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erfüllt an, da diese ohne Unterstützung der Gegenseite durchgeführt werden
konnten331. Folgerichtig qualifizierte der EuGH das Handeln Bayers als einseitig und
verneinte das Zustandekommen einer Vereinbarung332.
V. Stellungnahme
Bereits an dieser Stelle der Untersuchung erscheint eine erste Stellungnahme zu den
dargestellten Leitentscheidungen der Gemeinschaftsorgane angebracht. In der
Rechtssache Sandoz PF schloss der EuGH aus dem Schweigen der Abnehmer zum
Ausfuhrverbot, in Verbindung mit ihrer bloßen Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen, auf eine Zustimmung zum wettbewerbswidrigen Ausfuhrverbot. Ob jedoch
Schweigen sowie die bloße Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen tatsächlich als
Zustimmung zu einem Wettbewerbsverstoß gewertet werden kann, wird im weiteren
Verlauf dieser Untersuchung kritisch zu hinterfragen sein333.
In der Rechtssache Tipp-Ex hingegen bedürfen die Rechtsverhältnisse zwischen
den beteiligten Unternehmen einer differenzierten Betrachtung. Tipp-Ex und die
Beiersdorf AG hatten einen „Vertragshändlervertrag“ abgeschlossen, der ausdrücklich Gebietsschutzklauseln vorsah, welche Parallelimporte verhindern sollten. Daher
kann kein Zweifel bestehen, dass zwischen Tipp-Ex und Beiersdorf eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung im Sinne des Art. 81 I EG geschlossen wurde.
Insoweit kann der Kommissionsentscheidung und dem EuGH-Urteil daher gefolgt
werden334.
Fraglich ist jedoch, ob auch im Rechtsverhältnis zwischen Tipp-Ex und DMI, in
der Zeit von 1979 bis Ende 1981, eine Verhaltenskoordinierung vorlag, oder ob die
wettbewerbswidrigen Maßnahmen nicht vielmehr als einseitig zu qualifizieren sind.
In Betracht kommen hier vor allem aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, so
dass hierauf im weiteren Verlauf der Untersuchung zurück zu kommen sein wird335.
Mit den Urteilen in der Rechtssache Bayer Adalat bekundeten EuG und EuGH
die Bereitschaft, das Tatbestandsmerkmal „Vereinbarung“ eng auszulegen und
damit dessen in der vorherigen Praxis der Gemeinschaftsorgane erfolgten
Ausweitung Grenzen zu ziehen. Dies ist im Ergebnis bereits an dieser Stelle der
331 EuGH v. 06.01.2004, BAI und Kommission/Bayer, Rs. C-2/01 P u. C-3/01 P, Slg. 2004, I-64,
Rn 101-103.
332 Auf weitere rechtliche Aspekte des Urteils sowie die Rechtsauffassung des Generalanwalts
Tizzano ist im Verlauf dieses Kapitels, insbesondere in Abschnitt E. einzugehen.
333 S. u. 2. Kap. B. IV. sowie 3. Kap. C.
334 S. Kommission, Entscheidung v. 10.07.1987, Tipp-Ex, Abl. L 222 v. 10.08.1987, 1, Rn 60-
62; EuGH v. 08.02.1990, Rs. 279/89, Tipp-Ex/Kommission, WuW/E EWG/MUV 871, Rn 22-
24.; zustimmend auch Thompson, CMLR 27 (1990), 589, 602; J. Hoffmann, WRP 2004, 994,
995; Lübbig, WuW 1991, 561, 568.
335 S. u. 3. Kap. F. I. et passim.
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Untersuchung zu begrüßen336. Auf die durch die Urteile aufgeworfenen
Rechtsfragen wird im Laufe dieses Kapitels jeweils im Zusammenhang einzugehen
sein.
Hervorhebung bedarf indes die Tatsache, dass die Gemeinschaftsgerichte in ihren
Urteilen zu Bayer Adalat keine Rechtsprechungswende vollzogen, sondern vielmehr
an den vorangegangenen Urteilen festgehalten haben337. Dies gilt insbesondere für
die EuGH-Urteile Sandoz PF und Tipp-Ex sowie für die einschlägigen, zu selektiven
Vertriebssystemen ergangenen Entscheidungen338. Die Gerichte haben die fortdauernde Gültigkeit dieser Urteile bestätigt339 und sich keineswegs von der in diesen
Präjudizien verfolgten Argumentationslinie verabschiedet340. Diese Rechtsprechung
bleibt somit auch im Hinblick auf zukünftige Fälle aktuell.
B. Gemeinschaftliches Rechtsprinzip und Analogieverbot als
Grenzen einer weiten Auslegung des Vereinbarungsmerkmals
I. Vorbemerkung
Die soeben dargestellte Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane soll im Folgenden einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Insbesondere ist die herkömmliche weite Auslegung des Vereinbarungsmerkmals durch die Gemeinschaftsorgane an rechtsgemeinschaftlichen Grundsätzen zu messen. Denn es stellt sich die
Frage, ob das weite Verständnis des Koordinierungstatbestandes Vereinbarung
seitens des EuGH und der Kommission, wie es insbesondere im Fall Sandoz PF zum
Ausdruck kam, mit dem gemeinschaftlichen Rechtsprinzip sowie einem gemeinschaftskartellrechtlichen Analogieverbot vereinbar ist. Falls die weite Auslegung des
Vereinbarungsmerkmals gegen das Rechtsprinzip sowie das Analogieverbot verstieße, so lägen in Fällen wie Sandoz PF einseitige Maßnahmen und keine Vertikalvereinbarungen vor.
336 Ebenfalls zustimmend J. Hoffmann, WRP 2004, 994, 998; Eilmansberger, ZWeR 2004, 285,
290; Völcker, CMLR 41 (2004), 1027, 1032 f.; Klees, BB 2004, 291, 292; Rosenfeld, RIW
2004, 298, 300; Brown, ECLR 2004, 386, 389; Gassner, PharmR 2004, 57, 65; Bunte, in:
Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Gen. Prinz. Rn 25 c; Nolte, in: Langen/Bunte,
Kartellrecht, Bd. 2, Art. 81 Fallgruppen Rn 449-453; grundsätzlich zustimmend auch
Koenigs, DB 2004, 249; dieser hält die Urteile des EuG und des EuGH jedoch für schlecht
begründet.
337 Vgl. EuG v. 26.10.2000, Bayer/Kommission, Rs. T-41/96, Slg. 2000, II-3383, Rn 66, 70-72,
158-171; EuGH v. 06.01.2004, BAI und Kommission/Bayer, Rs. C-2/01 P u. C-3/01 P, Slg.
2004, I-64, Rn 104-109 sowie Rn 142-146.
338 S. insb. EuGH v. 25.10.1983, AEG-Telefunken/Kommission, Rs. 107/82, Slg. 1983, 3151;
EuGH v. 17.09.1985, Ford/Kommission, Rs. 25 u. 26/84, Slg. 1985, 2725; EuGH v.
24.10.1995, BMW/ALD, Rs. C-70/93, Slg. 1995, I-3439; s. hierzu insb. u. 4. Kap. D. II. u. III.
339 Zutreffend Gippini-Fournier, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Bd. 1,
Art. 81 Abs. 1 Rn 92; Hirsbrunner/Schwarz, in: FS Bechtold, 171, 179.
340 So auch Gassner, PharmR 2004, 57, 59.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.