58
V. Die Freiburger Schule des Ordoliberalismus
1. Vorbemerkung
Ebenso wie das Konzept der Wettbewerbsfreiheit knüpft auch die ordoliberalistische
Wettbewerbstheorie an den klassischen Liberalismus (Adam Smith u.a.) an. Hinzu
kommt, dass die wettbewerbstheoretischen Leitbilder des Konzeptes der
Wettbewerbsfreiheit und des Ordoliberalismus einen Entwicklungsprozess widerspiegeln, in welchem es zu Überschneidungen kam. Sie lassen sich daher nicht
scharf voneinander trennen226. Die ordoliberalistische Wettbewerbstheorie ist aus
diesem Grunde zunächst darzustellen und anschließend gemeinsam mit dem
Konzept der Wettbewerbsfreiheit zu würdigen (s.u. 5.).
2. Grundzüge des Konzeptes
Die Freiburger Schule des Ordoliberalismus geht auf Franz Böhm und Walter Eucken zurück227. Sie stellt den Schutz der wirtschaftlichen Freiheit in den Mittelpunkt
ihres wettbewerbstheoretischen Denkens228. Wettbewerbstheoretisches Modell
insbesondere Euckens ist dabei das Modell der vollständigen Konkurrenz. Dieses ist
mit dem überkommenen Modell der vollkommenen Konkurrenz nicht identisch.
Denn wenn vollständige Konkurrenz herrscht, beeinflussen sich die Unternehmer,
durch Anpassung ihres Angebots bzw. ihrer Nachfrage bei Marktveränderungen,
objektiv gegenseitig in ihrem Markterfolg. Im Falle der (nur in der Theorie
existenten) vollkommenen Konkurrenz hingegen beeinflussen sich die Unternehmer
untereinander nicht. Subjektiv wird die gegenseitige Beeinflussung von den
Unternehmern bei vollständiger Konkurrenz jedoch nicht wahrgenommen. Denn
diese gehen davon aus, dass sie, aufgrund der Größe des Marktes und der
Geringfügigkeit jedes einzelnen Angebots bzw. jeder einzelnen Nachfrage, durch ihr
Verhalten den Preis nicht beeinflussen können. Daher betreibt kein Unternehmer
eine Marktstrategie229.
Ein derart charakterisierter Wettbewerb lässt sich, anstelle des Terminus vollständige Konkurrenz, auch als Polypol bzw. polypolistische Konkurrenz bezeichnen230.
226 Eickhof, Vortrag beim FIW in Köln am 12.10.2005.
227 Weitere wichtige Vertreter sind z.B. Leonhard Miksch und aus neuerer Zeit Ernst-Joachim
Mestmäcker.
228 Möschel, in: FS Pfeiffer, 707, 712; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111; Kilian,
Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn 410; Kainer, in: Stumpf/Kainer (Hrsg.),
Gemeinschaftsrecht als Gestaltungsaufgabe, 59, 67.
229 Eucken, Nationalökonomie, S. 96; ders., Wirtschaftspolitik, S. 247; Fikentscher,
Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 188-190; vgl. auch Möschel, in: FS Pfeiffer, 707, 713 Fn. 16.
230 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, v.a. S. 90 Fn. 55, vgl. aber auch S. 26, 339 f.;
Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 190; Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111.
59
Eucken sieht die Herstellung eines Wettbewerbs, in dem vollständige Konkurrenz
herrscht, als wirtschaftspolitisches Grundprinzip an, dem alle übrigen wirtschaftspolitischen Prinzipien unterzuordnen sind231, 232 .
Zum Schutz bzw. zur Herstellung des Wettbewerbs und zur Sicherung wirtschaftlicher Freiheit hat der Staat, den Ordoliberalen zufolge, die Aufgabe, das
institutionelle Rahmenwerk festzulegen und die Bedingungen zu setzen, unter denen
sich die Wirtschaftsordnung entwickelt. Der Staat hat sich dabei auf das unbedingt
notwendige Maß zu beschränken, aber dort, wo es erforderlich ist, dennoch energisch und zielbewusst einzugreifen233. Die vom Staat festgelegten Rahmenbedingungen haben zum einen zu gewährleisten, dass die Betätigung wirtschaftlicher Freiheit
nicht, wie im Manchester-Liberalismus, zu Kartellen und damit zu Monopolbildungen führt. Denn anderenfalls würde sich die Wettbewerbsfreiheit, indem von ihr
Gebrauch gemacht wird, letztlich selbst aufheben. Zum anderen muss die Freiheit
aber auch vor staatlicher Beschränkung bewahrt werden (wobei staatliche Freiheitsbeschränkungen zu sozialen Zwecken jedoch zulässig sein können)234. Die staatlich
gesetzten Rahmenbedingungen, zu denen als ein wesentlicher Bestandteil das Recht
gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu zählen ist, tragen auf diese Weise – durch
Schutz der Wettbewerbsfreiheit – zur Sicherung der individuellen Freiheit jedes
Bürgers bei235.
Ein Versuch, das wettbewerbstheoretische Konzept der Freiburger Schule in das
Spektrum der Wettbewerbstheorien einzuordnen, führt zu dem Ergebnis, dass der
Ordoliberalismus zwischen Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs und
Konzept der Wettbewerbsfreiheit/Neuklassik anzusiedeln ist. Denn einerseits
erinnert die Erhebung des Polypols (bzw. des Modells der vollständigen
Konkurrenz) zum wettbewerbspolitischen Leitbild hinsichtlich der
Argumentationsweise an das Marktstruktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma, das
dem Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs einschließlich Kantzenbachs
zugrunde liegt. Andererseits aber betont der Ordoliberalismus das Ziel des Schutzes
der Wettbewerbsfreiheit, was ihn in die Nähe der Neuklassik rücken lässt236.
Dem Freiheitsziel kommt im Ordoliberalismus jedoch eine zentrale Rolle zu. Insgesamt gesehen besteht deshalb nach hier vertretener Ansicht eine deutlich engere
Verwandtschaft des Ordoliberalismus zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit als zum
Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs.
231 Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 255; ders., ORDO Bd. 2, 1, 33; Poeche, in: FIW (Hrsg.),
Workable Competition, S. 25.
232 Die Vertreter der Freiburger Schule stellen ihre wettbewerbspolitischen Thesen freilich nicht
isoliert auf, sondern betten diese in den Gesamtrahmen ihrer wirtschaftspolitischen
Vorstellungen ein (vgl. Möschel, in: FS Pfeiffer, 707, 723).
233 Eucken, ORDO Bd. 2, 1, 93; Miksch, Wettbewerb als Aufgabe, S. 6.
234 Poeche, in: FIW (Hrsg.), Workable Competition, S. 25; Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II,
S. 42 f.
235 Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 250; ders., ORDO Bd. 2, 1, 27; vgl. auch Mestmäcker, in: FS
Böhm, 345, 391; Kaminski, Handelsblatt vom 18.06.2004, S. k07.
236 Vgl. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 111.
60
3. Der Einfluss des Ordoliberalismus auf das Gemeinschaftskartellrecht und das
GWB
Die ordoliberalistische Wettbewerbstheorie stellt zwar nicht das alleinige Leitbild
des Gemeinschaftskartellrechts dar; sie übte indes erheblichen Einfluss auf das
Gemeinschaftskartellrecht aus237. Denn bei dessen Konzipierung war die deutsche
Verhandlungsdelegation zu den Römischen Verträgen mit den Ordoliberalen Ludwig
Erhard und Alfred Müller-Armack federführend. Die anderen EWG-Gründungsmitglieder hatten keine derart ausgereiften kartellrechtlichen Vorstellungen238.
Zudem wurde die Theorie der Freiburger Schule nach 1945 auch in Westdeutschland teilweise in die Praxis umgesetzt. Denn der Ordoliberalismus bzw. das Modell
der vollständigen Konkurrenz darf als wettbewerbstheoretisches Leitbild des Regierungsentwurfs des GWB239 gelten240. Auf den Begriff der vollständigen Konkurrenz
bzw. des vollständigen Wettbewerbs wird in der Begründung des Regierungsentwurfs des GWB von 1952 mehrmals ausdrücklich Bezug genommen241. Im Laufe
des sich lange hinziehenden Gesetzgebungsverfahrens verringerte sich jedoch der
ordoliberale Einfluss bis zur Verabschiedung des GWB242. Insbesondere wurden
Vertriebsbindungen und andere vertikal bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen in
der schließlich Gesetz gewordenen Fassung des GWB grundsätzlich lediglich einer
Missbrauchsaufsicht unterworfen243. Aus der Entstehungsgeschichte des GWB lässt
sich daher letztlich nicht entnehmen, dass diesem ein umfassendes wirtschaftspolitisches Leitbild, auch nicht dasjenige des Ordoliberalismus, zugrunde läge244.
4. Die Bewertung vertikalen Unternehmensverhaltens
Am Beispiel des Böhm-Entwurfs eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen245 lässt sich gut ersehen, wie im Ordoliberalismus vertikal bewirkte
Wettbewerbsbeschränkungen bewertet werden. Im Böhm-Entwurf war in § 1 Absatz
237 Ähnlich Müller-Graff, in: FS Konzen, 583, 601.
238 Vgl. Rousseva, CMLR 42 (2005), 587, 590 f.; Eickhof, Vortrag beim FIW in Köln am
12.10.2005; Oppermann, Europarecht, § 15 Rn 6 f.
239 Regierungsentwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drucks. 1/3462.
240 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, S. 7 Fn. 11, 42; Poeche, in: FIW (Hrsg.), Workable
Competition, S. 24; Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 44.
241 Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen,
BT-Drucks. 1/3462, Anl. 1, insb. bei Teil A V.; auch abgedruckt in: WuW 1952, 460 ff.
242 Kirchhoff, Vertikale Vertriebsverträge, S. 128; vgl. auch Böge, WuW 2004, 726, 727.
243 – § 18 GWB, im Zeitraum zwischen 6. und 7. GWB-Novelle § 16 GWB; vgl. Kirchhoff,
Vertikale Vertriebsverträge, S. 129.
244 Sandrock, Grundbegriffe des GWB, S. 43.
245 BT-Drucks. 2/1269; auch abgedruckt in: WuW 1955, 319 ff. – Dieser Gesetzentwurf wurde
1955 im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens des GWB vom Ordoliberalen Franz Böhm,
damals Bundestagsabgeordneter, und einigen weiteren Abgeordneten in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Er konnte sich jedoch im Parlament nicht durchsetzen.
61
1 und 2 ein ausdrückliches Verbot nicht lediglich horizontaler, sondern auch vertikaler wettbewerbsbeschränkender Verträge vorgesehen. Diese Verbotsnorm erfasste
somit z.B. sämtliche Alleinvertriebsverträge, vertikalen Preisbindungen von
Markenartikeln oder langfristigen Lieferverträge246. Franz Böhm setzte damit seine
Absicht um, mit dem Verbotsprinzip „ernst zu machen“ und „ein Verbotsgesetz so
zu formulieren, dass es keine Türen mehr hat“247. § 5 enthielt die Befugnis der
Kartellbehörde, unter strengen, komplizierten Voraussetzungen Kartellverträge vom
Verbot freizustellen. Insbesondere bezüglich vertikaler Preisbindungen kam eine
derartige Freistellung in Betracht (vgl. § 10 I Nr. 7 des Böhm-Entwurfs)248.
Der Böhm-Entwurf zeigt somit exemplarisch, dass der Ordoliberalismus für ein
per-se-Verbot aller wettbewerbsbeschränkenden Marktverhaltensweisen eintritt. Nur
in Ausnahmefällen sollen Erlaubnismöglichkeiten für Wettbewerbsbeschränkungen
bestehen249. Im Gegensatz zum Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs wird
nicht die Tolerierung oder gar bewusste Förderung von Marktunvollkommenheiten
bezweckt, sondern deren weitest gehende Beseitigung250.
Daher werden auch vertikal bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen negativ
bewertet. So schreibt Eucken, zur Herstellung bzw. Sicherung der vollständigen
Konkurrenz sei die Öffnung der Märkte erforderlich. Der Staat müsse daher jedes
Mittel, mit dem Private Märkte schließen würden, verbieten. Dazu zählen etwa auch
vertikale Exklusivverträge251. Auch die vertikale Preisbindung der zweiten Hand
wird von Eucken kritisiert252.
Vertikalvereinbarungen sind jedoch nicht lediglich dann wettbewerbspolitisch unerwünscht, wenn sie die Öffnung der Märkte behindern. Sie können außerdem zu
größerer wirtschaftlicher Konzentration führen. So stellen etwa langfristige Lieferund Einkaufsverträge ein Mittel dar, das zu mehr Konzentration führt, weshalb auch
diese kritisch zu bewerten sind253.
5. Stellungnahme
Das Postulat staatlich festgelegter Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln
seitens der Vertreter des Ordoliberalismus zeigt, dass diesen bewusst ist, was etwa
von der Chicago-Schule verkannt wird: Wirtschaftlicher Liberalismus hebt sich
selbst auf, wenn die Freiheit nicht durch einen staatlichen Ordnungsrahmen
246 Isay, WuW 1955, 339, 340; vgl. auch Mestmäcker, WuW 1955, 285, 285.
247 Böhm in der 76. Sitzung des 2. dt. Bundestages vom 24.03.1955 (zitiert nach: Isay, WuW
1955, 339, 339).
248 Vgl. zum Böhm-Entwurf auch Kirchhoff, Vertikale Vertriebsverträge, S. 128.
249 Vgl. Poeche, in: FIW (Hrsg.), Workable Competition, S. 24; Herdzina, Wettbewerbspolitik,
S. 107, 109.
250 Poeche, in: FIW (Hrsg.), Workable Competition, S. 23.
251 Vgl. Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 265-267.
252 Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 265; vgl. auch Kirchhoff, Vertikale Vertriebsverträge, S. 127.
253 Vgl. Lenel, Ursachen der Konzentration (1. Aufl.), S. 3.
62
gesichert wird. Denn eine unbegrenzt gewährte Freiheit impliziert auch die Freiheit
zur Beschränkung eben dieser Freiheit (so genanntes Freiheitsparadoxon)254. Dass
sich ungebremster Wirtschaftsliberalismus selbst aufhebt, zeigt die historische
Erfahrung des Manchester-Liberalismus; in dessen Epoche führte der unbeschränkte
Gebrauch wirtschaftlicher Freiheiten zu Kartellbildung und übermäßiger
Unternehmenskonzentration255. Indem die Vertreter der Chicago-Schule eine laissez
faire-Haltung gegenüber Wettbewerbsbeschränkungen einnehmen und damit in
letzter Konsequenz das Kartellrecht ablehnen, begeben sie sich einer der wichtigsten
Voraussetzungen für langfristig erfolgreiche Wirtschaftspolitik256.
Gegen das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs wiederum sprechen die
bereits vorgetragenen Einwände257. Vorzugswürdig gegenüber der Chicago-Schule
und dem Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs sind daher freiheitsorientierte
Ansätze, wie sie die Österreichische und die Freiburger Schule verfolgen. Sie legen
ihr Hauptaugenmerk nicht auf vermeintlich durch Wettbewerb zu erreichende Ziele,
sondern auf die Voraussetzungen des freien Wettbewerbs, die es zu sichern gilt.
Durch den derart gesicherten Wettbewerb werden dann jedenfalls gute ökonomische
Ergebnisse (bzw. individuelle ökonomische Vorteilhaftigkeit) erreicht.
Kritik wie beispielsweise, der Ordoliberalismus messe dem Schutz des Preiswettbewerbs im Vergleich zu anderen Wettbewerbsaspekten eine unberechtigt hohe
Bedeutung bei258 oder das Konzept der Wettbewerbsfreiheit sei zu einseitig
verhaltensorientiert259, lässt sich durch eine Erweiterung der Wettbewerbspolitik
entkräften260. Denn es ist möglich, von einem freiheitsorientierten Wettbewerbskonzept auszugehen und dieses dann um Elemente wie etwa den Schutz des
Konditionenwettbewerbs oder Fusionskontrollregelungen zu ergänzen. Diese gegen
die freiheitsorientierten Ansätze vorgetragene Kritik greift daher im Ergebnis nicht
durch.
Im Folgenden wird somit ein die Wettbewerbsfreiheit betonendes Wettbewerbsmodell zugrunde gelegt werden. Eine Entscheidung für den Ordoliberalismus und
gegen das Konzept der Wettbewerbsfreiheit oder umgekehrt ist für die Zwecke
dieser Untersuchung nicht erforderlich; die ohnehin bestehende enge
Verwandtschaft sowie die unscharfe Trennlinie zwischen beiden Konzeptionen
wurden bereits dargelegt261. Dem Konzept der Wettbewerbsfreiheit zufolge sind
Vertikalvereinbarungen dann schädlich, wenn sie unangemessene künstliche
Wettbewerbsbeschränkungen enthalten. Beispiele, wann dies der Fall ist, wurden
254 S. dazu allg. Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 350.
255 Vgl. nur Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 42 f.
256 Vgl. Jofer, Vertikalvereinbarungen als Regelungsproblematik, S. 62; Möschel, in: FS Pfeiffer,
707, 714 f.; Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, S. 44 Fn. 66.
257 S.o. 1. Kap. B. III. 3.
258 Poeche, in: FIW (Hrsg.), Workable Competition, S. 27 f.
259 Bartling, Leitbilder der Wettbewerbspolitik, S. 57.
260 Vgl. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 114.
261 S.o. 1. Kap. B. V. 1.
63
bereits genannt262. In diesen Fällen tritt das Konzept der Wettbewerbsfreiheit für
per-se-Verbote ein. Der Ordoliberalismus wiederum postuliert ein per-se-Verbot
aller wettbewerbsbeschränkenden Marktverhaltensweisen. Auch vertikal bewirkte
Wettbewerbsbeschränkungen werden folglich negativ bewertet. Beiden
Wettbewerbskonzeptionen gemeinsam ist damit eine kritische Sichtweise vertikal
bewirkter Wettbewerbsbeschränkungen. Eine derartige kritische Sichtweise wird im
weiteren Fortgang dieser Untersuchung zugrunde gelegt werden.
Dies bedeutet, dass die Koordinierungstatbestände der Vereinbarung und der
aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen gemäß Art. 81 I EG, im Rahmen ihrer
teleologischen Auslegung und unter Beachtung des Wortlauts als Auslegungsgrenze,
grundsätzlich weit auszulegen sind. Denn so lässt sich wettbewerbswidriges Handeln
im Vertikalverhältnis soweit wie möglich mit Art. 81 I EG erfassen263.
Speziell dem Ordoliberalismus kann zudem Bedeutung im Rahmen der historischen Auslegung des Art. 81 I EG sowie der Normen des GWB zukommen. Denn,
wie dargelegt, stellt der Ordoliberalismus zwar nicht das alleinige wettbewerbstheoretische Leitbild des Art. 81 I EG bzw. des GWB dar; er übte gleichwohl
beträchtlichen Einfluss beim Zustandekommen dieser Normen aus.
VI. Die Wettbewerbskonzeption des EuGH und der Europäischen Kommission
1. Ein einheitliches wettbewerbstheoretisches Leitbild?
Nachdem nun die wichtigsten wettbewerbstheoretischen Leitbilder dargestellt und
bewertet wurden, gilt es, das Augenmerk auf die Rechtsprechung des EuGH sowie
die Verwaltungspraxis der Kommission zu lenken. Denn es stellt sich die Frage, ob
dieser Rechtsprechung bzw. Verwaltungspraxis eines dieser Leitbilder zugrunde
liegt. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird die Entscheidungspraxis der
europäischen Gerichte sowie der Kommission hinsichtlich einseitiger Maßnahmen
im Vertikalverhältnis aufzuarbeiten sein. Für das Verständnis dieser Entscheidungspraxis aber ist von Bedeutung, ob die Gemeinschaftsorgane von einem einheitlichen
wettbewerbstheoretischen Leitbild ausgehen. Diese Frage soll daher beantwortet
werden.
Art. 3 I lit. g EG erhebt den unverfälschten Wettbewerb zum Leitbild des EG-
Vertrages. Der Begriff des unverfälschten Wettbewerbs bedarf jedoch
wettbewerbstheoretischer Ausdeutung.
262 S.o. 1. Kap. B. IV. 2.
263 S. zur Berücksichtigung der wettbewerbstheoretischen Bewertung vertikalen
Unternehmensverhaltens im Rahmen der teleologischen Auslegung bereits o. 1. Kap. B. I.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen fällt scheinbar einseitiges Handeln eines Unternehmens, das den Wettbewerb beschränkt (z. B. Maßnahmen eines Herstellers gegen Parallelimporte), noch unter das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag? Die Antwort auf diese Frage klärt die Weite des Anwendungsbereichs des Kartellverbots und betrifft damit die Grundlagen des Kartellrechts.
Hierzu entwickelt der Autor rechtliche Kriterien für die praxisrelevante und oft schwierige Abgrenzung zwischen einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis einerseits und den Handlungsformen des Kartellverbots (Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) andererseits. Zu dieser Thematik ist eine Reihe von Entscheidungen der Europäischen Kommission und des EuGH ergangen, die vom Autor aufgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.
Die Arbeit macht zudem deutlich, unter welchen Voraussetzungen insbesondere in laufenden Geschäftsverbindungen zwischen Unternehmen wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zustande kommen, die gegen das Kartellverbot verstoßen. Dabei finden die rechtlichen Besonderheiten selektiver Vertriebssysteme besondere Berücksichtigung.