155 Rn 1; Flume, BGB AT II, § 34 4.; Hefermehl, in:
Erman, BGB, Bd. 1, 10. Aufl., § 155 Rn 1; Creifelds, Stichwort „Vertrag“.
537 Larenz/Wolf, BGB AT, § 29 Rn 80; Piper, in: BGB-RGRK, Bd. I, § 154 Rn 1.
538 Flume, BGB AT II, § 34 6. a).
539 A.A. Leenen, AcP 188 (1988), 381, 411 ff., insb. 416-418: Ihm zufolge ist der Dissens
gesetzlich nicht geregelt, auch nicht in §§ 154, 155 BGB; die Rechtsfolgen des Dissenses sind
vielmehr im Wege einer Gesamtanalogie zu bestimmen. Diese Problematik, die das deutsche
bürgerliche Recht betrifft, ist hier nicht näher zu erörtern.
540 Gsell, AcP 203 (2003), 119, 132.
541 Kramer, in: MüKo BGB, Bd. 1/1, § 155 Rn 14; Larenz/Wolf, BGB AT, § 29 Rn 75; Medicus,
BGB AT, Rn 431; Leenen, AcP 188 (1988), 381, 411; Flume, BGB AT II, § 34 6. b); Bork,
in: Staudinger, BGB, § 155 Rn 15.
114
keine Übereinstimmung erzielt wurde542. Für die Feststellung eines Dissenses sind
die Erklärungen der Parteien nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen543.
Die gemeinschaftskartellrechtliche Behandlung eines Dissenses über eine wettbewerbswidrige Maßnahme richtet sich jedoch nicht nach den Zivilrechten der
Mitgliedsstaaten, mithin auch nicht nach den §§ 154, 155 BGB. Daher kann es auch
nicht darauf ankommen, ob im Zivilrecht eines von einem Kartellrechtsfall
betroffenen Mitgliedsstaates – im Fall Sandoz PF544 etwa im italienischen Zivilrecht
– Regelungen bestehen, die den §§ 154, 155 BGB vergleichbar wären. Denn gegen
eine Übertragung von Rechtsfolgen eines Dissenses im nationalen Zivilrecht auf
Art. 81 EG bestehen durchgreifende methodische Bedenken. Hiergegen spricht zudem der funktionale Unterschied zwischen zivilrechtlichem Vertragsbegriff
einerseits und dem kartellrechtlichen Begriff der Vereinbarung andererseits. Denn
während dem zivilrechtlichen Vertrag die Aufgabe der Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten zukommt, soll mit dem kartellrechtlichen
Vereinbarungsmerkmal hingegen lediglich der Ausschnitt derjenigen Verhaltensweisen, die wettbewerbswidrig erscheinen, erfasst werden545. Dieser funktionale
Unterschied verbietet es, Rechtsfolgen eines zivilrechtlichen Dissenses einfach auf
Vereinbarungen zu übertragen.
Auch im Fall Sandoz PF hat der EuGH den Grundsatz bestätigt, demzufolge die
Frage nach dem Vorliegen einer Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG unabhängig von
der zivilrechtlichen Wirksamkeit einer Klausel zu beantworten ist546.
Des Weiteren müsste Art. 81 I EG in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgelegt werden, käme es darauf an, auf welche Weise im jeweiligen nationalen
Zivilrecht der Dissens geregelt wäre. Dies aber wäre ein wettbewerbspolitisch unerwünschtes Ergebnis.
Aus diesen Gründen ist die Frage, wie Sachverhaltskonstellationen
gemeinschaftskartellrechtlich zu bewerten sind, in denen ein Dissens über eine
wettbewerbswidrige Maßnahme vorliegt, losgelöst vom nationalen Zivilrecht im
Wege der Auslegung des Art. 81 I EG zu beantworten547.
542 Gsell, AcP 203 (2003), 119, 132.
543 Bork, in: Staudinger, BGB, § 155 Rn 5; Hefermehl, in: Erman, BGB, Bd. 1, 10. Aufl., § 155
Rn 4; H.-W. Eckert, in: Bamberger/Roth, BGB, Bd. 1, § 155 Rn 4. – Zu der hier nicht zu
vertiefenden, früher relevanten Streitfrage im deutschen Kartellrecht, ob und inwieweit
§ 154 I BGB auf das Vertragsmerkmal des § 1 GWB a. F. anwendbar war, s. etwa
Möhring/Illert, BB 1974, 817, 820.
544 S.o. 2. Kap. A. II.
545 Vgl. Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, GWB (3. Aufl.), § 1 Rn 93.
546 EuGH v. 11.01.1990, Sandoz PF, Rs. 277/87 (nicht im Volltext veröffentlicht), Rn 13; s.
hierzu auch Thompson, CMLR 27 (1990), 589, 594; Schroeder, EWiR Art. 85 EWGV 4/90 =
EWiR 1990, 259, 260.
547 Teilweise anders Lübbig, WuW 1991, 561, 568: Dieser schlägt eine Beachtung des
versteckten Dissenses im Fall Sandoz PF vor, lässt jedoch die Anwendbarkeit des versteckten
Dissenses bei Art. 81 I EG letztendlich offen. Zudem will er anscheinend die deutsche
Regelung des § 155 BGB auf Art. 81 I EG übertragen. Dass dies nicht überzeugt, wurde
soeben dargelegt.
115
III. Gemeinschaftskartellrechtliche Bedeutung des Dissenses
Fraglich ist mithin, wie sich ein Dissens hinsichtlich einer wettbewerbswidrigen
Maßnahme gemeinschaftskartellrechtlich auswirkt. Um diese Frage zu beantworten,
ist von Begriff und Rechtsnatur der Vereinbarung im Sinne von Art. 81 I EG auszugehen.
Erforderlich für eine Vereinbarung ist stets der Ausdruck eines gemeinsamen
Willens der Unternehmen, sich auf dem Binnenmarkt in einer bestimmten Weise zu
verhalten. Die beteiligten Unternehmen müssen sich dabei über eine wettbewerbsbeschränkende Praxis verständigen548. Daraus folgt, dass sich in einer laufenden Geschäftsverbindung der Konsens der Parteien auf deren wettbewerbswidrige Bestandteile erstrecken muss, soll im Rahmenvertrag (oder in den im Rahmen der
laufenden Geschäftsverbindung abgeschlossenen Einzelverträgen549) eine Vereinbarung erblickt werden. Zu unterscheiden sind folglich einerseits die wettbewerbskonforme laufende Geschäftsverbindung, in deren Rahmen normale Austauschverträge geschlossen werden, es jedoch außerdem zu einseitigen wettbewerbswidrigen
Maßnahmen kommt; sowie andererseits die laufende Geschäftsverbindung, in deren
Rahmen wettbewerbswidrige Maßnahmen getroffen werden, über welche jedoch mit
dem Partner ein Konsens hergestellt wird. Eine Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG
liegt nur im letztgenannten Fall vor.
Der Abschluss eines Rahmenvertrages (oder auch eines Einzelvertrages innerhalb
einer laufenden Geschäftsverbindung) ist somit a priori selbst dann
kartellrechtsneutral, wenn eine Partei dabei einseitig eine wettbewerbswidrige
allgemeine Geschäftsbedingung, etwa ein Ausfuhrverbot, aufstellt. Vielmehr ist in
derartigen Fällen genau zu prüfen, ob sich der Konsens der Parteien, der hinsichtlich
des Rahmenvertrages550 erzielt wurde, auf diese wettbewerbswidrige Maßnahme
erstreckt, oder ob diesbezüglich nicht ein Dissens vorliegt. Ein solcher lässt sich
auch als kartellrechtlicher Dissens bezeichnen. Im Falle eines versteckten Dissenses
über eine einseitige wettbewerbswidrige Maßnahme ist das Tatbestandsmerkmal
„Vereinbarung“ des europäischen Kartellverbots nicht erfüllt. Aber auch wenn die
Vertragsgegenseite der einseitigen wettbewerbswidrigen Maßnahme widerspricht,
mithin ein offener Dissens vorliegt, kommt keine Vereinbarung im Sinne des
Art. 81 I EG zustande.
Diese Erkenntnis bedeutet in methodischer Hinsicht keine Übertragung des zivilrechtlichen Dissenses ins Gemeinschaftskartellrecht und auch keine teleologische
Reduktion des Vereinbarungsmerkmals. Vielmehr folgt dieses Ergebnis aus Begriff
und Rechtsnatur des Koordinierungstatbestandes der Vereinbarung in Art. 81 I EG.
548 S.o. 1. Kap. A. I. 1.
549 Eine wettbewerbswidrige einseitige Maßnahme wie z.B. ein Ausfuhrverbot kann sowohl im
Rahmenvertrag als auch in den Einzelverträgen der laufenden Geschäftsverbindung
niedergelegt werden. Je nachdem stellen diese oder stellt jener im Falle eines Konsenses der
Parteien die Vereinbarung(en) im Sinne des Art. 81 I EG dar.
550 – bzw. hinsichtlich des Einzelvertrages, falls sich die wettbewerbswidrige allgemeine
Geschäftsverbindung in diesem befindet –
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.