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IV. Die Vereinbarung im Lichte des gemeinschaftlichen Rechtsprinzips und des
Analogieverbotes
Nachdem hergeleitet wurde, dass Kommission und EuGH bei der Anwendung des
Art. 81 I EG an das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie in Bußgeldverfahren
auch an das Analogieverbot gebunden sind, ist nunmehr die weite Auslegung des
Koordinierungstatbestandes Vereinbarung durch die Gemeinschaftsorgane, wie sie
insbesondere im Fall Sandoz PF393 zum Ausdruck kam, an diesen
Rechtsgrundsätzen zu messen.
1. Vereinbarung und gemeinschaftliches Rechtsprinzip
a) Die weite Auslegung des Vereinbarungsmerkmals als Verstoß gegen das gemein
schaftliche Rechtsprinzip
Problematisch ist, ob die weite Auslegung des Vereinbarungsmerkmals gegen das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip und insbesondere auch gegen den aus dem Rechtsprinzip folgenden Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt.
Wie bereits dargelegt394, müssen Urteile des EuGH als Konsequenz des
Grundsatzes der Rechtssicherheit klar begründet, berechenbar und nachvollziehbar
sein. Eine Auslegung, die bloßes Schweigen und die Fortsetzung der Geschäftsbeziehung als Zustimmung wertet, liegt indes nicht mehr im Rahmen dessen,
was für einen beratenen Laien nachvollziehbar und vorhersehbar ist. Auch die Berechenbarkeit der EuGH-Rechtsprechung ist infrage gestellt, wenn der Gerichtshof –
wie im Urteil Sandoz PF395 – auch dann eine Vereinbarung annimmt, wenn eine der
beiden Vertragsparteien sich wettbewerbskonform verhält und lediglich die Geschäftsbeziehungen zur (sich wettbewerbswidrig verhaltenden) Vertragsgegenseite
nicht abbricht. Häufig wird der Abnehmer aufgrund bestehender Abhängigkeiten
keine Bezugsalternativen haben, so dass er die Geschäftsbeziehungen aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus fortsetzt und damit noch nichts über seine Einstellung
gegenüber der einseitigen wettbewerbswidrigen Maßnahme gesagt ist396.
Gegen eine derartige Auslegung spricht des Weiteren, dass auf diesem Wege
nicht lediglich der sich einseitig wettbewerbswidrig verhaltende Hersteller, sondern
auch die Wiederverkäufer als „Mittäter“ des Wettbewerbsverstoßes inkriminiert
werden397. Denn es steht gemäß Art. 23 II S. 1 lit. a VO 1/2003 grundsätzlich im
Ermessen der Kommission, ob sie nur gegen eine Partei oder aber gegen alle Beteiligten eines Wettbewerbsverstoßes Geldbußen verhängt. Eine Berücksichtigung der
393 S.o. 2. Kap. A. II.
394 S.o. 2. Kap. B. II. 1.
395 S.o. 2. Kap. A. II. 4.
396 Kritisch auch Wertenbruch, EWS 2004, 145, 146.
397 Lübbig, WuW 1991, 561, 568; vgl. auch Jacobsen/Broberg, ECLR 2002, 127, 139.
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größeren Verantwortung des Herstellers für den Verstoß muss zwingend lediglich
bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße erfolgen; denn Art. 23 III VO 1/2003
statuiert, dass hierbei die Schwere der Zuwiderhandlung und damit auch die relative
Schwere jedes Tatbeitrags zu berücksichtigen ist398. Auch eine etwaige wirtschaftliche Abhängigkeit der Händler vom Hersteller hindert die Kommission nicht an der
Bebußung auch der Händler, sofern nur die Voraussetzungen des Art. 81 I EG erfüllt
sind399. Die weite Auslegung des Vereinbarungsmerkmals durch EuGH und
Kommission führt folglich zu dem Ergebnis, dass Vertragshändler, die sich
wettbewerbskonform verhalten und lediglich die Geschäftsbeziehungen zum Hersteller nicht abbrechen, als Beteiligte eines Verstoßes gegen Art. 81 I EG
inkriminiert werden. Dies erscheint im Hinblick auf das gemeinschaftliche Rechtsprinzip äußerst bedenklich.
An dieser Einschätzung ändert auch das dieser Untersuchung zugrunde gelegte
wettbewerbstheoretische Grundverständnis nichts, aufgrund dessen der Koordinierungstatbestand Vereinbarung grundsätzlich weit auszulegen ist400. Denn eine weite
Auslegung des Vereinbarungsmerkmals ist dann rechtswidrig, wenn sie mit rechtsgemeinschaftlichen Prinzipien im Range des Primärrechts in Konflikt gerät.
Eine Auslegung, derzufolge eine Vereinbarung durch Schweigen zur einseitigen
wettbewerbswidrigen Maßnahme der Gegenpartei und bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen begründet wird, gerät, wie dargelegt, in Konflikt mit dem
Grundsatz der Rechtssicherheit. Darüber hinaus liegt jedoch zudem ein Verstoß gegen das gemeinschaftliche Rechtsprinzip als der Rechtssicherheit übergeordnetem
Prinzip vor. Denn wenn Kommission und EuGH Verhalten unter das Vereinbarungsmerkmal subsumieren, das sich in Wahrheit als einseitig darstellt, missachten
sie den Anwendungsbereich des Art. 81 I EG und handeln daher rechtswidrig.
Die weite Auslegung des Koordinierungstatbestandes der Vereinbarung, wie sie
die Gemeinschaftsorgane insbesondere im Fall Sandoz PF vornahmen, verstößt
folglich gegen das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz der
Rechtssicherheit als dessen Unterprinzip.
b) Das gemeinschaftliche Rechtsprinzip im System der Legalausnahme
Gerade im durch Art. 1 II VO 1/2003 eingeführten System der Legalausnahme401 ist
jedoch, aufgrund des aus diesem folgenden Verlustes an Rechtssicherheit für die
398 S. nur Feddersen, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2, nach Art. 83 EG, Art. 23 VO 1/2003
Rn 138 f.
399 EuGH v. 12.07.1979, BMW Belgium, Rs. 32/78 u. 36-82/78, Slg. 1979, 2435, Rn 36, 53 f.
400 S.o. 1. Kap. B. V. 5.
401 In diesem System sind gemäß Art. 1 II VO 1/2003 wettbewerbsbeschränkende
Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die die
Voraussetzungen des Art. 81 III EG erfüllen, von vornherein und ohne konstitutiven,
administrativen Freistellungsakt vom Verbot des Art. 81 I EG ausgenommen (s. dazu nur
Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 1 Rn 12, 14).
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betroffenen Unternehmen, eine strenge Beachtung des gemeinschaftlichen Rechtsprinzips und der aus diesem folgenden Unterprinzipien, insbesondere des
Grundsatzes der Rechtssicherheit zu fordern. Dieses Postulat bezieht sich zum einen
auf die Auslegung und Anwendung des Art. 81 I EG im Bußgeldverfahren, zum anderen auch auf dessen Anwendung außerhalb des Kartellsanktionsrechts, z.B. bei
der gerichtlichen Überprüfung von Abstellungsentscheidungen (Art. 7 I S. 1
VO 1/2003).
Der mit Art. 1 II VO 1/2003 erfolgte Übergang zum System der Legalausnahme
hat für die betroffenen Unternehmen aus einer Reihe von Gründen grundsätzlich zu
weniger Rechtssicherheit geführt. Erstens müssen die Unternehmen nun nicht lediglich das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des Art. 81 I EG selbst einschätzen,
sondern sich zudem auch hinsichtlich der Freistellungsvoraussetzungen des
Art. 81 III EG selbst veranlagen. Das System der Legalausnahme rief daher schon
im Vorfeld seiner Normierung im Hinblick auf den gemeinschaftsrechtlichen
Grundsatz der Rechtssicherheit Kritik hervor. Behauptet wurde gar, von
Rechtssicherheit wäre in praxi nicht die Rede, wenn ein Prinzip der Legalausnahme
eingeführt würde402. Zumindest jedoch für atypische und neue Kooperationsformen
besteht Rechtsunsicherheit, so dass Unternehmen zur Vermeidung möglicher
Wettbewerbsverstöße innovative Lösungen scheuen könnten. Diese aber lägen im
Einzelfall möglicherweise nicht nur in ihrem eigenen wirtschaftlichen, sondern auch
im Interesse der europäischen Wettbewerbspolitik403. Auch im „Graubereich“
zwischen zulässiger und unzulässiger Kooperation entsteht Rechtsunsicherheit für
betroffene Unternehmen404.
Des Weiteren erscheint bedenklich, dass Unternehmen nun nicht mehr die Möglichkeit haben, mittels Anmeldung ihrer Vereinbarung bei der Kommission einer
möglichen Geldbuße gemäß Art. 15 V lit. a VO 17/62 zu entgehen. Diese Vorschrift
bot einen gewissen Schutz vor Bußgeldern405. Da die Anmeldung wettbewerbsbeschränkender Absprachen entfallen ist, gewährt die VO 1/2003 diesen Schutz
konsequenterweise nicht mehr406.
Zudem begegnet die Einführung des Systems der Legalausnahme Bedenken unter
dem Gesichtspunkt, dass es sich bei Art. 81 III EG um einen sehr unbestimmten Tatbestand handelt. Derartig unbestimmte Tatbestände bedürfen oft der Konkretisierung durch konstitutive Behördenentscheidungen, wie sie die Kommission früher
402 Rittner, DB 1999, 1485, 1485; kritisch auch C. Mayer, Ziele und Grenzen des Kartellverbots,
S. 218; Weiß/Creus, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 1 VO
1/2003 Rn 9; vgl. dazu auch Klees, Kartellverfahrensrecht, § 2 Rn 32-37; von Bogdandy,
EuZW 2001, 357, 359; Letzterer hält jedoch unter gewissen Voraussetzungen den Grundsatz
der Rechtssicherheit im System der Legalausnahme im Ergebnis für gewahrt.
403 Arhold, in: Schneider/Schwarze/Müller-Graff (Hrsg.), Vollzug des Europäischen
Wirtschaftsrechts, 119, 128.
404 Fuchs, in: Schneider/Schwarze/Müller-Graff (Hrsg.), Vollzug des Europäischen
Wirtschaftsrechts, 77, 86.
405 S. nur Dannecker, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. II (1. Aufl.), Art. 15
VO 17 Rn 209.
406 Unkritisch demgegenüber Klees, Kartellverfahrensrecht, § 2 Rn 35.
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hinsichtlich Art. 81 III EG vorgenommen hat407. Die konstitutive Freistellungsentscheidung der Kommission gemäß Art. 81 III EG wurde jedoch mit der VO 1/2003
abgeschafft. Die Gefahr, dass Unternehmen bei der Überprüfung ihrer Vereinbarung
anhand von Art. 81 I und III EG Fehleinschätzungen unterliegen, hat damit zugenommen.
Derartige Fehleinschätzungen können die betroffenen Unternehmen nun auch
nicht mehr dadurch vermeiden, dass sie bei der Kommission ein Negativattest
gemäß Art. 2 VO 17/62 einholen. Unter der Geltung der VO 1/2003 besteht diese
Möglichkeit nicht mehr. Gemäß Art. 10 S. 1 VO 1/2003 trifft die Kommission eine
Feststellung der Nichtanwendbarkeit des Art. 81 I EG vielmehr nur noch, wenn dies
aus Gründen des öffentlichen Interesses der Gemeinschaft erforderlich ist408. Diese
zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung verleiht Entscheidungen gemäß
Art. 10 VO 1/2003 einen Ausnahmecharakter, welcher auch durch den
14. Erwägungsgrund der VO 1/2003 bestätigt wird, demzufolge Feststellungen der
Nichtanwendbarkeit nur „in Ausnahmefällen“ zweckmäßig seien. Zudem ergehen
Nichtanwendbarkeitsentscheidungen, anders als frühere Negativatteste gemäß Art. 2
VO 17/62, nicht auf Antrag der betroffenen Unternehmen, sondern von Amts
wegen. Diese neue Entscheidungsart kann und soll das frühere Instrument des
Negativattestes somit nicht ersetzen409, 410.
Das Weniger an Rechtssicherheit durch das Prinzip der Legalausnahme wird auch
durch das Recht der Kommission, bei ernsthafter Rechtsunsicherheit einzelnen Unternehmen informelle Beratung zu leisten, nicht wettgemacht. Denn auf ein
Beratungsschreiben der Kommission haben die Unternehmen keinen Anspruch;
zudem stellt ein solches keine Kommissionsentscheidung dar und kann daher nur
eine sehr eingeschränkte Bindungswirkung entfalten. Die Kommission wird ein Beratungsschreiben wohl nur erlassen, wenn daran ein öffentliches Interesse besteht
und soweit es ihre vorrangigen Aufgaben zulassen411.
407 Vgl. K. Schmidt, BB 2003, 1237, 1240, 1244; ders., Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 65 f.
(dort in anderem Zusammenhang).
408 S. hierzu nur Anweiler, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 10
VO 1/2003 Rn 9 ff.; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 6 Rn 156-158.
409 Eilmansberger, JZ 2001, 365, 373; Fuchs, in: Schneider/Schwarze/Müller-Graff (Hrsg.),
Vollzug des Europäischen Wirtschaftsrechts, 77, 86 Fn. 30; Dalheimer, in:
dies./Feddersen/Miersch, KartellverfahrensVO, Art. 10 Rn 3; Klees, Kartellverfahrensrecht,
§ 6 Rn 158.
410 Eine dem früheren Negativattest vergleichbare Entscheidung ist nur noch durch die
Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten denkbar, vgl. Art. 5 S. 3 VO 1/2003. Inwieweit
dieses Instrument den betroffenen Unternehmen Rechtssicherheit gewährt, hängt jedoch von
der jeweiligen mitgliedsstaatlichen Ausgestaltung und praktischen Handhabung ab (vgl.
Klees, Kartellverfahrensrecht, § 2 Rn 36 f.).
411 Die Thematik der informellen Beratungsschreiben braucht hier nicht weiter vertieft zu
werden; s. dazu den 38. Erwägungsgrund der VO 1/2003 sowie die Bekanntmachung der
Kommission über informelle Beratung bei neuartigen Fragen zu den Art. 81 und 82 des
Vertrages, die in Einzelfällen auftreten (Beratungsschreiben), Abl. C 101 v. 27.04.2004, 78;
aus der Literatur s. nur de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 10 Rn 10-12; Dalheimer, in:
Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Bd. 2, nach Art. 83 EGV, Art. 1 VO 1/2003 Rn 19-28.
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Die Möglichkeit, zur Klärung des Anwendungsbereichs des Art. 81 I EG ein Negativattest einzuholen, war für den EuGH bislang ein Argument, mit dem er
Bedenken von Unternehmen zurückwies, dass rechtsgemeinschaftliche Grundsätze
nicht ausreichend beachtet worden seien. So argumentierte der EuGH, da sich die
Unternehmen aufgrund von Art. 2 VO 17/62 in einem eigens vorgesehenen Verfahren Klarheit über den Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln verschaffen könnten,
soweit diese sie berührten, läge kein Verstoß der gemeinschaftskartellrechtlichen
Bußgeldvorschriften gegen das Gesetzlichkeitsprinzip vor412. Dieses Argument hat
im System der Legalausnahme keinerlei Bedeutung mehr, da keine Negativatteste
mehr erteilt werden. Damit aber muss auf anderem Wege, durch strenge Beachtung
rechtsgemeinschaftlicher Grundsätze bei Anwendung des Art. 81 I EG, selbigen
Rechnung getragen werden.
Der dargestellte Verlust an Rechtssicherheit im System der Legalausnahme darf
nicht zulasten der betroffenen Unternehmen gehen. Diese müssen sich bei der
Selbstveranlagung ihrer Vereinbarung auf die im EG-Vertrag angelegte Systematik
– Art. 81 als gegen Verhaltenskoordinierung gerichtete Verbotsnorm, Art. 82 für
einseitige Maßnahmen unter Voraussetzung einer marktbeherrschenden Stellung –
verlassen können. Umso dringlicher erscheint nun daher, dass auch der EuGH den
Grundsatz der Rechtssicherheit stärker beachtet. Seine Rechtsprechung hat berechenbar und hinreichend voraussehbar zu sein. Eine erweiternde Auslegung des
Koordinierungstatbestandes Vereinbarung auch für einseitige Maßnahmen wie in
der Rechtssache Sandoz PF413 verbietet sich somit.
Diese gesteigerte Bedeutung, die dem gemeinschaftlichen Rechtsprinzip und insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit im neu geschaffenen System der
Legalausnahme zukommt, bedeutet für die konkrete Rechtsanwendung, dass bei
Abwägungen mit Gesichtspunkten wie Effizienz oder Leistungsfähigkeit der durchzusetzenden Verwaltungspolitik, die im Rahmen einer gemeinschaftskartellrechtlichen Entscheidung vorzunehmen sind, regelmäßig dem Grundsatz der Rechtssicherheit der Vorrang eingeräumt werden muss. Das gemeinschaftliche Rechtsprinzip im
Sinne der Vertragsmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane ist ohnehin
stets zu beachten.
2. Vereinbarung und Analogieverbot
Beachtung finden muss im Kartellsanktionsrecht, wie bereits erörtert414, zudem das
Analogieverbot. In gemeinschaftskartellrechtlichen Bußgeldverfahren ist somit jegliche sanktionsbegründende, -erweiternde oder -schärfende Analogie bei Anwendung
412 Vgl. etwa EuGH v. 13.02.1979, Hoffmann-La Roche, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rn 4, 128-
130; s. dazu auch Dannecker/Fischer-Fritsch, Bußgeldpraxis, S. 304.
413 S.o. 2. Kap. A. II. 4.
414 S.o. 2. Kap. B. III. 2. b).
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des Art. 81 I EG verboten415, was folglich auch für die Anwendung des Koordinierungstatbestandes Vereinbarung zu gelten hat.
Kommission und EuGH haben in der Rechtssache Sandoz PF eine sehr weitgehende Auslegung dieses Koordinierungstatbestandes vorgenommen und dessen
Vorliegen daher bejaht416. Fraglich ist, ob sie durch diese Auslegung die Grenze zur
unzulässigen Analogie überschritten.
Bei Beantwortung dieser Frage ist der anerkannt restriktive Charakter des
Art. 81 I EG zu berücksichtigen. Diesen restriktiven Charakter des europäischen
Kartellverbots hob der EuGH bereits im Jahre 1968 in seinem Urteil Parke, Davis &
Co hervor417 und wiederholte seine Auffassung in darauf folgenden Urteilen418. Er
betonte zu Recht, der restriktive Charakter des Art. 81 I (ex-Art. 85 I) EG gestatte es
nicht, diesen über die drei abschließend aufgezählten Handlungsformen (Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und
aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) auszudehnen419, 420. Für eine weite oder
gar erweiternde Auslegung der Koordinierungstatbestände des Art. 81 I EG bleibt
somit nur wenig Raum421; die Grenze zur unzulässigen Analogie wird im Rahmen
des Art. 81 I EG recht schnell überschritten. Nichts anderes als eine erweiternde
Auslegung nehmen Kommission und EuGH jedoch vor, wenn, wie im Fall Sandoz
PF, die bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als Teil eines Wettbewerbsverstoßes gewertet wird. Diese Rechtsauffassung widerspricht somit den restriktiven
Charakter des Art. 81 I EG.
Des Weiteren ist zu konstatieren, dass Kommission und EuGH den Normalfall
des Art. 81 I EG, dass beide Parteien eines Vertrages eine dem Wettbewerbsgedanken und dem Selbständigkeitspostulat zuwiderlaufende Einstellung an den Tag legen, gleich wie den Tatbestand im Fall Sandoz PF bewerten, dass eine Vertragspartei wettbewerbswidrige Maßnahmen ergreift, während die andere Partei hingegen
sich wettbewerbskonform verhält und lediglich die Geschäftsbeziehungen zu ihrer
Gegenpartei nicht abbricht. Das Analogieverbot ist, wie bereits dargelegt422,
dahingehend zu interpretieren, dass dieses auch jede extensive Auslegung und
415 Vogel, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der EU, 91, 94; Koch, in: Grabitz/Hilf,
EUV/EGV, Voraufl., nach Art. 87, Art. 15 VO 17 Rn 6; s. auch bereits o. 2. Kap. B. III. 1. u.
2. b).
416 S.o. 2. Kap. A. II. 2. u. 4.
417 EuGH v. 29.02.1968, Parke, Davis & Co, Rs. 24/67, Slg. 1968, 85, 112.
418 EuGH v. 08.07.1999, Hüls, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn 166; EuGH v. 08.07.1999,
Montecatini, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn 126.
419 EuGH v. 29.02.1968, Parke, Davis & Co, Rs. 24/67, Slg. 1968, 85, 112.
420 Unbeschadet hiervon sind gleichwohl aus teleologischen Erwägungen heraus die
sachzugehörigen Koordinierungstatbestände Vereinbarungen und abgestimmte
Verhaltensweisen zwischen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, Vereinbarungen
und abgestimmte Verhaltensweisen nur zwischen Unternehmensvereinigungen sowie
Beschlüsse von Vereinigungen, deren Mitglieder Unternehmensvereinigungen sind, in den
Anwendungsbereich des Art. 81 I EG einzubeziehen (Müller-Graff, in: Handkom.
EUV/EGV, Art. 85 Rn 60).
421 Begrüßt durch Gleiss, WRP 1968, 143, 144.
422 S.o. 2. Kap. B. III. 1.
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Gesetzesanwendung zulasten der beteiligten Unternehmen verbietet423 bzw. dass es
die strikte Auslegung insbesondere von unbestimmten Rechtsbegriffen gebietet424.
Kommission und EuGH bejahten in der Rechtssache Sandoz PF das Vorliegen einer
Vereinbarung und damit eines zweiseitigen Wettbewerbsverstoßes, obwohl lediglich
eine Partei der Vertragsbeziehungen eine wettbewerbswidrige Einstellung aufwies.
Durch diese extensive Auslegung des Vereinbarungsmerkmals aber wurde die
Grenze zur unzulässigen sanktionserweiternden Analogie überschritten. Die
Gemeinschaftsorgane nahmen auf diese Weise eine tatbestandliche Extension des
Art. 81 I EG vor; diese stellt einen Unterfall der Gesetzesanalogie dar425 und unterfällt auch aus diesem Grunde dem Analogieverbot.
Daraus folgt, dass die Auslegung der Gemeinschaftsorgane im Fall Sandoz PF
gegen das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot verstößt.
3. Zwischenergebnis und Stellungnahme zur Praxis der Gemeinschaftsorgane
a) Zwischenergebnis
Somit ist festzuhalten: Das Schweigen auf eine einseitige Maßnahme und die bloße
Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen durch ein Unternehmen zu einem Vertragspartner, welcher sich einseitig wettbewerbswidrig verhält, verstößt nicht gegen
Art. 81 I EG. Jede andere Auslegung des Koordinierungstatbestandes Vereinbarung
stellt einen Verstoß gegen das gemeinschaftliche Rechtsprinzip und den Grundsatz
der Rechtssicherheit als dessen Unterprinzip dar. Diese Grundsätze fallen im System
der Legalausnahme (Art. 1 II VO 1/2003) stark ins Gewicht. Das gemeinschaftliche
Rechtsprinzip im Sinne der Vertragsmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane ist stets zu beachten; dem Grundsatz der Rechtssicherheit muss bei einer
Abwägung mit Gesichtspunkten wie Effizienz oder Leistungsfähigkeit der Verwaltung regelmäßig der Vorrang eingeräumt werden.
In einem Bußgeldverfahren ist eine Auslegung, die Schweigen und die bloße
Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als konkludente Zustimmung zu einer
Vereinbarung wertet, zusätzlich zum dann ebenfalls vorliegenden Verstoß gegen das
gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Analogieverbot zu werten.
Daraus folgt, dass bei Schweigen und bloßer Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen durch eine Partei nach wettbewerbswidrigen Maßnahmen der Gegenpartei keine
423 So EuGH v. 12.12.1996, Strafverfahren gegen X, Rs. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609,
Rn 25; EGMR v. 22.03.2001, Streletz, Keßler und Krenz, Rs. 34044/96, 35532/97 u.
44801/98, NJW 2001, 3035, 3037 zum Analogieverbot des Art. 7 I EMRK. – Vgl. auch, zu
Art. 103 II GG, BVerfG v. 10.01.1995, 1 BvR 718, 719, 722, 723/89, BVerfGE 92, 1, 16:
Das Analogieverbot setzt nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch der
tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen.
424 Koch, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Voraufl., nach Art. 87, Art. 15 VO 17 Rn 6.
425 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn 904.
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Vertikalvereinbarung zustande kommt; es liegen vielmehr lediglich einseitige Maßnahmen vor426.
Diese Thesen werden insbesondere bei einseitigen Maßnahmen eines Herstellers
bzw. Lieferanten, auf welche die Wiederverkäufer mit Schweigen und der Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen reagieren, relevant. Aber auch der umgekehrte Fall
wird erfasst, nämlich dass eine einseitige Wettbewerbsbeschränkung durch Händler
erfolgt, woraufhin der Hersteller lediglich schweigt und die Geschäftsbeziehungen
fortsetzt. Aufgrund wirtschaftlicher Machtverhältnisse sowie aufgrund des Interesses
mancher Hersteller an der Verhinderung von Parallelausfuhren, das oft mit einem
entgegensetzten Händlerinteresse zusammentrifft, dürften einseitige wettbewerbswidrige Maßnahmen in praxi jedoch häufiger vom Hersteller als vom Händler getroffen werden.
b) Stellungnahme zur Praxis der Gemeinschaftsorgane
aa) Die Rechtssache Sandoz PF
Die Kommissionsentscheidung sowie das EuGH-Urteil Sandoz PF427 überzeugen
folglich nicht. In diesem Fall lag keine Vereinbarung gemäß Art. 81 I EG vor. Denn
zum einen ergab sich im Fall Sandoz PF die Besonderheit, dass das Ausfuhrverbot
lediglich auf Rechnungen abgedruckt war, die regelmäßig erst nach Lieferung und
nach Aushandlung der Verkaufsbedingungen versandt wurden428. Bezüglich des
jeweiligen Kaufvertrages konnte somit keine Willensübereinstimmung zwischen den
Parteien hinsichtlich des Ausfuhrverbotes mehr hergestellt werden429. Der erste
Kaufvertrag in einer Abfolge von Einzelverträgen im Rahmen der laufenden
Geschäftsverbindung zwischen Sandoz PF und jedem einzelnen Händler war somit
in jedem Fall kartellrechtsneutral.
Aber auch durch die bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen mittels widerspruchsloser Neubestellungen der Abnehmer kommt keine Vereinbarung zustande;
das gemeinschaftliche Rechtsprinzip sowie das Analogieverbot stehen, wie dargelegt, einer derartigen Auslegung entgegen. Kommission und EuGH bejahten
dagegen das Vorliegen einer Vereinbarung, da sie das Schweigen der Abnehmer
zum Ausfuhrverbot und deren bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen als
stillschweigende Zustimmung werteten430, 431. Diese stillschweigende Zustimmung
426 Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zu
bejahen sind, s.u. 3. Kap. C.
427 S.o. 2. Kap. A. II. 2. u. 4.
428 Kommission, Entscheidung vom 13.07.1987, Sandoz PF, Abl. L 222 v. 10.08.1987, 28,
Rn 15; vgl. auch Thompson, CMLR 27 (1990), 589, 604 f.
429 Ähnlich Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar, Bd. II, Grundfragen Art. 81 I Rn 97.
430 S.o. 2. Kap. A. II. 2. u. 4.; Kommission, Entscheidung vom 13.07.1987, Sandoz PF, Abl.
L 222 v. 10.08.1987, 28, Rn 26; EuGH v. 11.01.1990, Sandoz PF, Rs. 277/87, Slg. 1990, I-45
(nicht im Volltext veröffentlicht), Rn 11 (abgedruckt bei: EuG v. 26.10.2000,
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sah der EuGH nicht lediglich hinsichtlich des Ausfuhrverbots, sondern auch hinsichtlich der „Art der den Geschäftsbeziehungen ... zugrunde liegenden
wirtschaftlichen Bindungen“ als gegeben an432. Diese sehr weitgehende Auslegung
des Vereinbarungsmerkmals überzeugt nicht; die Grenzen noch möglicher
Auslegung des Wortlauts wurden dadurch überschritten433. Zudem führt diese
Auslegung dazu, dass es innerhalb einer laufenden Geschäftsverbindung keine
einseitigen Maßnahmen geben kann, da zumindest die Händler, welche die
Geschäftsverbindung nicht abbrechen, diesen stillschweigend zustimmen. Jede
einseitige Maßnahme eines Herstellers gegenüber seinen Wiederverkäufern in einer
laufenden Geschäftsverbindung könnte dann als Vereinbarung qualifiziert
werden434. Denkt man diese Kommissionspraxis folgerichtig zu Ende, so führt sie
hinsichtlich laufender Geschäftsverbindungen zu einer Umdeutung des Art. 81 I EG
in ein umfassendes Verbot wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen einschließlich
Empfehlungen. Hierin aber läge eine Vermengung der Anwendungsbereiche der
Art. 81 und 82 EG435. An dem darin liegenden Verstoß gegen das gemeinschaftliche
Rechtsprinzip sowie in Bußgeldverfahren gegen das Analogieverbot ändert auch der
von Generalanwalt van Gerven im Fall Sandoz PF herbeibemühte effet utile des
Art. 81 I EG436 nichts.
Die Neubestellungen der Händler im Fall Sandoz PF, ohne auf das Ausfuhrverbot
einzugehen, enthielten jeweils die rechtsgeschäftliche Erklärung, einen Kaufvertrag
über Pharmaprodukte abschließen zu wollen. Sie enthielten indes nicht die rechtsgeschäftliche Erklärung, sich wettbewerbswidrig verhalten zu wollen437.
Aus alldem ergibt sich, dass im Sandoz PF-Fall mangels Zustimmung der Händler keine Vereinbarung zustande gekommen war. Das Ausfuhrverbot stellte lediglich
eine einseitige wettbewerbswidrige Maßnahme dar – sofern nicht aufeinander abge-
Bayer/Kommission, Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3383, Rn 161); zustimmend Eilmansberger,
ZWeR 2004, 285, 297; Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 81 Rn 51.
431 Unklar zu dieser Problematik A. Walz, Automobilvertrieb, S. 116: Dieser sieht im Falle einer
nachträglich geänderten Unternehmenspolitik des Herstellers eine Zustimmung der Händler
dann als gegeben an, wenn diese trotz angedrohter Sanktionen die Geschäftsbeziehungen
fortsetzen. Hielten sich die Händler an die neue Unternehmenspolitik, um die Sanktionen zu
vermeiden, läge ein Einverständnis vor (s. ebenda, Fn. 786). Daraus aber folgt, dass das
Einverständnis in diesem Fall in ebendieser Verhaltensanpassung der Händler liegt und nicht,
wie A. Walz meint, in ihrer Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen.
432 EuGH v. 11.01.1990, Sandoz PF, Rs. 277/87, Rn 11.
433 So auch Lübbig, WuW 1991, 561, 571.
434 Sehr kritisch dazu J. Hoffmann, WRP 2004, 994, 995; Völcker, CMLR 41 (2004), 1027,
1032 f.; vgl. auch Bruckner, Abgrenzung, S. 190.
435 Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, Bd. I (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 1
A. Rn 89; Hirsbrunner, EWS 2001, 129, 130; Rosch/Becker, ELR 2001, 165, 167; ähnlich
auch die Argumentation im EuGH-Urteil v. 06.01.2004, BAI und Kommission/Bayer, Rs. C-
2/01 P u. C-3/01 P, Slg. 2004, I-64, Rn 101; Bedenken äußern auch Wertenbruch, EWS 2004,
145, 149; Jacobsen/Broberg, ECLR 2002, 127, 131; Müller-Graff, in: Handkom. EUV/EGV,
Art. 85 Rn 40; Thompson, CMLR 27 (1990), 589, 607.
436 S.o. 2. Kap. A. II. 3.
437 Vgl. zur Auslegung von Rechtsgeschäften allg. Larenz, Methodenlehre, S. 297-300.
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stimmte Verhaltensweisen vorlagen, was noch zu prüfen sein wird438. Der mündliche Rahmenvertrag bzw. die „fortwährende Geschäftsbeziehung“439 sind hingegen
als gemeinschaftskartellrechtlich neutral anzusehen.
bb) Die Rechtssache Bayer Adalat
Des Weiteren ist auch die Argumentation der Kommission in Bayer Adalat440
abzulehnen. Diese zog das Sandoz PF-Urteil als Präzedenzfall heran und vertrat die
Ansicht, die bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen mit Bayer Frankreich
bzw. Bayer Spanien durch die Händler führe zu einer Vereinbarung441. Ebenso
wenig überzeugt die vom Bundesverband der Arzneimittel-Importeure (BAI) im
Rechtsmittelverfahren des Bayer Adalat-Falls unter Berufung auf das EuGH-Urteil
Sandoz PF vertretene Ansicht. Denn eine Vereinbarung kann nicht schon aufgrund
der schlichten Tatsache angenommen werden, dass Wiederverkäufer sich weiterhin
bei einem Hersteller eindecken, der seinen Willen zur Verhinderung von Parallelausfuhren geäußert hat442.
Das EuG wies in seinem Bayer Adalat-Urteil die Kommissionsansicht, die sich
maßgeblich auf das Urteil Sandoz PF als Präzedenzfall stützte, richtigerweise zurück443; dabei hielt es indessen selbst formal am Urteil Sandoz PF fest444. Dies
erscheint widersprüchlich; überzeugender wäre es gewesen die Sandoz PF-Rechtsprechung aufzugeben445. Da jedoch das EuG und auch der EuGH446 ihre im Fall
Sandoz PF ergangenen Grundsätze bestätigten, führten sie ihre Kasuistik fort, ohne
endgültige Klarheit zu schaffen447.
cc) Die Rechtssache Tipp-Ex
Zudem überzeugt die Rechtsauffassung der Kommission im Fall Tipp-Ex448
hinsichtlich der Rechtsverhältnisse zwischen Tipp-Ex einerseits und den
Alleinvertriebshändlern in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien anderer-
438 S. hierzu u. 3. Kap. C. I. 2. u. II. 2.
439 Vgl. dazu Kommission, Entscheidung vom 13.07.1987, Sandoz PF, Abl. L 222 v.
10.08.1987, 28, Rn 25.
440 S.o. 2. Kap. A. IV. 2.
441 Kommission, Entscheidung v. 10.01.1996, Adalat, Abl. L 201 v. 09.08.1996, 1, Rn 155, 171-
188; s. dazu Hirsbrunner, EWS 2001, 129, 129.
442 So aber der BAI, s. GA Tizzano, Schlussanträge v. 22.05.2003, BAI und Kommission/Bayer,
Rs. C-2/01 P u. C-3/01 P, Slg. 2004, I-26, Rn 89.
443 EuG v. 26.10.2000, Bayer/Kommission, Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3383, Rn 173.
444 EuG v. 26.10.2000, Bayer/Kommission, Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3383, Rn 161-163.
445 Im Ergebnis ebenso J. Hoffmann, WRP 2004, 994, 998.
446 Vgl. EuGH v. 06.01.2004, BAI und Kommission/Bayer, Rs. C-2/01 P u. C-3/01 P, Slg. 2004,
I-64, Rn 142.
447 Zutreffend Rehmann, PharmR 2004, 76, 77.
448 S.o. 2. Kap. A. III. 2.
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seits nicht. Auch hier hatte die Kommission nämlich die bloße Fortsetzung der
Geschäftsbeziehungen durch die Händler, nachdem Tipp-Ex an diese wettbewerbswidrige Rundschreiben versandt hatte, als Zustimmung gewertet449.
C. Zustandekommen einer Vereinbarung durch Handelsbrauch?
I. Vorbemerkung
Das vorangegangene Unterkapitel hat gezeigt, dass einseitige Maßnahmen nicht im
Wege einer erweiternden Auslegung des Vereinbarungsmerkmals in dessen Anwendungsbereich einbezogen werden können; dargelegt wurde, dass
rechtsgemeinschaftliche Grundsätze es erfordern, Schweigen und die bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen nicht als Zustimmung zu einer Vereinbarung zu
werten.
Fraglich aber ist, ob nicht zumindest in gewissen, speziellen Fallkonstellationen a
priori einseitige Maßnahmen unter Berufung auf einen Handelsbrauch zu einer Vertikalvereinbarung im Sinne des Art. 81 I EG führen können. Dies wäre dann der
Fall, wenn ein etwaiger Handelsbrauch zum Tragen käme, demzufolge Schweigen
und die Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen durch eine Partei als Zustimmung zu
einer einseitigen wettbewerbswidrigen Maßnahme der Gegenpartei zu werten wäre.
Auf einen derartigen Handelsbrauch berief sich die Kommission in ihrer
Entscheidung Konica450. Diese Kommissionsentscheidung ist daher im Folgenden
als Ausgangspunkt zunächst darzustellen, woraufhin die aus ihr folgenden
Rechtsfragen in einer ersten Stellungnahme aufzuzeigen sind.
II. Ausgangspunkt: Die Kommissionsentscheidung Konica
1. Sachverhalt
Konica UK und Konica Europe, zwei rechtlich selbständige Tochtergesellschaften
des japanischen Konishiroku-Konzerns, die unter anderem Farbfilme der Marke
„Konica“ vertrieben, ergriffen gegenüber ihren Abnehmern mehrere (scheinbar) einseitige Maßnahmen zur Verhinderung von Parallelein- bzw. -ausfuhren. Hintergrund
dessen war die Tatsache, dass im Zeitraum von Oktober 1984 bis Juli 1985 bei Konica-Farbfilmen erhebliche Preisunterschiede zwischen dem Vereinigten Königreich
und Deutschland bestanden. Dies hing damit zusammen, dass Konica Europe in
Deutschland lediglich Fotofachhändler belieferte451. Es kam zu Parallelausfuhren
449 S. Kommission, Entscheidung v. 10.07.1987, Tipp-Ex, Abl. L 222 v. 10.08.1987, 1, Rn 52
a. E.
450 Kommission, Entscheidung v. 18.12.1987, Konica, Abl. L 78 v. 23.03.1988, 34.
451 Es wurde jedoch grundsätzlich jeder Fotofachhändler beliefert, und bis auf
Bonusvereinbarungen existierten keine Vertriebsverträge (vgl. Kommission, Entscheidung v.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.